Es ist eine junge, schöne Frau, die sich in den Körper, die Gedanken, die Befindlichkeiten einer sehr Alten, ca. 90 Jährigen, begibt, und damit zeigt, dass die körperliche Zerbrechlichkeit, die Beschäftigung mit der eigenen Vergänglichkeit, Verletzlichkeiten und Ängste uns ein Leben lang begleiten –
nur kommt bei Baba Dunja eine gewisse Form der Furchtlosigkeit und Gelassenheit hinzu.
Eine…mehrEs ist eine junge, schöne Frau, die sich in den Körper, die Gedanken, die Befindlichkeiten einer sehr Alten, ca. 90 Jährigen, begibt, und damit zeigt, dass die körperliche Zerbrechlichkeit, die Beschäftigung mit der eigenen Vergänglichkeit, Verletzlichkeiten und Ängste uns ein Leben lang begleiten – nur kommt bei Baba Dunja eine gewisse Form der Furchtlosigkeit und Gelassenheit hinzu.
Eine Gelassenheit, die sie immer wieder sagen lässt, dass ihr großes Altersglück darin besteht, selbstbestimmt leben zu können (Brecht: Die unwürdige Greisin). Dabei ist sie bescheiden und respektiert ihre Grenzen. Aber sie respektiert nicht nur die eigenen, sondern auch die der anderen. Die wenigen Menschen, die es „nach dem Reaktor“, wie Baba die atomare Katastrophe nennt, verschlagen hat, leben jeder für sich, und scheinen damit ganz zufrieden zu sein.
Der Kontakt zur Außenwelt ist gleich Null, das Telefon funktioniert höchstens einmal im Jahr, die Bushaltestelle erfordert einen mühsamen Marsch vom Ort aus – nur die dringendsten Einkäufe, die neben der Selbstversorgung aus dem Garten mit seinen erschreckend monströsen Gemüsen anfallen, und das Abholen der Post machen einen Besuch in der nächstgelegenen Stadt gelegentlich notwendig. Und nach den Laboranten und Gutachtern, die das Dorf „nach dem Reaktor“ vermaßen, kategorisierten und seine Grenzen zur „sauberen“ Umwelt absteckten wie die eines Claims, kam kein Fremder mehr hierher.
Ihre Tochter trifft Baba sehr selten. Irina ist Ärztin, verheiratet und hat eine Tochter, die Baba nur von Fotos kennt. Und sehr liebt. Vor Kurzem hat sie einen Brief von ihr bekommen, den sie aber nicht lesen kann. Ansonsten ist sie noch weniger ein Wesen aus Fleisch und Blut für sie als die Toten, die Babas Leben bevölkern. Die hat sie immerhin erlebt. Diese Toten sind trotz ihrer durchscheinenden Gestalt erstaunlich lebendig. Wie gut, möchte man fast sagen, dass Baba Dunja sie um sich hat. Vor allem ihren Mann, der im Leben ein rechter Tunichtgut war und nun ein Freund und manchmal sogar Ratgeber.
Baba Dunja hat nach einem langen anstrengenden Leben als Krankenschwester und Mutter, die sich praktisch allein um die Erziehung ihrer beiden Kinder gekümmert hat, diesen nun recht einsamen und gefährlichen Ort ihrer Vergangenheit aufgesucht. Sie sagt, dass sie hier wieder sie selbst sein kann. Sie fühlt sich frei. Sie hat sich von allem emanzipiert, auch von ihren Kindern. Es ist ihr altes Zuhause, sie kann endlich so leben, wie sie möchte. Sie kann sich in Ruhe ihren Gedanken hingeben, alles, was sie sieht oder hört, ist Anlass nachzudenken, löst Erinnerungen aus.
Und dann, ungefähr nach einem Drittel des Romans, kommt der Umschwung, wechselt die Geschichte ihr Tempo: sie ist nicht mehr länger eine sehr anschauliche, oft humorvolle, manchmal witzige und stilistisch gelungene Schilderung Babas inmitten der wenigen ziemlich ungewöhnlichen und sehr lebendig geschilderten Menschen, sondern es passiert plötzlich etwas, das uns fast mit ihr zusammen in die Gegenwart versetzt. In diesen so schaurig friedlichen Ort, in dem selbst Spinnen eindrucksvollere Netze weben als andernorts, und die Vögel lauter singen, bricht das Böse von außen ein. „Bei uns gibt es keine Zeit … unsere täglichen Abläufe sind eine Art Spiel“. Aus diesem Spiel herausgerissen wird Baba, als sie ins Gefängnis kommt. Doch sie überlebt auch dieses und kommt – fast – heil nach Hause.
„Man hat ihm ziemlich viele Organe rausgenommen“ – mit diesen fast unscheinbaren wenigen Worten beschreibt sie in einem Nebensatz einen ihrer Nachbarn – und beschreibt doch auch gleichzeitig die Folgen einer atomaren Katastrophe. Der Autorin ist es gelungen, den Roman zu einem sehr beeindruckenden Beispiel von nicht anklägerischen aber auch nicht verheimlichenden Lebensumständen nach Tschernobyl zu machen, ohne dass dieser Ort lediglich zu einer Hintergrundfolie wird.