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miss.mesmerized
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Bewertungen

Insgesamt 1242 Bewertungen
Bewertung vom 15.03.2023
Es war einmal in Brooklyn
Atlas, Syd

Es war einmal in Brooklyn


ausgezeichnet

Ende der 70er Jahre haben Juliette und David das Leben vor sich. Sie stehen kurz vor dem Schulabschluss, doch für die besten Freunde hat das Schicksal noch größere Herausforderungen als das Dasein als Außenseiter geplant. David erkrankt und weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Juliette verliebt sich, aber die Liebe ist kompliziert, vor allem mit einem todkranken besten Freund. Es sind die entscheidenden Wochen im Leben der beiden Teenager, die sie auseinander und immer wieder auch zusammenführen und ihr enges Band gehörig unter Spannung stellen.

Syd Atlas hat mit „Es war einmal in Brooklyn“ einen bemerkenswerten coming-of-age Roman geschrieben. Die amerikanische Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin, die in Berlin lebt, lässt das Brooklyn einer längst vergangenen Zeit wieder auferstehen, das die Welt der Protagonisten auf einen engen Radius einstampft, der aber trotzdem alle Dramen des Lebens erlaubt. Verwirrte Gefühle, das langsam Lösen und Erwachsenwerden mit allem, was dazu gehört. Es war damals nicht leicht und ist es heute nicht, wird hier jedoch wundervoll erzählt.

Man schließt beide, Juliette wie auch David, sofort ins Herz. Sie sind nicht perfekt, sie sind jung und fehlbar, aber vor allem verletzlich und verletzt. Sie treffen falsche Entscheidungen, die nicht folgenlos bleiben und bereuen auch manches, das sie sagen und tun. Dadurch wirken sie glaubwürdig und echt und man wünscht ihnen, dass alles gut wird. Aber das echte Leben ist nun mal kein Ponyhof ud jede Geschichte findet ein Happy End.

Vor allem die Atmosphäre hat mich sofort gepackt und in der Geschichte versinken lassen. Die Erwachsenen sind nur Randfiguren, wenn auch mit wichtigen Momenten. Die Sorgen und Gedanken der Teenager wirken authentisch und in keiner Weise überzeichnet oder klischeehaft.

Ein Roman, der einem an die eigene Jugend erinnern lässt und mich restlos begeisterte.

Bewertung vom 06.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Eine Ausnahmesituation bringt die Essayistin und Poetin Doireann Ní Ghríofa zu einer Adligen, Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die zwei Jahrhunderte vor ihr lebte und ihre Gedanken und Emotionen ebenfalls in Gedichtform äußerte. Als erwachsene Frau nimmt sie den Text, den sie bereits in der Schulzeit einmal lesen musste, gänzlich anders wahr und spürt eine Verbindung, der sie nachgeht, wenn sie nicht gerade den Haushalt schmeißt oder sich um ihre drei Kinder kümmert. Eine Verbindung zwischen zwei Frauen über Zeit und gesellschaftliche Veränderungen hinweg.

Die Autorin hat für das Buch „Ein Geist in der Kehle“ eine Mischform von Texten gewählt, die am besten zum Ausdruck bringt, was sie leitet und wie sehr die Texte von Eibhlín Dubh sie bewegen. Das Schwangersein und Mutterwerden lässt sie mehr denn je als Frau empfinden und schafft ein starkes Band zu jener Frau, die heute zum irischen Nationalmythos zählt.

Beide Leben werden clever miteinander verwoben. Das der Autorin ist für mich besonders intensiv im Ausdruck, als sie ihre Tochter zur Welt bringt und bange Wochen nach der Frühgeburt durchlebt. Die Erschöpfung und Zweifel werden in jeder Zeile lebendig und treffen einem auch als Leserin unmittelbar, auch wenn man eine derartige Erfahrung nicht machen musste. Vor allem das Gefühl, in ihrer ureigenen Funktion als Mutter, die das in ihr heranwachsende Kind nicht gut versorgt, versagt zu habt, trifft die Autorin hart.

Im Kontrast dazu Eibhlín Dubh, die einerseits stark wirkt und doch nach dem Tod ihres Mannes das Schicksal der Frauen ihrer Zeit erleidet: sie verschwindet. Sie wird unsichtbar, nicht mehr erwähnt, weder in offiziellen noch in privaten Dokumenten. Einzig durch ihre Söhne lebt sie weiter und sehr gelegentlich als Randfigur, die jedoch nur beim Mädchen Rufnamen genannt wird.

Die Autorin nennt ihren Text feministisch. Nicht nur die beiden Protagonistinnen, sondern das, was sie gesellschaftlich zu Frauen macht, stehen im Zentrum. Die Angst zu versagen, die gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu erfüllen, wirken stark durch. Und auch das Verschwinden, in dem Moment, wo der Gatte nicht mehr da ist, ist wohl ein sehr weibliches Phänomen.

Ein starker Text, der sich einer Genre-Zuordnung versagt. Eine feministische Perspektive, die einerseits sehr persönlich und doch auch wieder universell ist. Sprachlich außergewöhnlich und gerade in den poetischen Passagen ein literarischer Hochgenuss.

Bewertung vom 25.02.2023
Ohne mich
Schüttpelz, Esther

Ohne mich


ausgezeichnet

Gerade erst hatten sie ihre Hochzeit gefeiert und jetzt schon trennen sich ihre Wege. Die namenlose Erzählerin hängt fest im juristischen Referendariat in Münster, das sie nicht im Geringsten interessiert. Der Ehemann hat sein Studium auch endlich beendet und zieht nach Berlin. Mit Mitte zwanzig in der Mid-Life Crisis - Alkohol, Partys, Koks: nichts kann wirklich über die Frustration und die Leere und Sinnlosigkeit hinweghelfen, die die Erzählerin in sich spürt. Wenn man gerade ins Leben starten will und plötzlich vor einem Scherbenhaufen steht, wie soll man damit umgehen?

Esther Schüttpelz hat in ihrem Roman „Ohne mich“ viele autobiografische Elemente verarbeitet und eine Protagonistin erschaffen, die typisch für ihre Generation in ihrer Zeit ist. Man folgt ihrem Gedankenfluss und durchlebt mit ihr Wochen und Monate der Sinnsuche, die auf äußere Impulse angewiesen ist, da aus der Protagonistin heraus kaum mehr eine Entwicklung beginnen kann. Es ist ein sehr persönliches Leiden, dass von der Außenwelt kaum wahrgenommen wird, da sie weiterhin noch funktioniert, obwohl innerlich die Leere immer mehr Raum einnimmt.

Die Erzählperspektive macht es leicht sich in die Erzählerin einzufinden. Sie bleibt namenlos, könnte also jede sein und einige ihrer Gedanken sind sicher jedem Leser bekannt. Motiviert ist sie in ihr Studium gestartet, wollte Karriere machen und sich ein schönes Leben einrichten. Doch dann haben irgendwann die Ziele ihren Sinn verloren. Mit dem Ende der Ehe kommt die vollständige Sinnlosigkeit über sie. Es folgt das tiefe Loch, das nur noch minimales Funktionieren erlaubt.

Es ist keine pathologische Depression, die sie durchlebt, sondern eine Phase der Orientierungslosigkeit, in der sich Fixpunkte auflösen und die Halt gebenden Parameter des Lebens plötzlich fehlen. Was zuvor noch gewiss und leitend war, wird infrage gestellt und durch ein suchendes Hin und Her abgelöst.

Man fragt sich, ob das Empfinden der Erzählerin symptomatisch für eine Generation, eine Lebensphase oder doch mehr eine individuelle Erfahrung ist. Zeiten des Umbruchs, die mit einer gewissen Desorientierung einhergehen, sind menschlich, das Ausmaß jedoch verschieden. Es mag unserer Leistungsgesellschaft geschuldet sein, die durch den schönen Schein der Social Media Kanäle, auf denen sich jeder im besten und glücklichsten Licht darstellt, nochmals in den Erwartungen an das eigene Leben im Vergleich zu anderen intensiviert wurde. Im Umkehrschluss reißt es jedoch auch die Fragen auf: nehmen wir das Empfinden unser Mitmenschen, ja unserer besten Freunde überhaupt noch wahr und wie viel Schein tut uns allen eigentlich gut?

Ein Roman seiner Zeit, der zwar ein versöhnliches Ende bietet, jedoch durchaus wichtige Fragen anreißt.

Bewertung vom 19.02.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


ausgezeichnet

Der Erzählerin wird einfach alles zu viel. Sie zieht die Reißleine und begibt sich in die Psychiatrie. Dort muss sie warten und so beginnen die Gedanken zu rotieren. Sie erinnert sich an ihre Kindheit mit Siegfried, dem Mann ihrer Mutter, und dessen strenge Mutter Hilde, bei der sie immer dann bleiben musste, wenn ihre Eltern auf Geschäftsreise waren. Und sie hält ihr jetziges Leben mit Alex und der gemeinsamen Tochter dagegen. Alex ist nicht wie Siegfried, er kann ihr auch nicht das Leben bieten, das Siegfried ihrer Mutter bot. Je länger der Tag und das Warten dauern, desto negativer wird ihr Bild von ihrem Leben und vor allem ihrem Partner.

Antonia Baums Roman „Siegfried“ spiegelt zwei Männer verschiedener Generationen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Es könnte egal sein, wenn nicht die Erzählerin den Vergleich anstellen würde und unausgesprochene Erwartungen ihr Leben ins Wanken bringen würden. Es ist eine Geschichte von Schieflagen, zwischen den Geschlechtern, den Generationen, auch zwischen Ost und West und je tiefer man eintaucht, desto dominanter wird die kindliche Prägung, die stärker ist, als den Figuren bewusst ist.

Der Titel des Buchs überrascht, ist Siegfried doch eigentlich nicht die zentrale Figur. Erst im Lauf der Handlung wird jedoch deutlich, wie bestimmend der Mann für die Ideale und Erwartungen der Erzählerin ist. Er hat ein Modell vorgelebt, nach dem sie sich mit zunehmendem Alter immer mehr sehnt. Die Strenge seiner Mutter hat ihn erfolgreich werden lassen, auch wenn dies ein unterkühltes Verhältnis zur Folge hatte. Jedoch ermöglicht sein Erfolg einen Lebensstandard, der vor allem mit Sicherheit verbunden ist.

Mit Alex genoss die Erzählerin zunächst die Sorglosigkeit und ein Leben nach eignen Maßstäben. Doch schleichend offenbart sich, dass er ein Kind seiner ostdeutschen Erziehung ist und sie in verschiedenen Welten leben. Unweigerlich treffen zwei sehr verschiedene Sichtweisen aufeinander, die nicht vereinbar sind. Je prekärer die finanzielle Lage des Paares, desto kritischer beäugt die Erzählerin die Leistung ihres Partners und vor allem sein Unvermögen, ihr das zu bieten, was Siegfried ihr bieten konnte.

Die Erzählerin ist eine erfolgreiche und intelligente Frau und dennoch scheitert sie am Alltag und daran, die richtigen Schlüsse aus dem zu ziehen, was sie beobachtet und weiß. Es fehlt ihr der richtige Weg zu kommunizieren, klar zu machen, was sie braucht, stattdessen läuft sie in Eskalation, deren erstes Opfer sie selbst ist.

Auch mich würde Alex wahnsinnig machen, doch er kann nicht aus seiner Haut und kann auch nicht verstehen, was er falsch macht. Die Erzählerin ist jedoch keineswegs in einem Leben mit ihm gefangen. Sie könnte ausbrechen, wie einst ihre Mutter, sie kennt allerdings auch den Preis.

Ein intensiver Roman, der ohne dies groß zu umschreiben eine genaue Analyse vieler westdeutschen Nachkriegsfamilien liefert und Lebensmodelle kontrastiert, die weiter nicht voneinander entfernt sein könnte. Im selben Land zur selben Zeit aufzuwachsen und zu leben, genügt nicht, um auch erfolgreich gemeinsam leben zu können.

Bewertung vom 17.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


ausgezeichnet

Das schreckliche Ereignis ist bereits Jahre her. Liv war noch Studentin, als sie vergewaltigt wurde und doch verfolgt das Erlebnis sie als erwachsene Frau und Mutter immer noch. Sie wollte nie Opfer sein, hat andere für die öffentliche Zurschautragung ihres Leids verachtet, aber den schönen Schein zu wahren, kostet sie enorm viel Energie. Das Kopfkino, die rasenden Gedanken im Zaum zu halten und nicht durchzudrehen. Es war nicht nur in dieser Situation, dass der Mann Macht über sie hatte, er hat sie immer noch, ohne dabei in seinem Familienidyll etwas davon zu ahnen.

„Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen.“

Die norwegische Fotografin und Autorin Hedi Furre verleiht in ihrem Roman einer Frau eine Stimme, die eigentlich keine haben will. Am Beispiel von Liv wird deutlich, wie gesellschaftliche Normen das Opfer einer Straftat nochmals strafen, indem sie Mitschuld erhält (auch selbst zugeschrieben), indem sie verdrängt, was ihr passiert ist, weil es niemand hören und sehen will und schon gar nicht mit so etwas Schrecklichem belästigt werden möchte. Es sind nicht nur die äußerlichen Wunden, die Leid verursachen, „Macht“ zeigt sehr deutlich, wie schlimm die innerlichen, nicht so leicht erkennbaren Wunden schmerzen und eben nicht verheilen.

Es sind die kleinen Einschränkungen des Alltags, an denen sich tagtäglich die Auswirkungen eines jahrelang zurückliegenden Ereignisses zeigen. Die Ängste, beispielsweise im Dunkeln nach Hause zu laufen, bestimmte Texturen, die an den Tag erinnern, die alle in sich nicht schlimm sind, in der Summe jedoch lebensbestimmend werden. Immer wieder versucht sie, die Kontrolle zurückzugewinnen, es gelingt jedoch nur mäßig.

Es ist ein Buch, das sich nicht leicht aushalten lässt, das für manche Leserinnen wie ein Trigger für böse Erinnerungen wirken könnte und doch ist es wichtig, da es etwas zum Thema macht, über das gesprochen können werden muss. Das einen öffentlichen Raum braucht, damit es Opfern von Gewalttaten eben genau nicht geht wie der Protagonistin.

Bewertung vom 12.02.2023
Northern Spy - Die Jagd (eBook, ePUB)
Berry, Flynn

Northern Spy - Die Jagd (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein bewaffneter Überfall ist in Nordirland nichts Ungewöhnliches. Doch als die Journalistin Tessa die Aufnahmen des Vorfalls sieht, traut sie ihren Augen kaum: einer der Täter ist ihre Schwester Marian. Das kann nicht sein. Die Rettungssanitäterin kämpft für Menschenleben und würde sie nie riskieren. Und schon gar nicht ist sie Mitglied der IRA. Doch Tessa muss erkennen, dass sie nur eine Seite von Marian kannte und diese ihr eine andere offenbar über Jahre erfolgreich verschwiegen hat. Die junge Mutter wird vor eine schwere Entscheidung zwischen Familie und Idealen gestellt, die sie und ihren Sohn in größte Gefahr bringen.

Für ihren Debütroman wurde die amerikanische Autorin Flynn Berry mit dem Edgar Award ausgezeichnet, dem bedeutendsten Preis für Kriminalromane. „Northern Spy“ ist ihr dritter Roman, der geschickt die politische Lage in Nordirland mit der persönlichen Geschichte der zwei Schwestern verbindet.

Niemand ist unpolitisch in Nordirland. Selbst wenn man sich nicht positionieren will, hat man doch gewisse Pubs, die man besucht, und ein Umfeld, dass klar der einen oder anderen Seite zuzuordnen ist. Neutralität gibt es nicht, auch wenn Tessa und ihre Familie das lange Zeit glauben. Mit dem Überfall und der zweifelsfreien Zuordnung von Marian zur IRA scheinen sowieso alle Fragen beantwortet. Auch die Folgen bekommen Tessa und ihre Mutter unmittelbar zu spüren, nicht nur die Befragung durch die Polizei, sondern auch die beruflichen Konsequenzen, die sie für das Handeln Marians tragen müssen, lassen sie für das Handeln Marians bezahlen.

Die Autorin bietet einige Überraschungen, die jedoch immer auch einen Funken Zweifel mit sich schwingen lassen. Sagen die Figuren die Wahrheit oder spielen sie doch nur eine Rolle? Zwischen Freund und Feind, Agent und Doppelagent scheint lange alles möglich.

Ein spannungsreicher Krimi, der mehr auf der persönlichen Ebene als auf der politischen spielt. Der Konflikt zwischen den katholischen Nordiren und den englischen Besatzern liefert nur die Kulisse und wird durch das persönliche Schicksal überlagert. Daher sicher kein politischer Roman, sondern eher einer, der psychologisch von den Figuren viel abverlangt.

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Bewertung vom 29.01.2023
Die Perfektionen
Latronico, Vincenzo

Die Perfektionen


ausgezeichnet

Anna und Tom kommen nach Berlin. Es ist die Zeit, als es viele aus aller Herren Länder in die deutsche Hauptstadt zieht. Sie finden günstige Wohnungen und arbeiten freiberuflich an ihren Laptops in Cafés. Zwischen Kunstgalerien und Nachtclubs verwischen Arbeit und Privatleben und alles scheint für die 20 bis 30-Jährigen möglich. Nur gelegentlich kommt der Gedanke an die Heimat, die man zurückgelassen hat. Der Freundes- und Bekanntenkreis ist in Dauerbewegung, neue kommen hinzu, andere verschwinden. Doch langsam verändert sich die Stadt und irgendwann beginnen auch Anna und Tom darüber nachzudenken, ob das noch das Leben ist, wie sie es sich vorgestellt haben.

Der Italiener Vincenzo Latronico ist Autor und Übersetzer und lebt selbst in Berlin. „Die Perfektionen“ ist sein zweiter Roman und eine Hommage an seine Wahlheimat. In starken Bildern fängt er eine inzwischen schon wieder vergangene Zeit und ein Lebensgefühl einer ganzen Generation ein.

„In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen.“

Mit hübschen Bildern zeichnen sie online ein Bild von ihrem Leben, das mehr Fassade als Realität ist. Ein Scheinleben online wie offline in einer Stadt, deren Sprache sie kaum sprechen und in der sie nie wirklich ankommen, geschweige denn in das Leben der Deutschen eindringen. Alle, die sie kennen, sind Expats wie sie selbst, die denselben Lebensstil pflegen, jung und mobil sind, die globalen englischsprachigen Nachrichten verfolgen, aber nichts von den Vorfällen oder Sorgen um die Ecke wissen.

Es braucht ein extremes Ereignis wie die Ankunft tausender Geflüchteter im Jahr 2015, damit sie etwas von dem Leben in der Stadt mitbekommen und ihre Blase kurzzeitig verlassen. Doch auch das bleibt eine kurze Momentaufnahme und ist schnell schon wieder vergessen.

Es sind vor allem die präzisen Beschreibungen, die den kurzen Roman zu einem herausragenden Leseerlebnis machen. Poetisch und doch präzise lässt Vincenzo Latronico konkrete Bilder vor dem inneren Auge aufsteigen und den Leser darin versinken.

Bewertung vom 18.12.2022
Für ein fittes Immunsystem
Hutterer, Dr. Christine

Für ein fittes Immunsystem


ausgezeichnet

Nicht erst in Zeiten einer Tripledemie aus Covid, Grippe und RS-Viren fragt man sich, wie man das Immunsystem dabei unterstützen kann, seinen Job zu machen und all das, was uns krank macht, erfolgreich abzuwehren. Aber auch jenseits akuter Bedrohungen kann es ja nicht schaden, den Körper und die Abwehrkräfte zu stärken.

Die Biologin Christine Hutterer hat dazu das Wichtigste kurz und knapp zusammengestellt. Auf rund 150 Seiten findet sich ein knackiger Überblick darüber, wie man im Alltag vorsorgen kann. Nach der Erläuterung der Funktionsweise adressiert sie verschiedene Bereiche wie Stress, Sport und Ernährung. Dabei wird praxisnah Hilfestellung gegeben, wie man nach einem Selbstcheck mittels Listen mit kleinen Veränderungen bereits etwas bewirken kann.

Der Ratgeber liest sich leicht ohne zu viel Fachvokabular, wichtige Hinweise sind optisch hervorgehoben. Die Informationen sind kurz, prägnant und alltagsnah, so dass man sie tatsächlich anwenden kann. Viele Mythen werden kurz erläutert, ebenso wird erläutert, wo es noch Forschungsbedarf gibt, um Wirkweisen tatsächlich nachzuweisen. Wenn man sich mit der Thematik ohnehin auseinandersetzt, bietet das Buch nicht viel Neues, auch ist die fachliche Tiefe notwendigerweise begrenzt.

Daher würde ich es eher jenen Lesern empfehlen, die einen schnellen und kompakten Überblick zur Orientierung ohne zu viel Gerede wünschen und schnell umsetzbare Tipps suchen.

Bewertung vom 06.12.2022
Happy New Year - Zwei Familien, ein Albtraum
Stehn, Malin

Happy New Year - Zwei Familien, ein Albtraum


ausgezeichnet

Silvester, letzter Tag des Jahres und die Chance, dass im neuen alles besser wird. Doch für die Familien von Lollo und Max und ihren Freunden Fredrik und Nina endet die Nacht im schlimmsten Horror. Ihre Töchter feiern eine Party, am Ende ist eine davon tot. Die Eltern zwischen Vorwürfen und Schuldgefühlen. Haben sie ihre Kinder nicht ausreichend beschützt? Oder tragen sie sogar Schuld? Denn plötzlich drohen alte Geheimnisse ans Licht zu kommen und Gewissheiten zu erschüttern.

Die schwedische Autorin und Übersetzerin Malin Stehn ist in ihrer Heimat vor allem durch Kinder- und Jugendbücher bekannt geworden. Mit „Happy New Year“ wagt sie sich ins Spannungsgenre und kann unmittelbar überzeugen. Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie die Geschichte, die immer ein paar Lücken lässt und so Raum für Spekulation eröffnet und die Spannung steigert.

Happy, glücklich, ist leider keine der Figuren. Alle tragen sie ihr Päckchen, stecken fest in verfahrenen Beziehungen, haben den Kontakt zueinander verloren. Ein schreckliches Verbrechen bringt sie auch nicht wieder zusammen, sondern lässt sie noch weiter voneinander entfernen. Die Perspektivwechsel erlauben einen Einblick in die Gedanken und Zweifel der Figuren. Bald scheint alles möglich, jeder zu allem fähig, keine noch so schreckliche Tat mehr unvorstellbar.

Eine spannende Geschichte, die alle Abgründe der menschlichen Natur an die Oberfläche spült und zeigt, wozu Rache fähig.

Bewertung vom 06.11.2022
Unschuld
Würger, Takis

Unschuld


ausgezeichnet

Fünfunddreißig Tage, etwas mehr als einen Monat noch hat Molly Carver, um die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Dieser sitzt im Todestrakt und soll hingerichtet werden. Für einen Mord, den er nicht begangen hat, da ist sich Molly sicher. Ihr bleibt nur eine einzige Chance: sie muss nach Rosendale, wo sie als kleines Kind lebte und direkt in das Auge des Orkans: in die Familie, die dem Ort den Namen gab und deren Sohn Casper zehn Jahre zuvor erschossen wurde. Nur bei der Familie selbst kann die Wahrheit liegen. Ihre Tarnung als Hausmädchen und Journalistin fliegt sofort auf, doch wundersamer Weise sie darf bleiben.

Takis Würgers Roman „Unschuld“ ist eigentlich nach sehr schematischen, vorhersehbaren Strukturen klassisch als Krimi aufgebaut: der angenommenen Unschuld eines unheilbar kranken Mannes, der hingerichtet werden soll; seine Tochter, die in letzter Minute versucht die Wahrheit herauszufinden, um ihn zu retten; eine verquere Familie voller Geheimnisse, bei denen offenkundig der Schlüssel zu den Geschehnissen zehn Jahre zuvor liegt. Und doch liest sich die Geschichte, in der man sofort weiß, wer gut und wer böse ist, nicht wie ein klassischer Krimi.

Man ahnt vom Beginn an, wie alles ausgehen wird. Man erkennt die Motive, kann vorhersehen, welche Wendungen die Figuren erst noch für sich aufdecken müssen. Nichts überrascht wirklich, der Spannungsbogen ist schön gestrickt, wie man es erwarten würde. All das und doch packt einem Takis Würger, entfaltet die Geschichte einen Sog, liest man einfach weiter, will man nicht aufhören, bis die Unschuld endlich bewiesen ist.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, nur 300 Seiten Unterhaltung in dem Roman zu sehen. Das verhindert der Autor zudem mit dem Nachwort, wenn es dem Leser nicht schon vorher als fader Beigeschmack bewusst geworden ist. Molly und ihr Vater bilden das untere Ende der amerikanischen Gesellschaft, Aufstieg ist eine Illusion, es kann nur noch weiter bergab gehen. Der Todestrakt und die unheilbare Huntington Krankheit scheinen das natürliche Schicksal des Vaters zu sein.

Im Kontrast dazu die Rosendales, einst in einer Liga mit den Rockefellers können sie sich alles erlauben. Sich freikaufen. Die Regeln bestimmen, die nur zu ihren Gunsten aufgestellt werden. Dass sie ihr eigenes Leben nicht leben, sondern nur mit Medikamenten und esoterischen Retreats aushalten, passt ebenso ins Bild, wie die Vernarrtheit in Waffen und die großzügige Unterstützung der NRA. Doch auch sie sind vom Schicksal verdammt, können vermeintlich den finalen Todesstoß hinausschieben, dabei sind sie schon lange innerlich tot.

Takis Würger zeichnet ein dunkles Bild der gegenwärtigen USA. Es ist nicht mehr das Land der Träume, in dem jeder alles erreichen kann. Es ist ein Sumpf, in dem schon lange moralische Orientierung und Werte versunken sind. So moralinsauer das klingen mag, kommt es aber in der Handlung nicht daher. Beiläufig lässt der Autor die großen Probleme der amerikanischen Gesellschaft aufblitzen, die jedoch zu Ursache und Treiber der Handlung werden.

Ein Roman, dessen Relevanz sich aus der Nähe zu einer brutalen und schonungslosen Realität ergibt.

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