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amara5

Bewertungen

Insgesamt 116 Bewertungen
Bewertung vom 26.04.2024
Mit den Jahren
Steenfatt, Janna

Mit den Jahren


sehr gut

Episoden eines Lebens
Janna Steenfatt beschreibt in ihrem zweiten Roman „Mit den Jahren” auf feinfühlig-kluge Weise die verschiedenen Lebensentwürfe und intimen Augenblicke dreier Menschen in ihren 40er-Jahren in Leipzig. Dabei verweben sich ihre Wege und es bildet sich eine spannende Dreier-Konstellation, bei der unterschiedlichste Ängste, Wünsche und Vorprägungen intensiv aufeinanderprallen.

Der Künstler Lukuas und die Lehrerin Eva sind seit knapp 20 Jahren ein Paar, verheiratet, haben zwei Kinder und haben sich in ihrem Leben soweit eingerichtet – trotzdem ist ihr Zusammensein von stiller Einsamkeit, unerfüllten Sehnsüchten und Unausgesprochenem belastet. Lukas verbringt neben seiner Arbeit im Atelier zu Evas Missgunst viel Zeit in seiner Lieblingskneipe und trifft dort auf die unabhängige Jette – sie ist Single, hat prekäre Arbeitsverhältnisse, möchte ein Buch schreiben und steht eigentlich auf Frauen. Es entwickelt sich eine zaghafte Affäre mit Auf und Abs, aus der jeder verändert hervorgeht und die viele reflektierende Gedankengänge in jedem der drei Protagonisten lostritt – und auch Eva wird Jette kennenlernen.

Janna Steenfatt gelingt es auf eindringliche Art, in jede ihrer drei Figuren tief einzutauchen und die facettenreiche Seelenwelt aus der jeweiligen Perspektive aufzublättern – kleine, feine, aneinandergereihte Augenblicke untermalen die Zweifel und vielschichtigen Reflexionen von Lukas, Eva und Jette, während alle mit ihrem bisherigen Leben zweifeln und sich fragen, ob ein anderes nicht besser wäre. Ausbrechen oder Bleiben? Gedanken, die bestimmt viele in ihren 40er-Jahren kennen und sich wiedererkennen werden. Dabei bleibt Steenfatt stets subtil humorvoll und keineswegs larmoyant, wenn sie die Irrungen und Wirrungen ihrer dicht ausgearbeiteten Protagonisten nachzeichnet.

Ein realitätsnaher, authentischer und lesenswerter Roman mit vielen schlauen Gedanken und eindringlichen Szenen aus dem (Beziehungs-) und (Arbeits-)Leben, das gekonnt und faszinierend mit den individuellen Lebenskonzepten jongliert.

Bewertung vom 03.04.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Echo der Vorfahren
Mirrianne Mahns eindringlicher Debütroman „Issa“ spannt einen weiten, generationsübergreifenden Bogen um starke Frauen aus Kamerun und einer jungen Protagonistin aus Deutschland, die zwischen den Kulturen hin und hergerissen ist und trotzdem sehr feinfühlig den Ruf ihrer Ahninnen hört und folgt. Dabei taucht sie szenisch dicht nicht nur in Kameruns Geschichte und Kultur, sondern auch in familiäre Traumata, aber auch in eine kraftvolle Resilienz, die ihre Wurzeln im weiblichen Zusammenhalt hat.

Die schwangere Issa hat ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrem Freund – sehr angespannt sitzt sie zu Beginn des Romans im Flugzeug nach Kamerun, um ihrer Mutter den Wunsch zu erfüllen, das ungeborene Kind durch ein Ritual zu schützen. Zwar hat sie die ersten Jahre ihres Lebens dort verbracht, spricht aber die Sprache nicht vollständig und ist erstmal überwältigt von der Anzahl ihrer Verwandten und deren kulturellen Glaubenssätzen. Es stehen noch einige Hürden bis zum Vollzug des Rituals an und Issa taucht tief in die Welt ihrer mutigen Ahninnen ein. Dabei verwebt Mirrianne Mahn eine kluge, bewegende zweite Erzählebene, in der sie atmosphärisch in die gewaltvolle Kolonialzeit eintaucht, um das packende Schicksal ihrer Urgroßmutter und deren Mutter zu erzählen. Fließend und über eine Zeitspanne von fast 100 Jahren folgen die weiteren turbulenten Lebenslinien ihrer Großmutter und Mutter, die Issa auch in sich erkennt.

So wechseln die lebhaften, teils humorvollen Szenen aus Issas Reise nach Kamerun mit ergreifenden Szenen aus der Vergangenheit, in der die Frauen um ihre Selbstbestimmtheit mehr als kämpfen und viel Leid ertragen mussten. Präzise ist dabei auch der Übergang gelungen, wie die Rituale und Spiritualität weitergegeben wurden bis in die Gegenwart und wie die Vorfahren das Heute weiter beeinflussen. Und Issa beginnt sich auf ihrer Reise zu verändern, blickt tief in ihre zerrissene Seele und in die ihrer weiblichen Vorgängerinnen, die trotz schmerzvoller Erlebnisse nie ihren Lebensmut und Willensstärke verloren haben.

Ein außergewöhnlicher, kraftvoller und tiefgründiger Familienroman, der soghaft in Issas bewegende Selbsterkundung und gleichzeitig in andere kulturelle und historische Kontexte entführt, ohne wichtige Themen der Gegenwart zu verlieren.

Bewertung vom 19.03.2024
Elyssa, Königin von Karthago
Vallejo, Irene

Elyssa, Königin von Karthago


gut

Orakel der Götter
Die spanische Autorin Irene Vallejo beweist in ihrem neuen Roman „Elyssa – Königin von Karthago“ erneut ihr Talent, antike Stoffe in modernes Gewand zu kleiden und erzählt einen tragischen, griechischen Mythos neu.

Eines Tages stranden in Karthago Schiffbrüchige, unter denen auch der Held Aeneas verweilt – die charakterstarke Königin Elyssa ist verwitwet und nimmt ihn bei sich auf. Es entsteht eine schicksalshafte, leidenschaftliche Liebe, die besonders Elyssa trifft. Aeneas bringt seinen Sohn Iulus mit und hat immer noch traumatische Erlebnisse an das brennende Troja und seine zurückgelassene Frau. Als sich in Karthago neben den Intrigen ein weiterer Krieg und Verschiebungen der Machtverhältnisse anbahnen, trifft Aeneas eine folgenschwere Entscheidung.

Irene Vallejo komponiert ihre Erzählung klug und vielstimmig, denn es kommen mehrere Protagonisten zum Schildern ihrer eindringlichen, sich langsam aufbauenden Perspektive – neben Elyssa und Aeneas sind das der Gott Zeus sowie der römische Dichter Vergil (70-19 v. Chr.), der mit seinem Epos „Aeneis“ einst die Grundlage des Romans geschaffen hat, sowie die mystische Seherin Anna.

Die Autorin erschafft mit ihrem packenden, ruhig gehaltenen Schreibstil und ihrer dichten Atmosphäre einen Brücke zwischen Antike und Moderne und lässt viele mystische Elemente einfließen. Stets schwebt über der Liebe ein Damoklesschwert, denn die Prophezeiungen und Orakel der Götter haben trotz Zeus' Bemühungen andere Vorhaben. So nimmt der unterhaltsam-abenteuerreiche Roman nach mehreren Wendungen ein spannendes Ende und macht neugierig auf mehr griechische Mythen.

Bewertung vom 13.03.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Grandiose Hommage
Der preisgekrönte Autor Percival Everett erzählt die „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ raffiniert neu und erschafft damit ein kluges, präzise durchdachtes Meisterwerk, das bewegend die Stimme des Sklavenjungen Jim (James) in den Vordergrund rückt – dabei verwebt Everett brutale Szenen mit ausgeklügelter Lakonie.

Die Eckpfeiler des Romans von Mark Twain aus dem Jahr 1884 stimmen auch in „James“ überein – voller Abenteuer ziehen Jim und Huck kurz vor dem Bürgerkrieg auf dem wilden Mississippi ihre verschlungenen Bahnen, aber eindringlich erzählt wird die Geschichte von Jim, der der barbarischen Sklaverei zwar entflohen ist, aber seine Frau und Tochter zurücklassen musste und ständig in Lebensgefahr schwebt. Huck wird von seinem Vater misshandelt und ist vor dieser häuslichen Gewalt ausgerissen. Jim ist ein sehr schlauer, belesener Kopf, der die Welt philosophisch betrachtet und seine Gedanken schriftlich festhält. Vor Weißen stellt er sich mit einem Dialekt absichtlich dumm, um nicht aufzufallen oder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenn es drauf ankommt, kann er Gewalt anwenden, auch wenn er sonst eher mit Empathie ausgestattet ist. Er wechselt permanent zwischen seinen zwei Seiten, die auch an den zwei Namen konkretisiert wird.

„Ich werde selbstverständlich empört sein. Aber mich interessiert, wie diese Zeichen, die ich auf dieses Blatt kratze, überhaupt etwas bedeuten können. Wenn sie eine Bedeutung haben können, dann kann auch das Leben eine Bedeutung haben, und dann kann auch ich eine Bedeutung haben.“ S. 62

Percival Everett hat mit „James“ nicht nur eine grandiose Hommage an Mark Twain sowie weiteren literarischen Klassikern, sondern auch eine schlaue und erschütternde Betrachtung auf Sklaverei, Rassismus und Ungerechtigkeit entworfen – Jims ergreifend-fesselnde und zugleich schwarzhumorige Reflexionen, Beobachtungen und Schilderungen werden zwar im Roman zeitlich um Jahre zurückversetzt, sind aber zeitgenössischer denn je. Mit Chuzpe und Mut reagiert Jim auf die gefährlichen Hindernisse der Reise wie Schlangenbisse, Betrüger oder Sklavenjäger und mit viel Cleverness meistert er eine packende Episode bei den Blackface-Sängern.

Der intelligente Roman mit viel Gesellschaftskritik endet mit einem fulminanten, überraschenden Finale und steckt auch zwischen den Zeilen voller Anspielungen auf literarische Figuren sowie unseren Interpretationen als Leser. Ein scharfsinniges, intensives Meisterwerk auf mehreren Ebenen!

Bewertung vom 08.02.2024
Die Hoffnung der Chani Kaufman
Harris, Eve

Die Hoffnung der Chani Kaufman


sehr gut

Regeln der Kehilla
Mit dem packenden Roman „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ setzt Autorin Eve Harris die Geschichte von Chani in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinde fort – bewegend, authentisch und teils trotz ernsten Themen mit einer Brise Humor zeigt sie einen tiefen Einblick in die sehr strengen Regeln einer orthodoxen Kehilla und zeichnet ein authentisches Bild voller starker Frauen.

Chani und ihr Ehemann Baruch sind glücklich verheiratet, leben nach den Vorgaben und Traditionen ihrer jüdischen Gemeinde und Baruch möchte Rabbiner werden. Zu den von den Männern vorgegebenen Regeln gehört, dass die Frau dem Mann Kinder schenken muss und die Empfängnis muss in der „reinen Zeit“ passieren. Doch Chani hat von Spezialisten erfahren, dass ihr Eisprung noch in der unreinen Phase entsteht und das gläubige Paar steht vor einer großen Gewissensfrage. Chanis schwierige Schwiegermutter wittert schon die Chance, die Zwei auseinanderzubringen und schmiedet Intrigen.

In weiteren Erzählsträngen schildert Harris ergreifend das turbulente Leben von Rivka, ihrem Mann Chaim und den Söhnen: Rivka hat die orthodoxe Gemeinde ohne ihre Kinder verlassen, was zu großen Auswirkungen geführt hat – Chaim muss sich scheiden lassen und eine neue Frau finden, während Rivka und ihr kleinster Sohn beschimpft und bedroht werden. Der älteste Sohn Avromi schlittert währenddessen in eine tiefe Glaubenskrise, möchte das moderne Leben mit Frauen in Einklang mit den rigiden Regeln bringen und nimmt sich eine Auszeit in Tel Aviv.

Der gelungene, feinfühlige Roman glänzt durch seine emotionale Bandbreite an menschlichen Gefühlen – die Protagonisten hoffen, zweifeln, beten und manche Frauen brechen selbstbestimmt aus den starren Zwängen aus. Mit vielen jiddischen Begriffen, die im hinteren Glossarteil erläutert werden, zeichnet Harris ein tiefgreifendes, dichtes Bild vom traditionellen Leben in einer orthodoxen Glaubensgemeinschaft mit allen Höhen und Tiefen. Eine lesenswerte, flüssig geschriebene Fortsetzung, die auch ohne den ersten Teil zu kennen verständlich ist und tief in den Lesesog zieht.

Bewertung vom 26.01.2024
OUTLIVE
Attia , Peter

OUTLIVE


sehr gut

Vitales Älterwerden
Der durch seine Gesundheit-Podcasts bekannte onkologische Arzt Peter Attia hat sein gesamtes Fachwissen zur Langlebigkeit nun auf über 600 Seiten in dem spannenden Sachbuch „Outlive“ zusammengetragen. Dabei geht es ihm nicht nur um das rigide Altwerden, sondern um eine vitale Lebensqualität mit einer langen Gesundheitsspanne im Alter.

In einer ausgewogenen Mischung aus fundiertem wissenschaftlichen Fachwissen und einer authentisch-persönlichen Ich-Perspektive mit zahlreichen Anekdoten aus dem Privat- und Arbeitsleben hat Peter Attia ein faszinierendes Nachschlagewerk geschaffen, das aufgrund seiner Fülle an wichtigen Informationen immer wieder zum Reinlesen inspiriert. In drei großen Teilen schildert er zuerst die Präventivmaßnahmen, die das Konzept der Medizin 3.0 bieten kann – leider als Laie teils kompliziert nachzuvollziehen und höchstwahrscheinlich schwierig, solche innovativen Untersuchungen beim ansässigen Hausarzt zu erhalten.

Danach stellt er die „großen apokalyptischen Reiter des Alterns“, sprich die tödlichen Zivilisationskrankheiten unserer modernen Gesellschaft vor (Krebs , Typ-2-Diabetes , Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer) – seine Schilderungen lesen sich soghaft und packend wie ein Kriminalroman und so dauert es auch nicht lange, bis Attia im letzten Hauptteil auf praxisnahe Lösungen für ein gesundes, langes Leben eingeht. Hier treffen sich alte Bekannte des gesunden Lebens wie adäquate Bewegung, Ernährung samt Diäten und Nahrungsergänzungsmittel, erholsamer Schlaf sowie die Bedeutung der psychisch-emotionalen Heilung und Gesundheit.

Obwohl hier einige Themenbereiche kein Neuland sind, besticht Attia auch hier mit seinen persönlichen Erfahrungen und einem feinfühligen Humor zwischen den Zeilen. Das macht diesen präzise recherchierten Leitfaden (mit langem Anhang) zu einem gesunden Älterwerden zugänglich sowie flüssig lesbar ohne erhobenen Zeigefinger und inspiriert nach der Lektüre, selbst die Fäden der Selbstfürsorge in die Hand zu nehmen und einige von Attias erläuterten Strategien motiviert anzugehen.

Bewertung vom 06.12.2023
Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?
Dinsing, Casy M.;Seul, Shirley Michaela

Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?


sehr gut

Wege zu Zweit
Die psychologische Beraterin Casy M. Dinsing erläutert in ihrem fundierten Ratgeber „Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?“ auf unterhaltsame Weise auf knapp über 200 Seiten typische Stolperfallen, in die eine Beziehung im Alltag schlittert, und wie man diese gemeinsam überwinden kann, bevor es zu einer endgültigen Trennung kommt.

In zahlreichen kompakten Kapiteln bündelt Dinsing eine ganze Bandbreite an Themen (überwiegend aus der weiblichen Perspektive) wie Arbeitsteilung, Ordnung, Eifersucht, Ängste, Selbstwert, Einkommen, Herkunftsfamilie und einiges mehr – dabei flechtet sie kurze, spannende Fallbeispiele aus ihrer Praxis und am Ende jedes Themenbereiches hilfreiche „Drei Fragen, die dich weiterbringen“ in einen Kasten mit ein. Stets liegt der interessante Augenmerk auf einer direkten Kommunikation, ehrlichen Selbstreflexion und auf einer Spiegelung der verschiedenen Sicht-/Denkweisen, was zu einleuchtenden Erkenntnissen führt, auch wenn die ein oder andere Stilisierung zu klischeehaft erscheinen mag. Sehr faszinierend sind Dinsings Schilderungen zu Mustern, Rollen und Glaubenssätzen in einer Beziehung gelungen – was bringen wir aus unserer Ursprungsfamilie mit und in welche wechselnden Rollen hüpfen wir in einer Beziehung?

Die Autorin hat einen sehr präzisen, humorvollen Schreibstil und ein großes psychologisches Fachwissen in Sachen Beziehungen, was die angesprochenen, teils sehr ernsten Themen sehr anschaulich, verständlich und locker lesen lässt. Casy M. Dinsing, die nebenbei noch einen empfehlenswerten Youtube-Kanal names „Better Call Casy“ betreibt, ist eine kluge Analystin von zwischenmenschlichen Verhaltensweisen in einer Paarbeziehung und sorgt in ihrem lesenswerten Ratgeber für einige Aha-Momente, die sie kurz und prägnant auf den Punkt bringt. Am Ende des Buches befindet sich noch ein Online-Zugang zu weiterführenden Übungsmaterialien, wobei der Ratgeber alleine schon sehr viele hilfreiche Tipps und Lösungsansätze gegen den Beziehungskollaps im Alltag bereithält, in denen sich sicherlich einige Leser*innen wiederfinden werden und die den eigenen Blickwinkel um den des Partners erweitern – damit der Weg zu Zweit respektvoll und harmonisch weitergeht.

Bewertung vom 24.11.2023
MARCO POLO Trendguide Wohin geht die Reise?

MARCO POLO Trendguide Wohin geht die Reise?


ausgezeichnet

Qual der Wahl
Im neuen MARCO POLO Trendguide 2024 „Wohin geht die Reise?“ werden auf knapp 200 Seiten überraschende Reiseziele zum (Wieder-)Entdecken vorgestellt – wunderschön-modern bebildert und präzise strukturiert werden nach den vier Kriterien Noch unentdeckt, Neuer Glanz, 2024 Erleben und Nachhaltig 30 faszinierende Ziele in Deutschland/Europa sowie zehn exotische Ziele weltweit vorgestellt.

Im handlichen und haptisch hochwertigen Format lädt der Trendguide ein, bekannte Ziele neu zu entdecken oder zeigt noch eher unentdeckte Reiseziele wie die schöne Insel Poel, das schweizerische Biel, die malerische Basilikata in Italien oder die traumhaften britischen Scilly-Inseln auf. Dabei helfen vorangestellte Register und Landkarten zur genauen Orientierung und nach jeder Vorstellung gibt es hilfreiche weiterführende Informationen zur Anreise, Reisezeit und Budgetplanung in einem kleinen Kasten. Die Vorstellungstexte sind flüssig und leicht verständlich geschrieben sowie in To Do und To See mit überraschenden Tipps versehen.

Auch kommen kleine Anekdoten zu den Städten wie der Hollywooddreh von Tarantino in Görlitz oder Darmstadts Namensinspiration für einen Planeten sowie eines chemischen Elementes nicht zu kurz. Darüber hinaus finden auch Abenteuer-Outdoor-Fans ihre Traumziele – der vorgestellte Transcaucasian Trail zwischen Armenien und Georgien, das Sharri-Gebirge zwischen Kosovo und Mazedonien sowie der kroatische Camino Krk laden zu traumhaft-außergewöhnlichen Wanderungen ein, während verschiedene märchenhafte Seen und Meere zum Baden motivieren. Und wieder stechen die grandiosen Bilder und das tolle Layout des kompakten Reiseführers ins Auge.

Ein sehr gelungener, inspirierender und facettenreicher Trendguide, der Städte, Inseln, Länder und Natur harmonisch verbindet und der dazu einlädt, immer wieder durchgeblättert zu werden, um sich traumhaft-frische Ziele für das kommende Jahr auszusuchen – die Qual der Wahl bleibt bei diesen 40 angesagten Trendzielen beim Leser.

Bewertung vom 27.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Kunst im Grauen
Der deutsch-österreichische Bestseller- Autor Daniel Kehlmann legt mit „Lichtspiel“ einen grandiosen Roman vor, in dem er biografische Eckdaten des großen Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) mit einer fiktiven Geschichte über das Überleben im Nationalsozialismus verbindet. Brillant komponiert, düster-lakonisch getroffen und absolut packend zeigt er, wie angepasste Kunst durch Unterwerfung unter der NS-Diktatur weiterlaufen kann und wie Menschen schleichend zu Mitläufern wurden.

Aus auktorialer und wechselnder Erzählperspektive schildert Daniel Lehmann, wie der gefeierte und links angehauchte Stummfilm-Regisseur („Die freudlose Gasse“, „Die Dreigroschenoper“ oder „Die weiße Hölle vom Piz Palü“) G.W. Pabst zuerst in Sicherheit „draußen“ im Exil in den USA war, dort aber keinen adäquaten Einstieg in die Filmbranche erhält. Zusammen mit seiner Frau Trude und seinem Sohn Jakob tut er das Unglaubliche und geht zurück ins angeschlossene Österreich – auch weil seine geliebte Mutter krank ist. Wieder „drinnen“ im Nationalsozialismus, werden bald die Grenzen geschlossen, der Zweite Weltkrieg beginnt und die Familie kann nicht wieder zurück – sie muss innerhalb des NS-Systems überleben und Pabst wird bald von Nazi-Propagandaminister Goebbels unter übler Androhung als Filmemacher rekrutiert. Schon bald fügt sich der Meister des Filmschnitts und G.W. Pabst will erneut große Kunst erschaffen.

„Die Zeiten sind immer seltsam. Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“

Finster, eindringlich und mit subtiler Lakonie zeigt sich, wie die Familie sich anpasst: Jakob wird selbst Jung-Nazi, Trude erliegt dem Alkohol, denn nur so erträgt sie die bitteren Begegnungen in ihrem Karrasch-Lesezirkel und Pabst arrangiert sich. Der Roman lebt von der faszinierenden, einzigartigen Sprache, den scharfsinnigen Beobachtungen und den filmischen Beschreibungen – jedes Kapitel ist perfekt aufgebaut und leuchtet zudem mit zahlreichen kinematografischen Details Pabst' Karriere auf. Als kleiner roter Faden dient sein Film „Der Fall Molander“, an dem Pabst besessen mitten im Krieg arbeitet und dessen Material zu Kriegsende verschwunden ist.

Es ist ein grauenhaftes, brutales Setting, in dem die Shoah beginnt und die Deutschen versuchen, durch Angepasstheit zu überleben. Und trotzdem gelingt Kehlmann das Unfassbare, auch ironischen Humor, böse Situationskomik, bizarr-groteske Szenen und große Spannung einzubinden – fast erscheint „Lichtspiel“ selbst als ein intensiv inszenierter Stummfilm, in dem die Protagonisten mit dem Böse ringen und ihre moralische Unschuld verlieren. Ein Highlight, in dem viele schaurige Szenen ergreifend nachhallen.

Bewertung vom 11.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


sehr gut

Der Erinnerungstourist
Mit seinem Debüt „Kajzer“ geht der kanadische Journalist und Autor Menachem Kaiser auf komplexe, persönliche und tiefgreifende Suche nach seiner Familiengeschichte und einem von den Nationalsozialisten enteigneten Haus in Sosnowiec im heutigen Polen. Dabei öffnet Kaiser Stück für Stück das packende Abenteuer der Erinnerung und des Erzählens, denn seine mit vielen Überraschungen gespickte Suche verläuft verschlungen und es ergeben sich immer weitere Geschichten hinter der eigentlichen Erzählung, die zu einem facettenreichen und packenden Gesamtnarrativ werden.

Menachem hat seinen Großvater, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat, durch dessen frühen Tod nie kennengelernt und auch mit seinem Vater wurde nie über die Geschichte gesprochen. Nur ein enteignetes Haus in Schlesien bleibt noch als symbolische Tür zur Erinnerung – jahrelang hat der Großvater darum gekämpft, das Eigentum zurückzubekommen, ist aber gescheitert. Nun macht sich Enkel Menachem mit Hilfe einer Anwältin als sogenannter Erinnerungstourist auf die abenteuerreiche Spurensuche des jüdischen Erbes seiner Ahnen in Polen und entdeckt dabei im Dickicht von unerwarteten Begegnungen, Bürokratie, Unausgesprochenem und weiteren historischen Plündereien sowie Mysterien viele weitere Geschichten und sogar einen unbekannten Verwandten, über die der Autor brillant reflektiert. Der Cousin seines Großvaters, Abraham Kajzer, war Holocaust-Überlebender und ein so faszinierender Vorfahre mit hinterlassenen Memoir-Aufzeichnungen, dass er Menachem zu einer eigenen Geschichte verknüpft, mit den Gemeinsamkeiten der Schatzsucher inspiriert. Dabei trifft er auch auf ominöse Verschwörungstheorien, die an Aktualität in der heutigen Zeit nicht an Brisanz verlieren und mündet schließlich in einer Erzählung des Verlustes, hinterfragt stets sein eigenes Handeln.

In vier Teilen erstreckt sich Menachems bewegende Suche über mehrere Jahre – trotz sehr ernstem Hintergrund erzählt der Autor mit satirisch-lakonischem Humor und spricht seine Leser*innen zwischendurch persönlich an, was seine klugen Gedanken zu Erbe, Erinnerungskultur, Familie und Verstrickungen sowie das Geschichtenerzählen an sich noch eindringlicher machen. Dabei webt er historische Eckpunkte, aber auch zahlreiche weitere Gedankengänge wie über Schatzsucher untertage in einem immensen Tunnelsystem ein.

Manchmal ergeben sich dadurch leichte Längen, aber insgesamt sind Kaisers Erkenntnisse ergreifend, philosophisch und scharfsinnig – kreisen sie über die menschliche Existenz und die Fähigkeit, sich durch Erinnerung und Familienerbe seine eigene, verschlungene Erzählung über das Leben zu erschaffen. Und hinter allem schwingt subtil das kollektive Traumata der Shoah mit. Ein nicht ganz einfaches, aber sehr kluges Sachbuch mit vielen Querverweisen und vielschichtigen Denkanstößen.