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Deutschland im November 1938. Otto Silbermanns Verwandte und Freunde sind verhaftet oder verschwunden. Er selbst versucht, unsichtbar zu bleiben, nimmt Zug um Zug, reist quer durchs Land. Inmitten des Ausnahmezustands. Er beobachtet die Gleichgültigkeit der Masse, das Mitleid einiger Weniger. Und auch die eigene Angst.»Ein wirklich bewegender, aber auch instruktiver Text. Ein großer Gewinn! Für einen Dreiundzwanzigjährigen ein ganz erstaunliches Werk.«Brigitte KronauerDer jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus ...
Deutschland im November 1938. Otto Silbermanns Verwandte und Freunde sind verhaftet oder verschwunden. Er selbst versucht, unsichtbar zu bleiben, nimmt Zug um Zug, reist quer durchs Land. Inmitten des Ausnahmezustands. Er beobachtet die Gleichgültigkeit der Masse, das Mitleid einiger Weniger. Und auch die eigene Angst.
»Ein wirklich bewegender, aber auch instruktiver Text. Ein großer Gewinn! Für einen Dreiundzwanzigjährigen ein ganz erstaunliches Werk.«
Brigitte Kronauer
Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Noch nie hat man die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit auf so unmittelbare Weise nachempfinden können. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage.
»Ein wirklich bewegender, aber auch instruktiver Text. Ein großer Gewinn! Für einen Dreiundzwanzigjährigen ein ganz erstaunliches Werk.«
Brigitte Kronauer
Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Noch nie hat man die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit auf so unmittelbare Weise nachempfinden können. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage.
Ulrich Alexander Boschwitz, geboren am 19. April 1915 in Berlin, emigrierte 1935 gemeinsam mit seiner Mutter zunächst nach Skandinavien, wo sein erster Roman erschien. Der Erfolg ermöglichte ihm ein Studium an der Pariser Sorbonne. Während längerer Aufenthalte in Belgien und Luxemburg entstand »Der Reisende«, der 1939 in England und wenig später in den USA und in Frankreich veröffentlicht wurde. Kurz vor Kriegsbeginn wurde Boschwitz in England trotz seines jüdischen Hintergrunds als »enemy alien« interniert und nach Australien gebracht, wo er bis 1942 in einem Camp lebte. Auf der Rückreise wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren, sein letztes Manuskript sank wohl mit ihm.
Produktdetails
- Verlag: Klett-Cotta
- 8. Aufl.
- Seitenzahl: 303
- Erscheinungstermin: 6. Februar 2018
- Deutsch
- Abmessung: 194mm x 122mm x 22mm
- Gewicht: 337g
- ISBN-13: 9783608981230
- ISBN-10: 3608981233
- Artikelnr.: 49578555
Herstellerkennzeichnung
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Die Höllenfahrt des Otto Silbermann
Verspätete Entdeckung der Emigrationsliteratur von einem Autor mit eisernem Willen: Ulrich Alexander Boschwitz publizierte "Der Reisende" erstmals 1939. Jetzt ist der Roman endlich auf Deutsch zu lesen.
Am 29. Oktober 1942 ertrank Ulrich Alexander Boschwitz in einer mondhellen Nacht im Atlantik nordwestlich der Azoren. Das britische Schiff "Abosso", auf dem er zusammen mit 391 weiteren Passagieren und Besatzungsmitgliedern reiste, war von dem deutschen U-Boot U 575 torpediert worden. Nur dreißig Menschen überlebten die Versenkung, darunter nur einer der 44 Internierten, die sich wie Boschwitz auf dem Rücktransport aus einem australischen Lager für "enemy aliens" nach England
Verspätete Entdeckung der Emigrationsliteratur von einem Autor mit eisernem Willen: Ulrich Alexander Boschwitz publizierte "Der Reisende" erstmals 1939. Jetzt ist der Roman endlich auf Deutsch zu lesen.
Am 29. Oktober 1942 ertrank Ulrich Alexander Boschwitz in einer mondhellen Nacht im Atlantik nordwestlich der Azoren. Das britische Schiff "Abosso", auf dem er zusammen mit 391 weiteren Passagieren und Besatzungsmitgliedern reiste, war von dem deutschen U-Boot U 575 torpediert worden. Nur dreißig Menschen überlebten die Versenkung, darunter nur einer der 44 Internierten, die sich wie Boschwitz auf dem Rücktransport aus einem australischen Lager für "enemy aliens" nach England
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befanden, wo sie als Freiwillige in den Kriegsdienst für ihr Gastland eintreten wollten.
Boschwitz war 27 Jahre alt. Als er starb, trug er das Manuskript eines Romans bei sich, den er im Internierungslager bei Melbourne geschrieben hatte. Es war sein dritter; der erste, "Menschen neben dem Leben", war 1937 in Schweden, der zweite, "Der Reisende", 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten erschienen. In seinem letzten Brief an seine Mutter auf der Isle of Man, der auf der Website des Leo Baeck Instituts nachzulesen ist, kündigt Boschwitz eine korrigierte Neufassung des "Reisenden" an, die ein Bekannter für ihn nach England bringen will. Er glaube, schreibt er, dass etwas an dem Buch sei, das es "zu einem Erfolg machen" könne, besonders nach dem Krieg. Die Korrekturfassung hat die Mutter nie erreicht.
Das ist, in Kurzform, die Vorgeschichte des Romans "Der Reisende", der jetzt, 76 Jahre nach dem Tod seines Verfassers, zum ersten Mal in der Sprache erscheint, in der er geschrieben wurde. Es ist eine Geschichte von Emigration und Deportation, von Neubeginn und gescheiterten Hoffnungen, eine von vielen Tragödien des Exils. Und es ist die Geschichte eines Talents im Werden. Der Nachlass von Boschwitz im Leo Baeck Institut enthält zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte, darunter Erzählungen, Verse, ein Kinderbuch, ein Dramolett über Paul von Hindenburg und Entwürfe für Zeitungsartikel. Sie sind, wie etwa die Spottgedichte über das "Dritte Reich" - "Lumpen haben keinen Dunst, / pfui, pfui, pfui / von echter, wahrer deutscher Kunst! / Heil, Heil, Heil!" -, von durchaus unterschiedlicher Qualität, aber aus jedem spricht die eiserne Entschlossenheit des Autors Boschwitz, ein Leben als Schriftsteller zu beginnen. Und sein Zorn, seine Empörung darüber, dass es ihm versagt bleibt, dieses Leben in Deutschland zu führen.
Denn Boschwitz war Jude, Halbjude in der Terminologie der Nazis. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, war kurz vor seiner Geburt 1915 gestorben, seine Mutter, die nach der Verkündung der Nürnberger Rassengesetze mit Ulrich Alexander und seiner Schwester nach Schweden und später nach England ging, entstammte einer Lübecker Senatorenfamilie. Dass Boschwitz den Vater vermisst, dass seine literarische Phantasie den Toten umkreist hat, ist aus den erhaltenen privaten Aufzeichnungen und den Fotos, die eine Kindheit im Matrosenanzug und einen blonden Jüngling mit Krawatte und weichen, offenen Gesichtszügen zeigen, nicht zu ersehen. Es gibt nur ein Indiz dafür, aber das ist schlagend - ebender Roman, der jetzt vorliegt.
"Der Reisende" spielt im November 1938, am Tag nach der "Reichspogromnacht" und in den Wochen danach. Otto Silbermann, die Hauptfigur, ist ein jüdischer Geschäftsmann, der sich bis zu diesem Zeitpunkt in Hitlers Reich zwar unwohl, aber sicher gefühlt hat. Jetzt öffnen ihm die staatlich geplanten Gewaltexzesse die Augen über seine wahre Lage: "Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich." Er verliert seine Hoffnungen: Der Teilhaber, von dessen Nazi-Kontakten er sich Schutz und Profit erhofft hat, drängt ihn aus seiner eigenen Firma, ein Fluchtversuch nach Belgien scheitert kläglich, und der Schwager, bei dem Silbermanns Frau untergeschlüpft ist, will nichts mehr von ihm wissen. "Ich lebe mit Verlust", erkennt der Reisende. Durch eine schöne Frau, der er auf einer seiner Fahrten begegnet, dringt noch einmal ein Lichtstrahl in sein Dasein. Doch zum Rendezvous im Café erscheint sie nicht, und beim nächsten ziellosen Ausflug wird Silbermanns Aktentasche mit dem Erlös seiner Firmenanteile gestohlen. Wie ein Ausbrecher versteckt er sich in seiner eigenen Wohnung. Am nächsten Tag, auf dem Polizeirevier, auf dem er den Diebstahl des Geldes anzeigen will, wird er verhaftet.
Manches spricht dafür, dass Boschwitz seinen Helden nach dem Vorbild seines Vaters modelliert hat, etwa die Tatsache, das Silbermanns Sohn in Paris weilt, wo auch Boschwitz im Jahr 1938 einige Monate an der Sorbonne studierte. Doch der Großbürger mit dem "J" im Reisepass, der als rechtloser Nomade durch sein Heimatland irrt, ist mehr als ein individuelles Porträt: Er ist ein Phänotyp, wie ihn Boschwitz bei seinen Aufenthalten in Frankreich, Belgien und Luxemburg vielfach getroffen haben muss. Auch die Menschen, denen Silbermann auf Bahnsteigen und in Zugabteilen begegnet, sind Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil "jüdisch" aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin und andere mehr.
In einem breiter angelegten Roman würde man von einem Zeitpanorama sprechen. Aber diesen Roman gibt es nicht - nicht über das Jahr 1938, nicht über die Reichspogromnacht (auch wenn Viktor Klemperers Tagebücher dazu reiches Anschauungsmaterial bieten) und nicht über den Überlebenskampf der jüdisch-deutschen Mittelschicht. Es gibt Irmgard Keuns "Nach Mitternacht", der die Stimmung im Deutschen Reich des Jahres 1936 festhält, und dann die großen Werke des literarischen Exils, vom "Siebten Kreuz" bis zum "Doktor Faustus". Dazwischen klafft eine Lücke. "Der Reisende" schließt sie. Sein Autor holt das dokumentierte, massenhafte Leid in den Freiraum der Fiktion, er verbindet das historische Polaroid mit der langen Belichtungszeit des Romanciers.
Es gibt Passagen in diesem Buch, bei denen man an Filme von Hitchcock denken muss, an den "Fremden im Zug" oder an James Stewart auf der Flucht vor seinen Verfolgern in "Der unsichtbare Dritte". Dann wieder steht man unvermittelt vor den Trümmern des deutschen Geisteslebens. "Europäische Mission. Solche Fremdwörter sind auszumerzen." Das sagt ein völkischer Schriftsteller im Schnellzug nach Aachen zu seinem Assistenten. Auch das Wort "Kultur" will der Mann durch ein braunes Synonym ersetzen. Angeekelt verlässt Silbermann das Abteil, bevor sein Gegenüber sich zwischen "Volksförderung" und "Gemeinschaftsgeist" entschieden hat.
Auf den ersten Etappen seiner Irrfahrt ist der Geschäftsmann aus Berlin ein sympathischer, aber unauffälliger Charakter. Tragische Größe bekommt er, als er mit seiner Identität zu hadern beginnt. "Es sind zu viele Juden im Zug, dachte Silbermann." Ohne seine Leidensgenossen, überlegt er, würde er in Frieden gelassen. "Weil ihr aber seid, falle ich in eure Unglücksgemeinschaft! Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet." Es ist Silbermanns moralischer Höllensturz. Von da an rast er wie ein Meteorit auf seinen Untergang zu. Man könnte darin eine Rache des Autors an seiner Figur sehen, wenn Silbermanns Verhalten nicht so herzzerreißend alltäglich und nachvollziehbar wäre, so traurig und so wahr.
Ulrich Alexander Boschwitz konnte 1938 noch nicht wissen, was im Lauf des Krieges, der ein Jahr später ausbrach, mit den europäischen Juden unter Hitlers Herrschaft geschehen würde. Aber er sah die Zeichen der Zeit und las darin den kommenden Genozid. "Heutzutage mordet man wirtschaftlich", sagt Silbermann einmal. Angstvoll malt er sich aus, wie die jüdischen Opfer erst sorgsam entkleidet werden, bevor man sie totschlägt, damit kein Blut auf ihre Banknoten tropft. Man muss an die Kleiderberge von Auschwitz denken, wenn man das liest, auch wenn Boschwitz nie von den Todesfabriken erfahren hat.
"Wie im Fieberrausch" habe Boschwitz seinen Roman in nur vier Wochen vollendet, schreibt Peter Graf, der den "Reisenden" wiederentdeckt und herausgegeben hat, im Nachwort. Graf hat auch die Nachkriegsgeschichte des Manuskripts recherchiert. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman seinem Hausverlag Middelhauve, doch "Der Reisende" blieb liegen. Jetzt erreicht er den deutschen Buchmarkt wie ein Paket, das von der Post achtzig Jahre lang vergessen wurde. Man öffnet die Verpackung; aus dem Inneren strömt ungefiltert die bittere Wahrheit der Geschichte.
ANDREAS KILB
Ulrich Alexander Boschwitz: "Der Reisende". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 303 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Boschwitz war 27 Jahre alt. Als er starb, trug er das Manuskript eines Romans bei sich, den er im Internierungslager bei Melbourne geschrieben hatte. Es war sein dritter; der erste, "Menschen neben dem Leben", war 1937 in Schweden, der zweite, "Der Reisende", 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten erschienen. In seinem letzten Brief an seine Mutter auf der Isle of Man, der auf der Website des Leo Baeck Instituts nachzulesen ist, kündigt Boschwitz eine korrigierte Neufassung des "Reisenden" an, die ein Bekannter für ihn nach England bringen will. Er glaube, schreibt er, dass etwas an dem Buch sei, das es "zu einem Erfolg machen" könne, besonders nach dem Krieg. Die Korrekturfassung hat die Mutter nie erreicht.
Das ist, in Kurzform, die Vorgeschichte des Romans "Der Reisende", der jetzt, 76 Jahre nach dem Tod seines Verfassers, zum ersten Mal in der Sprache erscheint, in der er geschrieben wurde. Es ist eine Geschichte von Emigration und Deportation, von Neubeginn und gescheiterten Hoffnungen, eine von vielen Tragödien des Exils. Und es ist die Geschichte eines Talents im Werden. Der Nachlass von Boschwitz im Leo Baeck Institut enthält zahlreiche unveröffentlichte Manuskripte, darunter Erzählungen, Verse, ein Kinderbuch, ein Dramolett über Paul von Hindenburg und Entwürfe für Zeitungsartikel. Sie sind, wie etwa die Spottgedichte über das "Dritte Reich" - "Lumpen haben keinen Dunst, / pfui, pfui, pfui / von echter, wahrer deutscher Kunst! / Heil, Heil, Heil!" -, von durchaus unterschiedlicher Qualität, aber aus jedem spricht die eiserne Entschlossenheit des Autors Boschwitz, ein Leben als Schriftsteller zu beginnen. Und sein Zorn, seine Empörung darüber, dass es ihm versagt bleibt, dieses Leben in Deutschland zu führen.
Denn Boschwitz war Jude, Halbjude in der Terminologie der Nazis. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, war kurz vor seiner Geburt 1915 gestorben, seine Mutter, die nach der Verkündung der Nürnberger Rassengesetze mit Ulrich Alexander und seiner Schwester nach Schweden und später nach England ging, entstammte einer Lübecker Senatorenfamilie. Dass Boschwitz den Vater vermisst, dass seine literarische Phantasie den Toten umkreist hat, ist aus den erhaltenen privaten Aufzeichnungen und den Fotos, die eine Kindheit im Matrosenanzug und einen blonden Jüngling mit Krawatte und weichen, offenen Gesichtszügen zeigen, nicht zu ersehen. Es gibt nur ein Indiz dafür, aber das ist schlagend - ebender Roman, der jetzt vorliegt.
"Der Reisende" spielt im November 1938, am Tag nach der "Reichspogromnacht" und in den Wochen danach. Otto Silbermann, die Hauptfigur, ist ein jüdischer Geschäftsmann, der sich bis zu diesem Zeitpunkt in Hitlers Reich zwar unwohl, aber sicher gefühlt hat. Jetzt öffnen ihm die staatlich geplanten Gewaltexzesse die Augen über seine wahre Lage: "Mir ist der Krieg erklärt worden, mir persönlich." Er verliert seine Hoffnungen: Der Teilhaber, von dessen Nazi-Kontakten er sich Schutz und Profit erhofft hat, drängt ihn aus seiner eigenen Firma, ein Fluchtversuch nach Belgien scheitert kläglich, und der Schwager, bei dem Silbermanns Frau untergeschlüpft ist, will nichts mehr von ihm wissen. "Ich lebe mit Verlust", erkennt der Reisende. Durch eine schöne Frau, der er auf einer seiner Fahrten begegnet, dringt noch einmal ein Lichtstrahl in sein Dasein. Doch zum Rendezvous im Café erscheint sie nicht, und beim nächsten ziellosen Ausflug wird Silbermanns Aktentasche mit dem Erlös seiner Firmenanteile gestohlen. Wie ein Ausbrecher versteckt er sich in seiner eigenen Wohnung. Am nächsten Tag, auf dem Polizeirevier, auf dem er den Diebstahl des Geldes anzeigen will, wird er verhaftet.
Manches spricht dafür, dass Boschwitz seinen Helden nach dem Vorbild seines Vaters modelliert hat, etwa die Tatsache, das Silbermanns Sohn in Paris weilt, wo auch Boschwitz im Jahr 1938 einige Monate an der Sorbonne studierte. Doch der Großbürger mit dem "J" im Reisepass, der als rechtloser Nomade durch sein Heimatland irrt, ist mehr als ein individuelles Porträt: Er ist ein Phänotyp, wie ihn Boschwitz bei seinen Aufenthalten in Frankreich, Belgien und Luxemburg vielfach getroffen haben muss. Auch die Menschen, denen Silbermann auf Bahnsteigen und in Zugabteilen begegnet, sind Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil "jüdisch" aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin und andere mehr.
In einem breiter angelegten Roman würde man von einem Zeitpanorama sprechen. Aber diesen Roman gibt es nicht - nicht über das Jahr 1938, nicht über die Reichspogromnacht (auch wenn Viktor Klemperers Tagebücher dazu reiches Anschauungsmaterial bieten) und nicht über den Überlebenskampf der jüdisch-deutschen Mittelschicht. Es gibt Irmgard Keuns "Nach Mitternacht", der die Stimmung im Deutschen Reich des Jahres 1936 festhält, und dann die großen Werke des literarischen Exils, vom "Siebten Kreuz" bis zum "Doktor Faustus". Dazwischen klafft eine Lücke. "Der Reisende" schließt sie. Sein Autor holt das dokumentierte, massenhafte Leid in den Freiraum der Fiktion, er verbindet das historische Polaroid mit der langen Belichtungszeit des Romanciers.
Es gibt Passagen in diesem Buch, bei denen man an Filme von Hitchcock denken muss, an den "Fremden im Zug" oder an James Stewart auf der Flucht vor seinen Verfolgern in "Der unsichtbare Dritte". Dann wieder steht man unvermittelt vor den Trümmern des deutschen Geisteslebens. "Europäische Mission. Solche Fremdwörter sind auszumerzen." Das sagt ein völkischer Schriftsteller im Schnellzug nach Aachen zu seinem Assistenten. Auch das Wort "Kultur" will der Mann durch ein braunes Synonym ersetzen. Angeekelt verlässt Silbermann das Abteil, bevor sein Gegenüber sich zwischen "Volksförderung" und "Gemeinschaftsgeist" entschieden hat.
Auf den ersten Etappen seiner Irrfahrt ist der Geschäftsmann aus Berlin ein sympathischer, aber unauffälliger Charakter. Tragische Größe bekommt er, als er mit seiner Identität zu hadern beginnt. "Es sind zu viele Juden im Zug, dachte Silbermann." Ohne seine Leidensgenossen, überlegt er, würde er in Frieden gelassen. "Weil ihr aber seid, falle ich in eure Unglücksgemeinschaft! Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet." Es ist Silbermanns moralischer Höllensturz. Von da an rast er wie ein Meteorit auf seinen Untergang zu. Man könnte darin eine Rache des Autors an seiner Figur sehen, wenn Silbermanns Verhalten nicht so herzzerreißend alltäglich und nachvollziehbar wäre, so traurig und so wahr.
Ulrich Alexander Boschwitz konnte 1938 noch nicht wissen, was im Lauf des Krieges, der ein Jahr später ausbrach, mit den europäischen Juden unter Hitlers Herrschaft geschehen würde. Aber er sah die Zeichen der Zeit und las darin den kommenden Genozid. "Heutzutage mordet man wirtschaftlich", sagt Silbermann einmal. Angstvoll malt er sich aus, wie die jüdischen Opfer erst sorgsam entkleidet werden, bevor man sie totschlägt, damit kein Blut auf ihre Banknoten tropft. Man muss an die Kleiderberge von Auschwitz denken, wenn man das liest, auch wenn Boschwitz nie von den Todesfabriken erfahren hat.
"Wie im Fieberrausch" habe Boschwitz seinen Roman in nur vier Wochen vollendet, schreibt Peter Graf, der den "Reisenden" wiederentdeckt und herausgegeben hat, im Nachwort. Graf hat auch die Nachkriegsgeschichte des Manuskripts recherchiert. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman seinem Hausverlag Middelhauve, doch "Der Reisende" blieb liegen. Jetzt erreicht er den deutschen Buchmarkt wie ein Paket, das von der Post achtzig Jahre lang vergessen wurde. Man öffnet die Verpackung; aus dem Inneren strömt ungefiltert die bittere Wahrheit der Geschichte.
ANDREAS KILB
Ulrich Alexander Boschwitz: "Der Reisende". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 303 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Mit seinem Roman über die Novemberrevolution von 1938 lässt Ulrich Alexander Boschwitz selbst Anna Seghers oder Arnold Zweig weit hinter sich, findet Rezensent Tilman Krause, der selten ein derart eindringliches Dokument über die Lebenswirklichkeit eines verfolgten Juden gelesen hat. Höchste Zeit also, den 1939 in London und nun erstmals auf Deutsch erschienenen Roman zu lesen, fährt der Kritiker fort, der hier dem Schicksal von Otto Silbermann folgt, einem jüdischen Geschäftsmann, der erst seine soziale Existenz und schließlich den Verstand verliert. Der Autor kennt die Psychoanalyse, beherrscht die Neue Sachlichkeit und hat Sinn für das Absurde, lobt Krause. Vor allem aber staunt er, wie hier Hoffnung, Verzweiflung, herzzerreißende Momente und "makabrer Zynismus" Hand in Hand gehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Man erstarrt als Leser ob der Authenzität, der Empathie und auch der eigenen Trauer, die sich einstellt, sitzt man mit dem 'Reisenden' als Beifahrer bei seiner rasenden Reise durch Deutschland.« Lothar Schelenz, Hermannstädter Zeitung, 12. November 2021 Lothar Schelenz Hermannstädter Zeitung 20211112
Der Kaufmann Otto Silbermann hat die Gefahr nicht kommen sehen, denn er fühlte sich in erster Linie als Deutscher und nicht als Jude. Im Ersten Weltkrieg hat er für die Deutschen gekämpft und bekam sogar das Eiserne Kreuz. Doch als er endlich begriffen hat, was da auf ihn zukommt, …
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Der Kaufmann Otto Silbermann hat die Gefahr nicht kommen sehen, denn er fühlte sich in erster Linie als Deutscher und nicht als Jude. Im Ersten Weltkrieg hat er für die Deutschen gekämpft und bekam sogar das Eiserne Kreuz. Doch als er endlich begriffen hat, was da auf ihn zukommt, versucht er sein Haus zu verkaufen und er macht seinen arischen Prokuristen zum Teilhaber. Sein Sohn ist bereits in Frankreich und soll sich um eine Einreisegenehmigung kümmern. Doch von jetzt auf gleich muss er fliehen, denn die Nazis wollen ihn verhaften. Aber er ist nicht gerettet, denn die Grenzen sind verschlossen und er kann auch nirgendwo unterkommen. Da er eine Aktentasche voll Geld bei sich hat, reist mit der Bahn durchs Land – in immer neuen Zügen. Dabei bleibt ihm nichts anderes, als zu beobachten, was um ihn herum geschieht. Die Angst begleitet ihn Tag für Tag.
Der Autor Ulrich Alexander Boschwitz ist bereits im Jahr 1942 verstorben. Diese Ausgabe basiert auf der Erstausgabe von 1938.
Was mit Otto Silbermann passiert ist dramatisch. Er hat die Lage vollkommen falsch eingeschätzt, denn wie kann ein angesehener Kaufmann, der sich um Deutschland so verdient gemacht hat, plötzlich verfolgt werden? Dann geht alles sehr schnell. Niemand will sich kompromittieren und sein ehemaliger Angestellt weiß die Gunst der Stunde für seine eigenen Interessen zu nutzen. Auf seiner Reise trifft Silbermann dann auf die unterschiedlichsten Menschen: Nazis und Menschen, die wie er auf der Flucht sind. Er trifft auf schlechte und gute Menschen. Er erlebt also die gesamte Bandbreite der Gesellschaft in der damaligen Zeit.
Dass er keine Chance hat, aus Deutschland herauszukommen und immer aufpassen muss, dass er nicht enttarnt wird, verändert ihn. Er versucht er unter dem Radar der Nazis zu bleiben und passt sich seiner Umgebung immer mehr an.
Das Buch bietet keine überraschenden Wendungen, da der Klappentext alles Wesentliche bereits verraten hat. Auch wenn das Buch einige Längen hatte, hat mich die Geschichte des Otto Silbermann dennoch gepackt. Es ist ein verstörendes Zeitdokument – sehr authentisch und überaus beklemmend.
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„Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz
Eckdaten
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf
292 Seiten + 11 Seiten Nachwort des Herausgebers
Roman
2018
20 €
ISBN: 978-3-608-98123-0
Klett-Cotta Verlag
Cover
Das Cover finde ich sehr …
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„Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz
Eckdaten
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf
292 Seiten + 11 Seiten Nachwort des Herausgebers
Roman
2018
20 €
ISBN: 978-3-608-98123-0
Klett-Cotta Verlag
Cover
Das Cover finde ich sehr passend.
Inhalt
Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird infolge der Novemberprogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. Noch nie hat man die Atmosphäre im Deutschland dieser Zeit auf so unmittelbare Wiese nachempfinden können. Denn in den Gesprächen, die Silbermann führt und mithört, spiegelt sich eindrücklich die schreckenerregende Lebenswirklichkeit jener Tage.
Autor
Ulrich Alexander Boschwitz, geboren am 19. April 1915 in Berlin, emigrierte 1935 zunächst nach Skandinavien, später nach England. Wie viele andere deutschstämmige Flüchtlinge in England, wurde Boschwitz kurz vor Kriegsbeginn interniert und nach Australien gebracht. Auf der Rückreise wurde das Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und sank. Sein Roman „Der Reisende“ erschien im Februar 1939 in England und 1940 in den USA. 1945 folgte postum eine französische Ausgabe.
Meinung
Ich bin relativ leicht in die Handlung hineingekommen und das gesamte Buch liest sich sehr leicht, trotz der schweren Thematik, die z.T. immer noch aktuell ist.
Ich finde es nur sehr schade, dass der Klappentext schon ziemlich viel von der Handlung verrät, weshalb ich den Mittelteil größtenteils nur noch überflogen habe. Das finde ich schade, aber es war nicht mehr interessant genug.
Der Protagonist ist ein fleißiger und geschäftstüchtiger, jüdischer Geschäftsmann, der plötzlich alles verliert. Seine gesamte Existenz trägt er in einem Aktenkoffer mit sich herum. Der Leser erfährt mehr über seine Gefühlslage und auch Denkweise. Denn auch wenn er selbst Jude ist, so sympathisiert er nicht mit allen seinen Leidensgenossen.
Das Buch regt definitiv zum Nachdenken an. Die Situation des Herrn Silbermanns lässt sich leicht auf aktuelle Probleme übertragen. Außerdem ist diese Geschichte ein wichtiges Zeitdokument und sollte auf jeden Fall gelesen werden. Aber ich finde den Preis von 20 € doch sehr viel…
❤❤❤,5 von ❤❤❤❤❤
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Ulrich Alexander Boschwitz ertrank im Oktober 1942 als sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert wurde. Er war damals 27 Jahre alt und kehrte aus Australien nach England zurück wo er als Freiwilliger in den Kriegsdienst eingetreten war. Der Reisende war bislang sein zweiter Roman und …
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Ulrich Alexander Boschwitz ertrank im Oktober 1942 als sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert wurde. Er war damals 27 Jahre alt und kehrte aus Australien nach England zurück wo er als Freiwilliger in den Kriegsdienst eingetreten war. Der Reisende war bislang sein zweiter Roman und letzter Roman. Der Reisende“ spielt im November 1938, am Tag nach der „Reichspogromnacht“ und in den Wochen danach. Otto Silbermann, die Hauptfigur, ist ein jüdischer Geschäftsmann, (Boschwitz selbst war Halbjude) Bis zu dem Zeitpunkt fühlte es sich in Deutschland sicher aber kurz danach ändert sich die Situation schagartig. Sein Geschäftpartner hintergeht ihn, sein Schwager will nichts mehr von ihm wissen und seine Versuche ins Ausland zu flüchtern scheitern. Als dann noch sein ganzes Vermögen, das er in einem Kofferm mit sich trug, gestohlen wird, scheint die Lage aussichtslos zu sein.
Ein Porträt eines Mannes der für seine Herkunft hat bitter büssen müssen und uns 80 Jahre später erreicht um uns zu erinnern wie wichtig es ist nicht zu vergessen.
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Ergreifend und tragisch traurig!
Erzählt wird in „Der Reisende“ die tragische Flucht des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann im Nazi-Deutschland des Jahres 1938. Packend, düster und unglaublich authentisch beschreibt Ulrich Alexander Boschwitz dabei die Verläufe …
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Ergreifend und tragisch traurig!
Erzählt wird in „Der Reisende“ die tragische Flucht des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann im Nazi-Deutschland des Jahres 1938. Packend, düster und unglaublich authentisch beschreibt Ulrich Alexander Boschwitz dabei die Verläufe und zieht den Leser gleich mit in einen Sog aus Angst, Misstrauen und Verunsicherung. Wohin nur? Wem kann man noch trauen?! Und was macht letztlich die eigene Persönlichkeit aus, die einem permanent vorgehalten wird und ärgste Konsequenzen haben kann?
Boschwitz, dessen Roman „Der Reisende“ zwar schon 1939 verfasst wurde, aber in diesem Jahr erstmals in Deutschland verlegt wurde, wusste um die Umstände, in denen sich sein Protagonist Otto Silbermann befindet und kannte auch die Zustände, die mit dem Sich-Verstecken-Müssen und der Angst vor Entdeckung einher gingen – war er doch selber Jude. Die Inhalte des Romans sollen teilweise familien-, bzw. autobiografischer Art sein und beziehen sich damit wohl auf die eigene Flucht vor den Nazis, durch diverse europäische Staaten und die persönliche Vater-Sohn-Situation. Das machte den Roman für mich denn umso tragischer, ist doch auch Boschwitz während seiner Flucht durch Torpedos der Nazi auf einem Schiff gestorben.
Durch den eingängigen Schreibstil kommt man sehr gut in die Erzählung hinein und fühlt sich auch sogleich in die vergangene Zeit zurückversetzt. Sprache und Figuren entsprechen natürlich recht stark der damaligen Zeit, was sich vor allem in den Dialogen bemerkbar macht, die Inhalte aber auch umso greifbarer werden lässt. Alle Protagonisten wirken authentisch und nur allzu reell. Otto Silbermann ist zunächst als Hauptprotagonist nicht einmal ein sympathischer Geselle. Doch je mehr sich die Schlinge um ihn herum zuzieht, desto stärker hofft, zittert und bangt man mit und um ihn. Boschwitz entwickelt eine unfassbar packende, intensive und atmosphärische Dichte, der man sich kaum entziehen kann. Es ist wohl denn auch nicht verwunderlich, dass Silbermann nach und nach den Verstand zu verlieren scheint und unter dem Druck der Nazis förmlich zusammenbricht. Eben dieser Prozess des Nachgebens und der Verlust der eigenen Persönlichkeit, bzw. Identität, was man emotional mehr oder minder stellvertretend für so viele verfolgte Menschen des Dritten Reiches im Geiste durch das beschriebene Szenario mit durchlebt, hat mich wahnsinnig ergriffen. Viele Passagen, Fragmente und Sätze sind leider zudem aus heutiger politischer Sicht aktueller denn je. Mich hat der lange verstorbene Boschwitz mit seinem Roman definitiv erreicht und mir sogar die Tränen in die Augen getrieben – nicht nur zum Schluss.
Das Buch klingt bei mir noch sehr nach, obwohl ich es schon vor einiger Zeit beendet habe. Es ist einfach verstörend und tragisch traurig. Ein Buch, das durch die reellen geschichtlichen Inhalte und den ganz besonderen Ton der Erzählung unter die Haut geht und mitnimmt. Ich kann es nur uneingeschränkt weiterempfehlen. Deshalb ganz klar 5 Sterne!
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Eine Woche im Leben des Otto Silbermann. Zu Beginn ist er erfolgreicher Geschäftsmann, hat Familie und ein geregeltes Leben. Am Ende ist ihm nichts geblieben davon. Aber wen wundert‘s, es ist 1938 in Deutschland und Silbermann ist Jude. Nachdem ihn sein Geschäftspartner betrogen hat …
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Eine Woche im Leben des Otto Silbermann. Zu Beginn ist er erfolgreicher Geschäftsmann, hat Familie und ein geregeltes Leben. Am Ende ist ihm nichts geblieben davon. Aber wen wundert‘s, es ist 1938 in Deutschland und Silbermann ist Jude. Nachdem ihn sein Geschäftspartner betrogen hat und seine Wohnung verwüstet wurde, versucht Silbermann mit dem Geld, das ihm noch geblieben ist, zu seinem Sohn nach Paris zu fliehen. Doch da dieser kein Visum beschaffen kann, reist Silbermann quer durch Deutschland. Von Berlin nach Aachen. Von Aachen nach Dortmund. Wieder nach Berlin. Nach München. Immer vor der Angst als Jude erkannt und verhaftet zu werden. Nach Tagen fast ohne Schlaf, gezeichnet voller Panik und Sorge, kommt es schließlich wie es kommen musste: das Ende ist nah und gar nicht mehr schlimm, sondern fast eine Erlösung.
Ulrich Alexander Boschwitz hat in seinem Roman „Der Reisende“ viel autobiografisches Material untergebracht. Auch er floh vor der immer schlimmer werdenden nationalsozialistischen Verfolgung quer durch Europa, hat Internierung und Camps miterlebt und hielt dennoch an seinem Wunsch, seinen Erlebnissen literarischen Ausdruck zu verleihen, fest.
Der Roman nimmt einem unmittelbar gefangen. Die Ereignisse, die der unheilvollen Woche im November 1938 zugrunde liegt, sind historisch gut belegt und bekannt – aber was man mehr als Abfolge von Ereignissen im Geschichtsunterricht erlernt, bekommt durch die Erlebnisse von Boschwitz‘ Protagonisten eine ganz andere Note. Es sind vor allem die grotesken Alltagserlebnisse und die unsäglichen Ausflüchte der Menschen, die einem beim Lesen fast verzweifeln lassen ob der unglaublichen Absurdität. Zunächst die Beschwichtigungen, Silbermann ist Jude, ja, aber er sieht ja nicht so aus und er solle doch dankbar sein, dass man sich nicht gleich ganz gegen ihn wende. Man habe ihn immer gemocht, aber er müsse doch verstehen, die Zeiten und man könne ja nicht anders. Immer haben die Juden profitiert, jetzt müssten doch endlich mal die anderen dran sein. Die ganze Palette an Ausflüchten, lächerlichen Gründen und vorgeschobenen Argumenten bietet Boschwitz auf, um seinen Protagonisten langsam verzweifeln zu lassen. Die immer schnellere Abfolge von Zügen, mit denen er flüchtet, spiegeln seine steigende Verzweiflung wieder, da wundert sein Gedankengang am Bahnsteig nicht:
„Eigentlich brauche ich nur nach vorne zu springen, mich einfach fallen zu lassen, vor den Zug, dachte er. Alles ist dann vorbei und gänzlich unwichtig.“
Viele der Figuren verkörpern das typische Verhalten der damaligen Zeit. Silbermanns Schwager, der sich von ihm nicht ruinieren lassen will, obwohl Silbermann ihm stets geholfen hatte, und der eine Beherbergung auch nur für wenige Tage kategorisch ablehnt. Sein Ex-Geschäftspartner, der die Propaganda der Partei glaubt und die Ermordung des Botschaftssekretärs als legitimen Grund für die Vernichtung der Juden ansieht. Der Kommissar, bei dem er einen Diebstahl anzeigen will und der ihn schon vorab der Lüge bezichtigt, rein auf Basis seines Glaubens.
Boschwitz muss es so gegangen sein wie Silbermann, als dieser gegen Ende des Romans feststellt:
„Ich habe jetzt oft das Gefühl...die Welt ist verrückt...das heißt, ich weiß nichts mehr mit ihr anzufangen...“
Mehr kann man zu den realen Geschehnissen nicht sagen. Und viel besser lassen sie sich auch kaum einfangen als es Boschwitz mit seinem Roman getan hat. Ein Zeitzeugnis, das vermutlich, obwohl rein literarisch, mehr Realität beinhaltet, als man sich vorstellen konnte.
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"Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz ist sowohl ein spannender Roman als auch ein besonderes Zeitdokument aus dem Klett-Cotta-Verlag.
Von dem ins Exil geretteten Juden Ulrich Alexander Boschwitz zur Zeit in der er spielt geschrieben und von Peter Graf editiert erzählt der …
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"Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz ist sowohl ein spannender Roman als auch ein besonderes Zeitdokument aus dem Klett-Cotta-Verlag.
Von dem ins Exil geretteten Juden Ulrich Alexander Boschwitz zur Zeit in der er spielt geschrieben und von Peter Graf editiert erzählt der Roman die Geschichte des Juden Otto Silbermann, der 1938 in Berlin gerade noch rechtzeitig aus seiner Wohnung fliehen kann um nicht im Zuge der Novemberprogrome verhaftet zu werden. Er war gerade noch ein angesehener und wohlhabender Geschäftsmann, als er sich - zunächst fast ohne Geld - auf der Straße wiederfindet. Er kann nicht mehr nach Hause, und weiß auch sonst nicht wo er hin soll. Er schafft es zumindest einen Teil seines Vermögens wiederzubekommen. Nun ist sein vorrangiges Ziel ins Ausland zu gelangen. Doch das will ihn auch nicht und so folgt eine schier endlose Odyssee mit der Bahn, immer unterwegs, denn nur an Bahnhöfen und unterwegs ist man anonym.
Man merkt dem Erzählstil und der Sprache an, dass das Buch ein Originaldokument ist. Zwar handelt es sich um eine fiktive Erzählung aber man erkennt, dass der Autor soetwas selbst miterlebt hat. Wenn jemand heute so einen Roman schreiben wollte würde er ganz anders aussehen, denn niemand würde mehr diese Sicherheit und Gutgläubigkeit, die Silbermann am Anfang noch hat, erfinden können. Auch die Offenheit, mit der er diffamiert und niedergemacht wird, würde sich heute niemand mehr schreiben trauen. Und doch ist es gut - sehr hart und unangenehm natürlich, aber auch gut so etwas zu lesen um wieder wachgerüttelt zu werden und zu erkennen wo auch in unserer Gesellschaft wieder ähnliche Tendenzen erwachsen. Wir müssen alles aufhalten, was in diese Richtung des damaligen Terrors führt und auch alles, was uns davon überzeugen will, dass das damalige Regime vielleicht nicht in allem schlecht war. Solches Gedankengut darf sich heute nicht mehr durchsetzen und solche schlimmen Geschehnisse dürfen sich niemals wiederholen. Dafür müssen besonders wir Deutschen uns einsetzen.
Dieser Roman ist ein Erlebnis, nicht einfach zu lesen, aber eine wichtige Lektüre zum Verständnis der Vergangenheit und zur Wachsamkeit in der Zukunft.
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Zerrissen
Novemberporgromen 1938 und Otto Silbermann, der Geschäftsmann der gar nicht jüdisch aussieht, ist auf einmal auch betroffen. Sein Geschäft, sein Vermögen, seine Familie sind bedroht. Innerlich zerrissen zwischen „das kann nicht sein“ und …
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Zerrissen
Novemberporgromen 1938 und Otto Silbermann, der Geschäftsmann der gar nicht jüdisch aussieht, ist auf einmal auch betroffen. Sein Geschäft, sein Vermögen, seine Familie sind bedroht. Innerlich zerrissen zwischen „das kann nicht sein“ und „Angst“, zwischen dem Versuch sein Vermögen zu retten oder sein Leben, zwischen dem Vertrauen zu anderen Menschen und dem Mißtrauen jedem und allem gegenüber, ist er unterwegs mit Zügen ohne Ziel.
Das Buch „Der Reisende“ spiegelt die Zeit damals anschaulich und interessant wieder. Aus der Sicht des Betroffenen Otto Silbermann und seiner Gedankenwelt erzählt, macht es betroffen und ist doch ein gutes, interessant zu lesendes Zeitzeugnis. Ich kann dieses Buch nur empfehlen.
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Der Reisende, Roman von Ulrich Alexander Boschwitz, 304 Seiten, erschienen bei Klett-Cotta.
Eine Erzählung über den jüdischen Geschäftsmann Otto Silbermann, der zuerst sein Hab und Gut, dann seine Würde und am Ende seinen Verstand verliert.
Vorliegender Roman wurde schon …
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Der Reisende, Roman von Ulrich Alexander Boschwitz, 304 Seiten, erschienen bei Klett-Cotta.
Eine Erzählung über den jüdischen Geschäftsmann Otto Silbermann, der zuerst sein Hab und Gut, dann seine Würde und am Ende seinen Verstand verliert.
Vorliegender Roman wurde schon 1938 verfasst, als die Verfolgung der Juden im Dritten Reich gerade begann. Der Autor zu diesem Zeitpunkt erst 23 Jahre alt schrieb diesen Roman in wenigen Wochen und nachdem er selber schon geflüchtet war. In den 60er Jahren gelangte das Manuskript nach Frankfurt ins Exilarchiv der deutschen Nationalbibliothek. Erst jetzt, 80 Jahre nach seiner Fertigstellung wurde diesem beeindruckenden Werk die Form gegeben, die ihm gebührt. (Aus editorische Notiz)
Das Buch gliedert sich in 11 überschaubare Kapitel, im auktorialen Erzählstil verfasst. Schon auf den ersten Seiten wurde ich von diesem Text derart gefesselt, dass ich dieses Buch nur in einem Zug lesen konnte. Schon auf den ersten Seiten beginnt es sehr spannend. Der Protagonist Silbermann, versucht an den Geschäftsmann Becker, ein Haus zu verkaufen. Die verzweifelten Versuche noch wenigstens die Immobilie, letztendlich zwar weit unter Wert, zu veräußern, werden vom Erscheinen eines SA-Schlägertrupps im Zuge der Reichsprogromnacht zunichte gemacht. Silbermann kann fliehen und muss seine Frau zurücklassen. Die beiden haben es versäumt rechtzeitig zu ihrem Sohn nach Frankreich zu flüchten. Sehr viele interessante Dialoge und auch Monologe machen die Geschichte äußerst lebendig. Besonders die Monologe die der Protagonist in Gedanken führt, zeigen auf, wie sich Silbermann innerhalb einer Woche verändert. Verraten von Freunden, Verwandten und Geschäftspartnern fühlt er sich nur noch in Zügen sicher und reist quer durch Deutschland. Von seinem Teilhaber erhält er noch eine größere Geldsumme, die er fortan in einer Aktenmappe mit sich trägt. Als er auch noch um seine letzte Hoffnung gebracht wird, erkennt Silbermann, dass er von nun ab, zum Staatsfeind Nr.1 geworden ist.
Dieses Buch hat mich erschüttert. Vor allem, dadurch, dass es von einem 23Jährigen auf so eine „reife Art“ geschrieben werden konnte. Obwohl es sich hier wirklich um ein ernstes Thema handelt, empfand ich den Schreibstil als fesselnd, unterhaltsam und leicht zu lesen. Am Ende des Buches sind noch wichtige Informationen des Herausgebers angeführt die man sich nicht entgehen lassen sollte.
Leider finde ich, dass im Klappentext zu viel vom Plot verraten wird. Gerne hätte ich auch gewusst wie Silbermanns „Geschichte“ endet, mir fehlt sozusagen der Schluss der Geschichte.
Da es sich bei vorliegendem Werk um eine etwas anders erzählte Perspektive der Thematik handelt finde ich dieses Buch auch als Schullektüre geeignet. Auf jeden Fall gebe ich eine Leseempfehlung und verdiente 4 Sterne.
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Otto Silbermann führt ein gutbürgerliches Leben, wohnt mit seiner Frau in einer feudalen Wohnung, ist ein erfolgreicher Kaufmann. Doch nach der Reichsprogromnacht ändert sich für ihn endgültig alles, gerade noch rechtzeitig kann er aus der Wohnung fliehen bevor er von …
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Otto Silbermann führt ein gutbürgerliches Leben, wohnt mit seiner Frau in einer feudalen Wohnung, ist ein erfolgreicher Kaufmann. Doch nach der Reichsprogromnacht ändert sich für ihn endgültig alles, gerade noch rechtzeitig kann er aus der Wohnung fliehen bevor er von Nazischergen verhaftet wird. Seine Flucht führt ihn zum Bahnhof und von dort aus überall hin.
Schon die Geschichte des Autors, die hinter diesem Roman steht, wäre eigentlich ein eigenes Buch wert gewesen. Man merkt dem Reisenden die persönlichen Erfahrungen des Autors immer wieder an, die Angst, die Ohnmacht, aber auch die Wut und Verzweiflung. Silbermann steckt voller Gefühle, auch wenn er die unauffällige Fassade sehr gut aufrechterhalten kann. Er ist keine durchweg sympathische Figur, was ihn wiederum umso authentischer macht. Seine Irrfahrt durch Deutschland wirkt auf den Leser zunehmend beklemmend, immer wieder lässt der Autor kleine Szenen entstehen, die für uns heute absolut erschreckend, aber leider sehr real gewesen sind. Boschwitz wollte sein Manuskript ursprünglich überarbeiten, dies gelang ihm jedoch nicht mehr. Peter Graf hat hier in meinen Augen sehr gute Arbeit geleistet und diesem sehr mutigen und sehr wichtigen Buch zu neuem Leben verholfen.
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Die vorliegende Ausgabe von "Der Reisende" ist die deutsche Erstausgabe des 1938 von Ulrich Alexander Boschwitz geschriebenen Romans. Eine Zusammenarbeit zwischen Lektor und Verlag war hier nie möglich: der Autor verstarb bereits 1942, also bevor an eine Veröffentlichung auf …
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Die vorliegende Ausgabe von "Der Reisende" ist die deutsche Erstausgabe des 1938 von Ulrich Alexander Boschwitz geschriebenen Romans. Eine Zusammenarbeit zwischen Lektor und Verlag war hier nie möglich: der Autor verstarb bereits 1942, also bevor an eine Veröffentlichung auf Deutsch überhaupt zu denken war. Dadurch ist es ein authentisches, nahezu unverändertes Zeitdokument, was es in meinen Augen zu einer interessanten und wichtigen Lektüre macht.
Der Leser erlebt die rastlosen Gedankengänge, die Unsicherheit, die Sorgen um sich und seine Familie, aber auch um seine Firma und sein Vermögen mit. Otto Silbermann befindet sich im Zwiespalt: es fällt ihm auch nach fünf Jahren Nazi-Herrschaft schwer, die neue Realität mit dem Deutschland in Einklang zu bringen, das ihm seit seiner Geburt Heimat war. Man kann durch die Person Otto Silbermann nachvollziehen, warum es auch in der Realität leider so viele Juden gab, die Deutschland trotz aller Warnungen nicht verlassen haben. Während seiner Odysee trifft Otto Silbermann eine Vielzahl von Mitbürgern, die sich alle unterscheiden und so wohl ein gutes Abbild der Deutschen 1938 geben.
Sprachlich ist es in seiner Zeit verhaftet und manchmal vielleicht nicht ganz ausgereift, was sich hin und wieder etwas ungewohnt liest.
Insgesamt aber ein interessantes und wichtiges Zeitzeugnis!
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