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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Corona-Roman des John von Düffel
Laut der Palliativmedizinerin und Sterbebegleiterin Kathi Kuhn in John von Düffels neuem Roman gibt es zwei Arten von Sterbenden, die Wütenden und die Schuldigen, was nicht unbedingt ein Gegensatz sein muss. Im Mittelpunkt der Familiengeschichte steht der sterbende Großvater Richard, der nach der Wende als protestantischer Pfarrer in die Uckermark gegangen ist, ohne dass ihm Gottes Botschaft noch etwas sagen würde. Um ihn herum lebt eine diffuse Familie, alle sind einsam und isoliert, die Familienbande geborsten.
Es ist die Zeit des ersten Lockdowns in der Corona-Krise. Maria, die Schwiegertochter von Richard, muss als Ärztin der Charité in Quarantäne, der Sohn von Richard, Marias Mann, lebt nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie, der Sohn der beiden, Jakob, ist ein gescheiterter Kunststudent, seine Schwester Selma leidet darunter, dass sie nie Anerkennung in der Familie gefunden hat. So die Familienaufstellung, die personenweise im Roman durchdekliniert wird, Kapitel für Kapitel. Von Düffel ist ein versierter Theatermann, als Dramaturg wie als Dramatiker, Szene für Szene treten seine Figuren auf die Bühne und verlassen sie wieder, allerdings ohne inneren Zusammenhang - oder nur mit einem sehr lockeren.
Von Düffel hat keinen Corona-Roman geschrieben, das Ereignis, obwohl es alle Familienverhältnisse durcheinandergerüttelt hat, bleibt merkwürdig schemenhaft im Hintergrund der Geschehnisse. Der angehende Künstler Jakob gesteht: "Wie auch immer, das kulturell schwarze Loch ist Tatsache und flächendeckend. Was tendenziell diejenigen härter trifft, die etwas zu verlieren haben oder hatten, als beispielsweise mich, der ich schon vor der Krise in der Krise war. Für mich war Runterfahren, zugegeben, kein besonders tiefer Fall, ich war ja im Prinzip am Boden. Aber jetzt, wo die Kultur auf null ist, sitzen wir wieder im selben Boot. Jetzt sind wir alle gleich unwichtig, gleich unsichtbar, gleich isoliert. Wenn wir uns jetzt zusammentun, uns gegenseitig helfen, ideell, materiell, solidarisch, dann können wir zeigen, dass es uns noch gibt, und unsere Relevanz zurückerobern mit Phantasie und Relevanz."
Aber keines der Familienmitglieder vermag sein Leben neu oder anders zu gestalten. Maria lernt in ihrer Quarantäne im Stockwerk über ihrer Wohnung, aus der sie flieht, weil ihr Sohn wieder einziehen will, einen geheimnisvollen Rabbiner kennen, dem sie ihre Familiengeschichte anvertraut. Eine Geschichte für sich, die nicht in den Verlauf des Romans passt oder sich einfügen lässt. Und eine Geschichte für sich ist auch das Liebesverhältnis ihres Sohnes Jakob zu einer Kunstprofessorin, für die er Modell steht und die liebevoll ausdrucksstark seinen Penis in Farbe auf die Leinwand bringt und sich zum Schluss überraschend als Drogenkurierin entpuppt. Auch eine bizarre Geschichte.
Die Schwester Selma hat in der Uckermark eine seltsame Begegnung mit der Dorfjugend und versucht in der Kirche ein Digitalprojekt, das nicht gelingt. Zwei schwarze Katzen als Todesboten streunen um den sterbenden Richard herum, der aber bis zum Ende des Romans nicht sterben will, obwohl die Palliativmedizinerin für ihn einen vollen Koffer mit Opioiden mitgebracht hat. Richard braucht aber nichts gegen die Krebsschmerzen, er braucht etwas gegen die Erinnerung.
Keine der Personen aus diesem Familienkaleidoskop gewinnt wirklich Statur und Farbe. Alle bleiben blass. Wut und Schuld sind Etiketten, sie stürzen die Akteure nicht in Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit, da stecken sie eh schon drin. Zwar werden alle Themen angesprochen: Liebe, Tod, Hass und Einsamkeit, Erinnerungsverluste, aber nie führt es in die Tiefe. Die Familie findet nirgends zusammen, sie reiben sich nicht einmal aneinander, alle bleiben Monaden. Jede Person hat eine eigene Geschichte, die nicht kompatibel ist mit denen der anderen.
John von Düffel ist als Dramatiker wie als Romanautor ein genauer Beobachter der gesellschaftlichen Gegenwart; wie ein Seismograph versteht er es, Gefühls- und Denkwelten literarisch auszumalen. Vielleicht war bei diesem Roman die Verführung zu groß, auf dem Hintergrund von Corona schnell zur Stelle sein zu wollen und die Kruditäten der Pandemie zu beleuchten. Das ist ihm leider nicht gelungen. LERKE VON SAALFELD
John von Düffel: "Die Wütenden und die Schuldigen". Roman.
Dumont Verlag,
Köln 2021. 314 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John von Düffel zieht es in seinem Lockdown-Roman „Die Wütenden und die Schuldigen“ zurück zu den ganz großen Fragen des Lebens
Lockdown, was für ein ungutes Wort und was für eine unliebsame, alles prägende reale Erfahrung, die gleichzeitig um die Einsicht in die Notwendigkeit weiß, so freudlos sie auch ist. Zahllose Reportagen und Berichte aus allen gesellschaftlichen Schichten haben von den fatalen Auswirkungen berichtet. Ein Roman könnte das vielleicht noch dichter, eindringlicher und beispielhafter erzählen. In John von Düffels neuem Buch „Die Wütenden und die Schuldigen“ wird das probiert.
Ein Personenreigen wird hier vorgestellt, in dem es sich für jede und jeden dramatisch zuspitzt und das vor dem Hintergrund des Lockdowns im Frühjahr 2020: Richard, einst Pfarrer, ist der Vater, der schwer krebskrank noch mit seinem Sohn Holger, der nach einem Suizidversuch in einer Klinik liegt, ins Reine kommen will; Holgers Tochter heißt Selma, die trotz aller Selbstverteidigungskenntnisse in die Falle eines scheinbar netten Vergewaltigers, des „Schneidezahnlosen“, tappt und ihm die Zungenspitze abbeißt; Holgers Sohn Jakob ist unglücklich in seine Kunstprofessorin Milena verliebt, die sein Ungeschick lasziv nutzt, und war einst mit Ilvy liiert, die jetzt mit Henk, dem Drogendealer, zusammen ist; Maria, die Mutter von Jakob und Selma, arbeitet in der Charité als Anästhesistin, sitzt in der Isolation und kommt mit dem über ihr wohnenden Rabbi ins tiefenpsychologische Gespräch.
John von Düffel erzählt diese Geschichten, Vor- und Verstellungen seiner Protagonisten befremdend mühelos in einer gelenkigen Beiläufigkeit, die kaltlässt und leider kaum in die Tiefe dieser Familiendramen zieht. Nun könnte Kälte wiederum durchaus ein angemessenes Mittel sein, um die Personen gleichsam sezierend in ihren Wünschen und in ihren seelischen Mängeln, ihren Lebensentwürfen und ihrem jeweiligen Scheitern zu beschreiben. Doch bei John von Düffel kann von einer Routiniertheit des Schreibens gesprochen werden, die alle in gleicher gewissermaßen neutraler Distanz hält.
So stehen die Figuren unerreichbar nebeneinander wie Versuchskaninchen, und beim Lesen will sich nicht jene gesteigerte Teilnahme am Schicksal der Personen und deren möglichen Entwicklungen einstellen, die Papierentwürfen zum literarischen Leben verhelfen kann. Stattdessen liest es sich nur brav von Figur zu Figur in ihrer jeweiligen Situation. Natürlich weiß John von Düffel, die jeweilige Problemlage eng zu führen, einem wie immer gearteten Höhe- oder Tiefpunkt entgegen, aber man mag es kaum als Steigerung wohin auch immer empfinden.
Auch der Lockdown, vor dem doch diese Familie inszeniert wird, wirkt eher wie eine behauptete Vorgabe als jenes in der Erfahrungswelt des Landes bis dahin einmalige Ereignis, das alle Bürger im Laufe der Jahre 2020/21 gleich mehrfach erleben mussten, ob gewollt oder nicht. Hier gehört es eher als Detail zur Versuchsanordnung, die von Düffel durchaus wortreich zu beschreiben vermag. Der Roman ist dabei in drei Teile geordnet, nach dem Prinzip vom äußerlichen Erlebnis zu den großen Fragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir, wie kann ich meine Schuld so bereuen, dass es der von ihr Betroffene möglichst positiv mitbekommt? Aus dem Zusammentreffen mit dem Rabbi wird für Maria ein Selbsterforschungsgespräch, aus dem sie – wenigstens glaubt sie das – klarsichtiger und sich und ihre Familie besser verstehend hervorgeht. Doch Kathi, die Freundin der Familie, weist Maria darauf hin, dass ihre Tochter Selma immer zu wenig beachtet wurde, Jakob stets bevorzugt die Aufmerksamkeit bekommen hat. Ob bei solchen innerfamiliären Gemengelagen nun Lockdown herrscht oder nicht, spielt allerdings kaum eine Rolle.
John von Düffel spricht davon, dass es Zeit sei, „zu den großen Fragen zurückzukehren“. Und manchmal gelingen ihm in dieser Richtung ganz hübsche Bonmots. „Nach dem Tod, hatte der Rabbi einmal zu ihr gesagt, kämen weder Himmel noch Hölle, sondern die Realität.“ Doch so ernsthaft und gewichtig dieses Buch gedacht sein mag, es kommt leider allzu selten über eine Familienaufstellung hinaus.
HARALD EGGEBRECHT
Wie kann ich so bereuen, dass
es der Betroffene möglichst
positiv mitbekommt?
John von Düffel:
Die Wütenden und die Schuldigen. Roman.
Dumont Verlag, Köln 2021. 320 Seiten, 22 Euro.
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