Ruth ist eine erfahrene Hebamme und Säuglingsschwester. Seit über zwanzig Jahren übt sie ihren Beruf mit Leidenschaft, Klugheit und viel Sachverstand aus. Turk sollte sich eigentlich glücklich schätzen, dass seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes von einer solch erfahrenen Kraft betreut wird.
Ist er aber nicht, denn Ruth hat für seinen Geschmack die falsche Hautfarbe. Sie ist…mehrRuth ist eine erfahrene Hebamme und Säuglingsschwester. Seit über zwanzig Jahren übt sie ihren Beruf mit Leidenschaft, Klugheit und viel Sachverstand aus. Turk sollte sich eigentlich glücklich schätzen, dass seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes von einer solch erfahrenen Kraft betreut wird. Ist er aber nicht, denn Ruth hat für seinen Geschmack die falsche Hautfarbe. Sie ist Afroamerikanerin und entspricht somit nicht dem arischen Bild des verblendeten jungen Mannes. Er äußert bei der Krankenhausleitung den Wunsch, dass Frau und Kind bitte nicht von Ruth betreut werden mögen. Seiner Bitte wird stattgegeben.
Schon an dieser Stelle war es Wutlesen. Ich war nicht wütend auf das Buch, nicht wütend auf die Autorin, nicht wütend auf diese ausgedachte Geschichte, sondern wütend, weil es sich tatsächlich so zutragen könnte, weil es tatsächlich solch fehlgeleitete Individuen gibt, die Kompetenz und andere Wertschätzungen lediglich anhand von Äußerlichkeiten zuteilen. Fast noch wütender war ich allerdings auf die Krankenhausleitung, die ihrer langjährigen tadellosen Fachkraft aus mehr als fadenscheinigen Gründen derart in den Rücken fiel.
Es kommt, wie es kommen muss. Durch einen medizinischen Notfall und Personalknappheit wird Ruth Turks Baby zugeteilt Was schließlich passiert, endet äußerst dramatisch, denn das Baby stirbt und Ruth sieht sich plötzlich des Mordes angeklagt im Gefängnis wieder.
Ich konnte ihren Gewissenskonflikt so gut nachvollziehen als sie im Krankenhaus mit der schwierigen Situation konfrontiert war, fühlte mit ihr und hoffte so auf einen Freispruch für sie. Ein Freispruch, an dem weit mehr hing als zu keiner Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Ruths Kampf war viel größer, das begriff ich ebenso wie ihre Anwältin Kennedy immer mehr. Denn für die leidenschaftliche Säuglingsschwester ging es nicht nur darum, durch ein taktisch kluges Verfahren freizukommen. Sie wollte die Dinge beim Namen nennen. Nicht nur eine kleine Folge des Rassismus geradebiegen, sondern das Problem bei der Wurzel allen Übels, diesem gesellschaftsvergiftenden Wurzelgeflecht, packen.
„Kleine große Schritte“ beleuchtet einen Fall, bei dem es letzten Endes nicht nur zählt, zu gewinnen, sondern viel mehr, gehört zu werden - gehört und verstanden. Und es geht um ein anderes Verständnis als man gemeinhin denkt. Ruth bricht die Kruste des stillschweigenden Hinnehmens und Voraussetzens auf, entgegen aller Vernunft und mit viel Risiko. Ihr Mut wird belohnt, zudem bekommt sie völlig unerwartet Unterstützung von ganz anderer Seite.
Ruth hat mich sehr beeindruckt mit ihrer Unbeugsamkeit, mit ihrer Kraft, aber ebenso konnte mich ihre Anwältin sehr überzeugen. Wer wechselt schon - wenn auch nur für kurz - freiwillig die Seiten, wenn er genau weiß, dass er in der Höhle des Löwen landet? Wer kündigt gerne – und wenn auch nur für einen Nachmittag - sein Rundum-Sorglos-Paket für die absolute Basisvariante? Kennedy tut es, denn sie will sehen lernen, und begreift sehr schnell, dass Gleichheit nur in seltenen Fällen mit Gerechtigkeit einhergeht. Wie vielseitig und wie verstörend gesellschaftstauglich der Rassismus ist, versteht die Anwältin auf negativ beeindruckende Art und Weise.
Die Autorin hat mich mit der Direktheit und Ehrlichkeit in der facettenreichen und vielschichtigen Behandlung und Beleuchtung des amerikanischen Rassismus tief beeindruckt. Über die gute Umsetzung des Themas und ihren flüssigen, ansprechenden Schreibstils hinaus gefiel mir auch sehr die Art und Weise, wie sie sich ihren Charakteren widmet. Jeder ist so, wie er ist. Dass das manchmal etwas anderes – oder viel mehr – ist als das, was wir sehen, verdeutlicht sie ebenso wie die Tatsache, dass man durch verschiedene Einflüsse so geworden ist, wie man ist. Aber man muss nicht so bleiben. Man hat die Wahl, wie man sein möchte, zumindest in dem Bereich, den man selbst beeinflussen kann. Man kann lernen, seine Ansichten anpassen und sein Wesen in diese Richtung drehen.