Sasha Marianna Salzmann
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Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul - ohne Text, ...
Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul - ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche - nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.
Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.
Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.
Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Salzmanns Theaterstücke, die international aufgeführt werden, wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kunstpreis Berlin 2020 und dem Kleist-Preis 2024. Außer sich, Salzmanns Debütroman, wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt. Für den zweiten Roman, Im Menschen muss alles herrlich sein, ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert, erhielt Salzmann den Preis der Literaturhäuser 2022 und den Hermann-Hesse-Preis 2022.
Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- 3. Aufl.
- Seitenzahl: 366
- Erscheinungstermin: 11. September 2017
- Deutsch
- Abmessung: 203mm x 128mm x 30mm
- Gewicht: 420g
- ISBN-13: 9783518427620
- ISBN-10: 3518427628
- Artikelnr.: 48057380
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
Dass ich Eins und doppelt bin
Geschmack von Rost und Knochen: Die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann sprengt mit ihrem grandiosen Romandebüt "Außer sich" die Grenzen von Ich und Welt.
Es ist der Geschmack von fettigem Hähnchenfleisch, der Ali jedes Mal wieder aufstößt, sobald sie Grenzen überquert. Der Geschmack liegt dann, auch wenn sie nichts gegessen hat, schwer in ihrem Gaumen. Sie schmeckt es, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal seit der Ausreise der Familie Tschepanow aus Moskau zurück in die alte Heimat fährt. Und sie schmeckt es, als sie sich Jahre später auf den Weg nach Istanbul macht, um ihren verschollenen Zwillingsbruder Anton zu suchen. Die synästhetische Urzsene freilich ereignet sich, als Ali
Geschmack von Rost und Knochen: Die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann sprengt mit ihrem grandiosen Romandebüt "Außer sich" die Grenzen von Ich und Welt.
Es ist der Geschmack von fettigem Hähnchenfleisch, der Ali jedes Mal wieder aufstößt, sobald sie Grenzen überquert. Der Geschmack liegt dann, auch wenn sie nichts gegessen hat, schwer in ihrem Gaumen. Sie schmeckt es, als sie mit ihrem Vater zum ersten Mal seit der Ausreise der Familie Tschepanow aus Moskau zurück in die alte Heimat fährt. Und sie schmeckt es, als sie sich Jahre später auf den Weg nach Istanbul macht, um ihren verschollenen Zwillingsbruder Anton zu suchen. Die synästhetische Urzsene freilich ereignet sich, als Ali
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noch ein Kind ist und in den neunziger Jahren, als Panzer auf den Roten Platz rollen, zusammen mit ihrer jüdischen Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland übersiedelt. Während dieser sechsunddreißigstündigen Ein- oder Ausreise, was davon abhing, "von wo aus man schaute", wie es im Text heißt, isst Ali im stickigen Zugabteil tatsächlich von dem toten Vogel, der in Alupapier gewickelt vor ihr auf dem Tisch liegt. Doch schon bald darauf gelangt "das Hähnchenfett aus dem Magen wieder zurück in ihren Mund", bis das Kind dem Onkel, der die Familie am Bahnsteig gerade erwartungsvoll in die Arme schließen will, das halbe Hähnchen schließlich auf die Schuhe erbricht.
Alissa fällt auf den Boden, und Erfahrung und Erleben brauen sich in diesem Moment zu einer Übelkeit zusammen, die alles verschwimmen lässt: "Außerhalb ihres Kopfes verlief die Zeit schneller, es bewegten sich die Dinge in Blitzgeschwindigkeit, Schuhe, die wie Schlangen um sie schnappten, Ottern und riesige Insekten, die sie ansprangen, sie schrie auf und hatte das Gefühl, geschrumpft und in ein Bild gesteckt worden zu sein . . . Alles war Dschungel, alles war Farbe, alles machte ihr Angst, und sie wusste nicht, ob sie auf dem Boden lag oder in ein Loch gefallen war."
Alis verstörende Sinneseindrücke verleihen dem literarischen Debüt von Sasha Marianna Salzmann seine außergewöhnliche Kontur. Der Roman der 1985 in Wolgograd geborenen und in Moskau aufgewachsenen Autorin, die nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland zunächst als Dramatikerin hervorgetreten ist, setzt dabei auf kongeniale Weise um, was der Titel verspricht. "Außer sich" erzählt von Entgrenzungen. Was die Hausautorin am Berliner Maxim-Gorki-Theater bereits in Stücken wie "Meteoriten" oder "Ich, ein Anfang" thematisch verhandelt hat, setzt sie in ihrer ausgefeilten Prosa fort: Ihre Fragen kreisen um Zugehörigkeit jenseits konventioneller Zuschreibungen wie Heimatland, Muttersprache oder Geschlecht. Was definiert uns? Was hält uns zusammen? Wie lässt sich geographische, soziale oder geschlechtliche Begrenzung aufbrechen? Wo verlaufen die Sollbruchstellen im menschlichen Bewusstsein?
Der Roman erstreckt sich über ein ganzes Jahrhundert und erzählt von vier Generationen einer Familie. Dabei pendelt er zwischen der Sowjetunion und dem Deutschland nach der Wende sowie der Türkei der Gegenwart hin und her. Doch er erzählt seine Geschichte nicht etwa als breit ausgemaltes Panorama, nicht als Schlachtengemälde. Die Autorin gewährt uns vielmehr in hochkondensierten Erinnerungsschleifen Einsichten in ein komplexes Gerfühlsdickicht, in dem bis hin zu der Frage, ob es die Zwillinge Anton und Allissa wirklich gibt oder es sich dabei um die Projektion eines einzelnen Ichs handelt, bald nichts mehr so ist, wie es scheint.
Aus der jungen zeitgenössischen Literatur sticht der Roman deshalb heraus. Denn der Autorin gelingt es nicht nur, ganze Lebensgeschichten mit großer Leichthändigkeit zu umreißen. Da werden Verwandtschaften aufgefächert und wieder in Frage gestellt, Spannungen zwischen Generationen und Freunden veranschaulicht, da werden Mütter zu Töchtern und Frauen zu Männern. Mit der Erkundung dessen, was uns im Innersten zusammenhält, trifft die Autorin ein zeitgenössisches Gefühl. Denn was könnte der Kitt sein, wenn die Vertrautheit einer Region, die Zugehörigkeit zu einer Nation oder das Konstrukt Familie mit ihren jeweils eigenen Traumata, die sich durch die Generationen ziehen, es nicht mehr sind?
Sasha Marianna Salzmanns Familienerkundung lässt die Stammbäume porös erscheinen, selbst ein Reisepass hat hier keine Bedeutung mehr. Die Protagonisten, die unfreiwillig aus ihren Zusammenhängen gerissen und vertrieben werden oder auch aus eigener Initiative aufbrechen, verorten sich anderswo - und die Jüngeren manchmal gerade in dieser Suche nach Identität und dem Hunger nach Erleben. Grenzen überschreitet der Text bis in die Sprache hinein, wenn er mit Begriffen und manchmal ganzen Sätzen auf Russisch, Jiddisch oder Türkisch jongliert. Die Erzählerstimme lauscht dabei den verschiedenen Sprachen bis in die tiefsten Empfindungen nach, etwa wenn sie über ihre russische Muttersprache schreibt, dass sie ihr misstraue, weil sie so viel besser sei "als die Welt, aus der sie kommt, blumiger und bedeutsamer, als die Realität je sein könnte".
Vielfach gebrochen, in sich verwinkelt und verspiegelt, gelingt es dem Roman gleichwohl, seine atemberaubende Geschichte durch eine Familie und ein Jahrhundert schillernd wie ein Kaleidoskop zu entfalten. Man muss nur einmal drehen, und schon liegen die Einzelteile wieder in anderer Anordnung vor einem. Es ist eine Familienaufstellung, die Ali von Istanbul aus gedanklich unternimmt und die sie immer weiter zurückführt in die Geschichte. Die vielgestaltigen Erinnerungen führen anhand oft erschütternder Einzelschicksale mitten hinein in die großen Dramen des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Da sind die Zwillinge Alissa und Anton oder die eben zwei Seiten einer gespaltenen Identität, die mit den Eltern nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Anfeindungen Moskau Anfang der neunziger Jahre verlassen. Erzählt wird aber auch die Geschichte von Kostja, dem Vater, und Valja, der Mutter, die, noch ehe sie sich im deutschen Flüchtlingsheim mit fünf Mark in der Woche durchschlagen müssen, in der ehemaligen Sowjetunion aufwuchsen. Mit ihrer Entwurzelung gehen sie jeweils unterschiedlich um. Wir begegnen der klugen Etina und ihrem Mann Sascha mit der zielstrebigen Nase, die beide zur Zeit der russischen Revolution geboren wurden und die Bürde trugen, "etwas Besonderes sein zu müssen". Ihr Auftrag war kein geringerer als der, "die Welt umzukrempeln" und sie besser zu machen. Als Ärzte werden sie während des Zweiten Weltkriegs im Krankenhaus Hunderten Menschen das Leben retten, und unendlich viele mehr werden sie sterben sehen.
Wie sie hingegen selbst überlebten, das sind "Bruchstücke der Erinnerungen, die sie in ihren Schwarztee murmelten", wie es einmal heißt. Dieses Murmeln sucht der Roman immer wieder hörbar zu machen. Die Spannung der Erzählung mag nicht zuletzt darauf gründen, dass die Autorin auch aus eigenen Erfahrungen als Aus/Einwanderin sowie den Überlieferungen einer faszinierenden Familiengeschichte schöpft. Nicht nur in den Szenen aus dem Istanbul der jüngeren Zeit ist die Erzählung auf Gegenwärtigkeit aus. Große Teile des Romans spielen während der türkischen Proteste auf dem Taksim-Platz 2013. Auch Vergangenes will Salzmann als etwas erzählen, das nicht durch Geschichtsschreibung in sich abgeschlossen ist, sondern in die Gegenwart hineinragt. Dem Roman vorweg stellt sie ein Zitat von Ingeborg Bachmann, das sie mit den Worten fortschreibt: "Die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt."
Der mythologische Urtext für Sasha Marianna Salzmanns Buch der Verwandlungen sind Ovids "Metamorphosen". Die Möglichkeiten, sich eine soziale Rolle, ja gar eine Persönlichkeit anzulegen und wieder abzustreifen, sind unendlich. Dass dies nicht immer freiwillig geschieht, auch davon erzählt dieser Roman. Umso spannender ist da die Frage, was bei diesem Metamorphosen eigentlich von einer Person bleibt. Mehr als Hähnchengeschmack im Mund dürfte es schon sein.
SANDRA KEGEL
Sasha Marianna Salzmann: "Außer sich". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 366 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alissa fällt auf den Boden, und Erfahrung und Erleben brauen sich in diesem Moment zu einer Übelkeit zusammen, die alles verschwimmen lässt: "Außerhalb ihres Kopfes verlief die Zeit schneller, es bewegten sich die Dinge in Blitzgeschwindigkeit, Schuhe, die wie Schlangen um sie schnappten, Ottern und riesige Insekten, die sie ansprangen, sie schrie auf und hatte das Gefühl, geschrumpft und in ein Bild gesteckt worden zu sein . . . Alles war Dschungel, alles war Farbe, alles machte ihr Angst, und sie wusste nicht, ob sie auf dem Boden lag oder in ein Loch gefallen war."
Alis verstörende Sinneseindrücke verleihen dem literarischen Debüt von Sasha Marianna Salzmann seine außergewöhnliche Kontur. Der Roman der 1985 in Wolgograd geborenen und in Moskau aufgewachsenen Autorin, die nach ihrer Übersiedlung nach Deutschland zunächst als Dramatikerin hervorgetreten ist, setzt dabei auf kongeniale Weise um, was der Titel verspricht. "Außer sich" erzählt von Entgrenzungen. Was die Hausautorin am Berliner Maxim-Gorki-Theater bereits in Stücken wie "Meteoriten" oder "Ich, ein Anfang" thematisch verhandelt hat, setzt sie in ihrer ausgefeilten Prosa fort: Ihre Fragen kreisen um Zugehörigkeit jenseits konventioneller Zuschreibungen wie Heimatland, Muttersprache oder Geschlecht. Was definiert uns? Was hält uns zusammen? Wie lässt sich geographische, soziale oder geschlechtliche Begrenzung aufbrechen? Wo verlaufen die Sollbruchstellen im menschlichen Bewusstsein?
Der Roman erstreckt sich über ein ganzes Jahrhundert und erzählt von vier Generationen einer Familie. Dabei pendelt er zwischen der Sowjetunion und dem Deutschland nach der Wende sowie der Türkei der Gegenwart hin und her. Doch er erzählt seine Geschichte nicht etwa als breit ausgemaltes Panorama, nicht als Schlachtengemälde. Die Autorin gewährt uns vielmehr in hochkondensierten Erinnerungsschleifen Einsichten in ein komplexes Gerfühlsdickicht, in dem bis hin zu der Frage, ob es die Zwillinge Anton und Allissa wirklich gibt oder es sich dabei um die Projektion eines einzelnen Ichs handelt, bald nichts mehr so ist, wie es scheint.
Aus der jungen zeitgenössischen Literatur sticht der Roman deshalb heraus. Denn der Autorin gelingt es nicht nur, ganze Lebensgeschichten mit großer Leichthändigkeit zu umreißen. Da werden Verwandtschaften aufgefächert und wieder in Frage gestellt, Spannungen zwischen Generationen und Freunden veranschaulicht, da werden Mütter zu Töchtern und Frauen zu Männern. Mit der Erkundung dessen, was uns im Innersten zusammenhält, trifft die Autorin ein zeitgenössisches Gefühl. Denn was könnte der Kitt sein, wenn die Vertrautheit einer Region, die Zugehörigkeit zu einer Nation oder das Konstrukt Familie mit ihren jeweils eigenen Traumata, die sich durch die Generationen ziehen, es nicht mehr sind?
Sasha Marianna Salzmanns Familienerkundung lässt die Stammbäume porös erscheinen, selbst ein Reisepass hat hier keine Bedeutung mehr. Die Protagonisten, die unfreiwillig aus ihren Zusammenhängen gerissen und vertrieben werden oder auch aus eigener Initiative aufbrechen, verorten sich anderswo - und die Jüngeren manchmal gerade in dieser Suche nach Identität und dem Hunger nach Erleben. Grenzen überschreitet der Text bis in die Sprache hinein, wenn er mit Begriffen und manchmal ganzen Sätzen auf Russisch, Jiddisch oder Türkisch jongliert. Die Erzählerstimme lauscht dabei den verschiedenen Sprachen bis in die tiefsten Empfindungen nach, etwa wenn sie über ihre russische Muttersprache schreibt, dass sie ihr misstraue, weil sie so viel besser sei "als die Welt, aus der sie kommt, blumiger und bedeutsamer, als die Realität je sein könnte".
Vielfach gebrochen, in sich verwinkelt und verspiegelt, gelingt es dem Roman gleichwohl, seine atemberaubende Geschichte durch eine Familie und ein Jahrhundert schillernd wie ein Kaleidoskop zu entfalten. Man muss nur einmal drehen, und schon liegen die Einzelteile wieder in anderer Anordnung vor einem. Es ist eine Familienaufstellung, die Ali von Istanbul aus gedanklich unternimmt und die sie immer weiter zurückführt in die Geschichte. Die vielgestaltigen Erinnerungen führen anhand oft erschütternder Einzelschicksale mitten hinein in die großen Dramen des zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Da sind die Zwillinge Alissa und Anton oder die eben zwei Seiten einer gespaltenen Identität, die mit den Eltern nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Anfeindungen Moskau Anfang der neunziger Jahre verlassen. Erzählt wird aber auch die Geschichte von Kostja, dem Vater, und Valja, der Mutter, die, noch ehe sie sich im deutschen Flüchtlingsheim mit fünf Mark in der Woche durchschlagen müssen, in der ehemaligen Sowjetunion aufwuchsen. Mit ihrer Entwurzelung gehen sie jeweils unterschiedlich um. Wir begegnen der klugen Etina und ihrem Mann Sascha mit der zielstrebigen Nase, die beide zur Zeit der russischen Revolution geboren wurden und die Bürde trugen, "etwas Besonderes sein zu müssen". Ihr Auftrag war kein geringerer als der, "die Welt umzukrempeln" und sie besser zu machen. Als Ärzte werden sie während des Zweiten Weltkriegs im Krankenhaus Hunderten Menschen das Leben retten, und unendlich viele mehr werden sie sterben sehen.
Wie sie hingegen selbst überlebten, das sind "Bruchstücke der Erinnerungen, die sie in ihren Schwarztee murmelten", wie es einmal heißt. Dieses Murmeln sucht der Roman immer wieder hörbar zu machen. Die Spannung der Erzählung mag nicht zuletzt darauf gründen, dass die Autorin auch aus eigenen Erfahrungen als Aus/Einwanderin sowie den Überlieferungen einer faszinierenden Familiengeschichte schöpft. Nicht nur in den Szenen aus dem Istanbul der jüngeren Zeit ist die Erzählung auf Gegenwärtigkeit aus. Große Teile des Romans spielen während der türkischen Proteste auf dem Taksim-Platz 2013. Auch Vergangenes will Salzmann als etwas erzählen, das nicht durch Geschichtsschreibung in sich abgeschlossen ist, sondern in die Gegenwart hineinragt. Dem Roman vorweg stellt sie ein Zitat von Ingeborg Bachmann, das sie mit den Worten fortschreibt: "Die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt."
Der mythologische Urtext für Sasha Marianna Salzmanns Buch der Verwandlungen sind Ovids "Metamorphosen". Die Möglichkeiten, sich eine soziale Rolle, ja gar eine Persönlichkeit anzulegen und wieder abzustreifen, sind unendlich. Dass dies nicht immer freiwillig geschieht, auch davon erzählt dieser Roman. Umso spannender ist da die Frage, was bei diesem Metamorphosen eigentlich von einer Person bleibt. Mehr als Hähnchengeschmack im Mund dürfte es schon sein.
SANDRA KEGEL
Sasha Marianna Salzmann: "Außer sich". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 366 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Jede Figur behandelt Salzmann mit derselben Sorgfalt von innen her. ... Es macht Freude, ihr zu folgen.« Ulrich Gutmair taz. die tageszeitung 20171010
Für ihr Romandebüt „Außer sich“ erhielt Autorin Sasha Marianna Salzmann 2017 den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.
Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen in einer Zweizimmerwohnung in Moskau und in einem westdeutschen Asylheim auf. Ein paar Jahre …
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Für ihr Romandebüt „Außer sich“ erhielt Autorin Sasha Marianna Salzmann 2017 den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.
Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen in einer Zweizimmerwohnung in Moskau und in einem westdeutschen Asylheim auf. Ein paar Jahre später, Alissa hat es wegen ihres Mathematikstudiums nach Berlin verschlagen, verschwindet Anton spurlos. Mit dem einzigen Hinweis, einer Postkarte aus Istanbul, macht sich Alissa auf die Suche nach ihrem Bruder.
Die Personenauflistung am Anfang des Buches erweist sich bald als hilfreich. Nicht immer sind die verwandtschaftlichen Verhältnisse leicht zu überblicken. Im Laufe der Geschichte wird von einigen Schicksalen erzählt. Nach einer schrecklichen Ehe heiratet Alissas Mutter Valja Kostja. Auch Kostja offenbart seine dunkle Seite. Die Themen des Romans sind Gewalttätigkeit, Misshandlung, Missbrauch und Mobbing. Ali und Anton leiden unter den Ausrastern ihres Vaters. Mit 16 Jahren läuft Ali von Zuhause weg. Bricht Anton später mit der Familie, um endlich einen Schlussstrich unter die unglücklichen und bitteren Jahre zu ziehen? Sein Aufbruch scheint geplant. Alissa liebt ihren Bruder und versucht ihn wieder aufzuspüren. Was ist aus ihm geworden? Lebt er noch? Spekulationen werden angeheizt. In Rückblicken wird auch von den Großeltern der Zwillinge Etja und Schura erzählt. Ihre große Liebe, ihr schicksalhaftes Leben sorgt für Atmosphäre. Eine richtige Nähe baut sich zu keinem der Charaktere auf. Der Leser wird zum stillen Beobachter. Es geht um Träume, Wünsche, Sehnsüchte, die viel zu oft zerstört werden. Ungewöhnlich sind Erzählstil und Beschreibungen. Emotionen werden in düsteren Szenen verarbeitet. Die Diskriminierung von Juden, Hass, Ungerechtigkeit, der Schrecken des Krieges, dank der Rückblicke und Alis Heute keine leicht verdauliche Lesekost. Zentrale Bedeutung hat die Suche nach dem Sinne des Lebens. „Warum kann das nicht passieren? Das Zeichen einem sagen: dahin sollst du, hier einsteigen, hier aussteigen, bei diesem Menschen bleiben und von hier unbedingt weg. Dass es irgendein Zeichen dafür gibt, dass wenigstens irgendetwas stimmt. Wozu hat man das Scheißschicksal erfunden?“ Enttäuschungen pflastern nicht nur Alis Weg. Gibt es nur Unglück? Wird sich alles zum Positiven wenden? Der Glaube daran fällt schwer. Im letzten Buchdrittel nimmt die Intensität der Geschichte zu. Überraschend dramatische Szenen sorgen für Spannung. Das Ende kommt zu schnell und ist leider nicht zufriedenstellend.
Durch den roten, gespiegelten Farbklecks, die Vögel und den riesigen Titel wirkt das Cover kreativ. Auch durch die Farbkombination fällt das Cover ins Auge. „Außer sich“ ist schwer in Worte zu fassen. Der Roman hat etwas Unnahbares, trotz der geballten Emotionen. Eine Aussichtslosigkeit schwingt auf vielen Seiten mit. Düster, traurig, kein Buch für jemanden, der mit sich selbst hadert oder eine schwere Zeit durchlebt.
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Alissa, genannt Ali, fliegt nach Istanbul, um ihren Zwillingsbruder Anton zu suchen, der seit einiger Zeit verschwunden ist. Ihr einziger Anhaltspunkt ist eine Postkarte, die er von dort verschickt hat. Ali durchlebt in Istanbul eine turbulente Zeit, trifft die unterschiedlichsten Menschen und kommt …
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Alissa, genannt Ali, fliegt nach Istanbul, um ihren Zwillingsbruder Anton zu suchen, der seit einiger Zeit verschwunden ist. Ihr einziger Anhaltspunkt ist eine Postkarte, die er von dort verschickt hat. Ali durchlebt in Istanbul eine turbulente Zeit, trifft die unterschiedlichsten Menschen und kommt doch nicht weiter auf der Suche nach dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben, ihrem Bruder Anton. Dabei sucht sie auch ihre eigene Identität, versucht sich klarzuwerden, wer sie eigentlich ist und was nur Projektion der Menschen ist, die sie umgeben.
Zwischen den Szenen in Istanbul erzählt die Autorin Sasha Marianna Salzmann die Familiengeschichte von Ali, von Ihren Großeltern in Russland, den Eltern, die nach Deutschland kamen, um ihren Kindern etwas Besseres bieten zu können. Und dabei erzählt sie von so vielen Hoffnungen, Enttäuschungen und Kämpfen, dass es einem als Leser einfach nahegehen muss. Auffällig sind besonders die Frauenfiguren, die versuchen so stark zu sein wie möglich, um ihre Familie zu schützen und durchzubringen.
Besonders positiv hervorheben muss ich bei „Außer sich“ die unglaublich schöne sprachliche Umsetzung der Geschichte. Obwohl die Handlung teilweise verwirrend wirkt und man etwas kämpfen muss, um folgen zu können, erzählt Salzmann mit einer sprachlichen Leichtigkeit, die einen von Anfang an gefangen nimmt. Selbst wenn man das Buch zur Seite legt, schwingt die Sprache im Kopf weiter, die Geschichte fließt weiter und es fällt schwer, sich davon loszumachen.
Auch wenn ich Sasha Marianna Salzmanns Debütroman „Außer sich“ stellenweise als recht chaotisch empfunden habe, hat mich das Buch unglaublich fasziniert, zum einen durch die schöne Sprache, zum anderen durch die Freiheiten, die einem als Leser gelassen werden. Die Autorin gibt keine feste Geschichte vor, keine Interpretation, wie es sein muss, sondern lediglich Hinweise, wie es sein könnte. So wird „Außer sich“ für jeden Leser zu seiner ganz individuellen Geschichte, was diesen Roman auszeichnet und so besonders macht.
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Viele sehen bei "Außer sich" die Transgender-Thematik im Vordergrund. Für mich ist aber die sowjetisch-jüdische Familiengeschichte, die über vier Generationen hinweg erzählt wird und einen Hauptteil des Romans ausmacht, fast noch interessanter.
Ali(ssa), die …
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Viele sehen bei "Außer sich" die Transgender-Thematik im Vordergrund. Für mich ist aber die sowjetisch-jüdische Familiengeschichte, die über vier Generationen hinweg erzählt wird und einen Hauptteil des Romans ausmacht, fast noch interessanter.
Ali(ssa), die einen ähnlichen biografischen Hintergrund wie die Autorin Sasha Marianna Salzmann hat, ist auf der Suche: vordergründig nach dem verschwundenen Zwillingsbruder, im Grunde aber auch nach der eigenen Identität. Das umfasst nicht nur die geschlechtliche Identität, sondern auch den familiären und kulturellen Hintergrund.
Die Geschichte des ersten Teils (ca. Zweidrittel des Buchs) springt zwischen den Zeiten und Personen hin und her ... ebenso in der Erzählperspektive: ist die Geschichte vorwiegend in der dritten Person verfasst, gibt es doch auch Abschnitte, die von einem Ich-Erzähler erzählt werden. Der zweite Teil des Buches konzentriert sich dann auf die Zeit von Ali und Anton in Istanbul: eine rastlose Suche in einem Land im Umbruch. Die Familiengeschichte Alis, ihre Transgender-Identität, das Leben in der Sowjetunion, das Leben als Migrant in Deutschland und die aktuellen Entwicklungen in der Türkei - hieraus ergibt sich ein thematisch vielfältiger Roman.
Erzählt wird das auch sprachlich außergewöhnlich, in einer oft ganz eigenen Grammatik. Teils abenteuerliche Schachtelsätze und immer wieder eingestreute kyrillisch geschriebene russische Worte und Sätze mögen auf den ersten Blick abschrecken - für mich war es aber ein besonderes Leseerlebnis. Bitte nicht irritiert sein, sondern sich einfach darauf einlassen!
Insgesamt ein beeindruckendes, aktuelles Roman-Debüt! Leseempfehlung!
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Die Zwillinge Alissa und Anton kommen als kleine Kinder gemeinsam mit ihren Eltern aus Russland nach Westdeutschland, wo sie aufwachsen. Irgendwann verschwindet Anton und geraume Zeit später kommt eine Karte aus Istanbul. Alissa macht sich sofort auf die Reise, um ihren Bruder zu suchen. Doch …
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Die Zwillinge Alissa und Anton kommen als kleine Kinder gemeinsam mit ihren Eltern aus Russland nach Westdeutschland, wo sie aufwachsen. Irgendwann verschwindet Anton und geraume Zeit später kommt eine Karte aus Istanbul. Alissa macht sich sofort auf die Reise, um ihren Bruder zu suchen. Doch es scheint immer mehr zu einer Reise zu sich selbst und der Vergangenheit ihrer Familie zu werden.
Die Geschichte beginnt in Istanbul, wo Alissa bereits auf der Suche nach Anton ist. Doch statt einer fortlaufenden Erzählung werden mit jedem Kapitel die Vergangenheiten diverser Familienmitglieder geschildert - Vater, Mutter, Oma, Opa, Urgroßoma, Urgroßopa usw. Aber auch hier gibt es keine chronologische Erzählweise: Der Fokus wechselt vom Alter zur Jugend zum Erwachsenensein zur Kindheit undundund. Bleibt man nicht konzentriert bei der Sache, ist man schnell völlig verloren in den verschiedenen Abschnitten. Erschwerend kommt die weit verzweigte Verwandtschaft der Hauptfigur hinzu, die immer wieder an den unterschiedlichsten Stellen auftaucht. Ich muss gestehen, dass ich zusehends den Überblick verlor, wer wer ist. Da die Suche nach Anton eigentlich nur der Aufhänger ist, um die Geschichte der Familie und diverser anderer Personen zu erzählen (zumindest habe ich es so empfunden), fiel es mir schwer, zwischen den Personen der einzelnen Kapitel eine Verbundenheit herzustellen. So waren es für mich eher einzelne Erzählungen, lose verknüpft durch Alissa, die gerade ihren Bruder sucht.
Doch was wirklich grandios ist, ist die Sprache der Autorin. Sie beschreibt die Verhältnisse in der Sowjetunion und in den Familien, die aussiedelten so, dass man diese Situationen buchstäblich vor Augen hat: "Valja war getrieben von der Angst, nicht genug Zeit zu haben, all das Wissen in ihre Kinder hineinzustopfen, das sie brauchten, um es raus zu schaffen, dafür musste man sich schnell bewegen, schnell, schnell raus hier, lest, lernt, sonst seid ihr verloren." oder "Man kann sagen, die Menschen starben wie die Fliegen, aber sie starben nicht wie Fliegen, Menschen sterben langsam, Blut spuckend, die Kinder mit großen, flehenden Augen, in die Etina nicht schaute."
Wenn es ihr jetzt noch gelingt, diese Sprache mit einer ebenso tollen Geschichte zu verbinden, wird es wohl ein Meisterwerk werden ;-)
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Eine Geschichte, wie sie tausendfach in Deutschland vorkam: Als Spätaussiedler kommen die Zwillinge Anton und Alissa in den 1990er Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland. Zunächst leben sie im Asylbewerberheim, wo sie die einzigen Juden unter den Bewohnern, die alle vorgaben wegen …
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Eine Geschichte, wie sie tausendfach in Deutschland vorkam: Als Spätaussiedler kommen die Zwillinge Anton und Alissa in den 1990er Jahren aus der Sowjetunion nach Deutschland. Zunächst leben sie im Asylbewerberheim, wo sie die einzigen Juden unter den Bewohnern, die alle vorgaben wegen ihrer jüdischen Wurzeln ein Anrecht auf die Ausreise zu haben. Diskrimination und Gewalt prägen ihre Schulzeit, aber da stehen sie in guter Tradition, denn damit sind auch ihre Eltern und ihre Großeltern großgeworden. Doch Anton und Alissa schaffen es nicht, im neuen Land ein Leben aufzubauen. Die Familie zerfällt ebenso wie ihr Selbstbild und irgendwann ist Anton einfach weg. Eine Postkarte aus Istanbul lässt ihn in der türkischen Metropole vermute. Alissa, die sich inzwischen nur noch Ali nennt, macht sich auf die Suche nach ihrer zweiten Hälfte, ohne die sie unvollständig ist.
Sasha Marianna Salzmanns Roman, der 2017 auf der Longlist des Deutschen Buchpreis steht, ist kein leicht zugänglicher Roman. Er springt zwischen den Generationen und ihren Geschichten, zwischen den Ländern, die die Figuren prägen und ihrer Suche nach Identität. Immer wieder verlieren sie sich und auch die Erzählweise springt, von einem neutralen Erzähler plötzlich in die erste Person, die die Erzählung geradezu an sich reißt. So entsteht eine chronologisch wie erzählperspektivisch disruptive Struktur, die vom Leser entschlüsselt und zusammengesetzt werden muss, um ein komplettes Bild zu erhalten.
Im Zentrum steht Alissa alias Ali, die sich auf die Suche nach Anton macht. Gleichzeitig sucht sie auch sich selbst und ihre Identität, denn Alissa ist langsam dabei zu einem Mann zu werden. Zwischen den Sprachen, den Kulturen, den Ländern, einer Familie voller unglücklicher Menschen und einem belastenden geschichtlichen Erbe hat sie nie ihren Platz gefunden und ist auf der Suche nach sich selbst. Die Suche nach Anton ist nur vordergründig – dahinter steht die eigentliche Frage, wer Alissa oder Ali ist:
„Ich war es damals noch gewohnt, von mir außerhalb meiner selbst, von mir in der dritten Person zu denken, als einer Geschichte, die irgendwem gehört, also erzählte ich ihnen eine Geschichte und hoffte, dass sie mich aus meiner Entrückung wieder an sich heranziehen [...]“ (S. 210)
Ebenfalls großen Raum nimmt die Frage nach dem Jüdisch-Sein ein. Wann darf man es offen zeigen, wann besser verschweigen. Die Geschichte der Großeltern symbolisch für das Schicksal tausender Juden, die leben durften, so lange sie nützlich sein konnten und die auch in der kommunistischen und religionslosen Sowjetunion nur Menschen zweiter Klasse waren.
Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind geprägt von Gewalt und Angst. Besonders erschreckend, mit welcher emotionslosen Konstatierung über Vergewaltigungen in der Ehe gesprochen wird. Man kann und will sich nicht vorstellen, dass dies für viele Frauen alltägliche Tatsachen sind, die sie letztlich abstumpfen lassen. Der Alkohol mag ein Grund sein, aber sicher keine Entschuldigung. Man gewinnt jedoch nicht den Eindruck als wenn sich jemand ernsthaft daran stören würde und so wird das Verhalten von den Kindern beobachtet und später imitiert. Für die Frau bleibt nur die Flucht in die Arbeit, dort versteckt sich als Valja, die sich nicht wirklich auflehnt gegen das, was ihr Geschichte, aber womöglich ist es auch die russische Prägung, die sie dazu treibt:
„ ‚Ich‘ ist im Russischen nur ein Buchstabe: Я. [...] Man sagt: Я ist der letzte Buchstabe im Alphabet, also stell dich hinten an, vergiss dich, nimm dich nicht so wichtig, lös dich auf. Mir schien, Valja hatte diese Redensart vollkommen verinnerlicht.“ (S. 274)
Eine Familiengeschichte der anderen Art, die so noch nicht erzählt wurde, denn sie legt den beiden Kinder die Last der Geschichte wie auch der Zukunft auf die Schultern. Und das, wo sie weder wissen, wo sie herkommen, wer sie sind und wohin sie gehen werden.
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Die Geschichte erstreckt sich nicht nur über Generationen, Religions- und Ländergrenzen, sondern reizt auch aus, wie unfassbar zerbrechlich und zugleich fließend die Identität eines Menschen sein kann.
»Hier schreibt jemand, der etwas zu erzählen hat« sagt …
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Die Geschichte erstreckt sich nicht nur über Generationen, Religions- und Ländergrenzen, sondern reizt auch aus, wie unfassbar zerbrechlich und zugleich fließend die Identität eines Menschen sein kann.
»Hier schreibt jemand, der etwas zu erzählen hat« sagt DIE WELT, und dem würde ich vorbehaltlos zustimmen. Sasha Marianna Salzmann weiß, wovon sie spricht, und sie spricht in einem so innovativen wie kompromisslosen Stil, der mal poetisch klingt – und mal so, als habe sie ihre Lebenswut aufs Papier gekotzt.
Aber dieses 'etwas', das sie zu erzählen hat, blieb für mich über weite Strecken nicht greifbar, ihre Charaktere interessant, aber seltsam blutleer. Auch die Wucht des Schreibstils blieb oft auf dem Papier kleben.
Wenn der schnelle Wechsel von Schauplätzen und Perspektiven den Leser irritiert und verwirrt, so ist dies von der Autorin jedoch durchaus erwünscht. Sie wolle dem Leser eine Ahnung verschaffen, sagte sie in einem Interview, wie es sich anfühlt, wenn "die Drehscheibe zu schnell ist".
Und die Drehscheibe ist rasend schnell für die Menschen, die sie in ihrem Roman beschreibt. Anton und Ali sind die Kinder von Heimatlosen, haben die Rastlosigkeit im Blut, begegnen auf ihrer Suche nach dem eigenen Ich nur mehr anderen Suchenden, aber keinen Angekommenen. Besonders Ali ist grenzenlos haltlos, ohne Anton hat sie das Gefühl, auch sich selbst verloren zu haben. Aber ist sie überhaupt eine Sie? Sexualität und Gender werden durch Antons Verschwinden erschüttert: es bleibt unklar, ob Ali transgender ist oder den Verlust des Bruders kompensieren will, indem sie/er seine Identität übernimmt.
Möglicherweise ist das schon die Erklärung, warum es mir so schwerfiel, für die Charaktere mehr als vages Interesse zu empfinden: sie sind unfassbar, im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie keine klar umgrenzte Identität haben, und damit wird der interessanteste Aspekt des Buches zugleich zu seiner größten Schwäche.
Ganz nebenher erzählt die Autorin die Lebensgeschichte der entwurzelten russisch-jüdischen Familie Tschepanow über vier Generationen – was an sich gar nicht auf 366 Seiten passen sollte, es aber tut, weil alles fragmentarisch bleibt.
Auch hier wieder: interessant, aber.
Es erklärt Ali, und es erklärt Ali nicht, weil der Leser die Familiengeschichte sieht wie in einem zerbrochenen Spiegel. Mir erschwerte das Fragmentarische die emotionale Investition, die die Geschichte in meinen Augen fordert – auch wenn es wunderbar Alis Identitätskrise widerspiegelt und verdeutlicht, was für ein trügerisches Konstrukt die menschliche Erinnerung ist.
Möglicherweise muss man sich als Leser von der Vorstellung verabschieden, das Buch müsse einem seinen Sinn offenbaren und Alis Reise in vollkommener Selbsterkenntnis enden. Es spricht wichtige, interessante Themen an. Die Sprache an sich ist es wert, gelesen zu werden, die Geschichte an sich ist es wert, gelesen zu werden.
Für mich scheiterte es – oder ich? – jedoch an der Umsetzung, die Drehscheibe drehte sich zu schnell. Ich spürte, dass sich hinter dem, was ich las, etwas Großes verbarg, bekam es im Schwindel der Erzählung jedoch nicht zu fassen.
Fazit:
"Außer sich" ist vieles: eine epische Familiengeschichte, ein rasant erzählter, mutiger Roman mit einer Unzahl von Themen: Migration, Integration, Fremdenhass, Genderidentität, Inzest und immer wieder Selbstfindung, Selbstverlust... Es passiert unglaublich viel, und es fühlt sich an, als würde alles gleichzeitig passieren, der Schreibstil ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Wucht. Einfach ist das nicht – kein Buch zum nebenher Konsumieren.
Was meine abschließende Bewertung betrifft, bin ich so zwiegespalten wie die Hauptfigur des Buches bezüglich ihrer Identität: letztendlich bleibt es ein Buch, dessen Ehrgeiz, Mut und sprachliche Innovation ich anerkenne, das mich jedoch dennoch nicht vollends überzeugen konnte.
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Пошёл ты!
Die bisher als Dramatikerin bekannte Sasha Marianna Salzmann hat es mit «Außer sich» auf Anhieb ins Finale des Deutschen Buchpreises geschafft, «Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft» hat die Frankfurter Jury …
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Пошёл ты!
Die bisher als Dramatikerin bekannte Sasha Marianna Salzmann hat es mit «Außer sich» auf Anhieb ins Finale des Deutschen Buchpreises geschafft, «Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft» hat die Frankfurter Jury ihre Wahl begründet. Begonnen hat die in Wolgograd geborene und 1995 als Zehnjährige mit ihren jüdischen Eltern nach Deutschland emigrierte Schriftstellerin ihren ersten Roman während eines Stipendiums in Istanbul. Die türkische Metropole dient hier als exotischer Schauplatz ihrer Geschichte einer sehr rigorosen Selbstfindung.
Die Zwillinge Alissa und Anton wachsen fast schon symbiotisch aneinanderhängend in prekären Verhältnissen in Moskau auf, sie landen nach der Ausreise zunächst in einem Asylantenheim tief in der deutschen Provinz. Den Eltern gelingt aber ein bescheidener Aufstieg, Alissa beginnt sogar ein Mathematik-Studium in Berlin, das sie dann bald wieder abbricht, weil es sie zu stark am Boxtraining hindert (sic!). Als Anton spurlos verschwindet und nach geraumer Zeit eine Postkarte ohne Text und Absender aus Istanbul eintrifft, beschließt Alissa, ihn dort zu suchen. Dieses Handlungsgerüst dient der Autorin in ihrem vier Generationen umfassenden Epos einer von den politischen Umbrüchen Europas gebeutelten Familie als Basis für weit ausholende Rückblicke auf das Leben der Eltern und Großeltern Alissas. Die Intensität und Schonungslosigkeit dieser familiären Nabelschau auf der einen Seite, die kompromisslose, keine Grenzen kennende Suche nach sich selbst, nach dem Sinn hinter alldem auf der anderen Seite, gerät der Autorin zu einem ebenso verstörenden wie tabulosen Seelenstriptease Alissas.
«Ich bin nicht wie du», sagt sie einmal zu ihrer Mutter, «ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt.» Mehr Kapitalismuskritik geht kaum, und so gleitet Alissa tief in ein Istanbuler Milieu ab, das kleinkriminell geprägt ist, eine Schwulen- und Transgender-Szene mit Drogen, Alkohol, Prostitution. Hedonisten unter den Lesern wird viel Geduld abverlangt bei den detailverliebten Schilderungen aus dem schmuddeligen gesellschaftlichen Untergrund, es wird geschwitzt, gestunken, gepisst, gekotzt, gefickt bei endlosen Streifzügen durch vermüllte Abbruchhäuser und Kellerlöcher, die mit verwanzten, verdreckten Matratzen und ohne auch nur minimalistische Hygiene der Heldin als jederzeit von Auflösung bedrohte, improvisierte Bleibe dienen. Und die anarchische Alissa hadert letztendlich auch mit ihrem Geschlecht, sie versucht wie viele in der Szene mit Testosteronspritzen ihren rein körperlichen Sexus dem innerlichen, gefühlten anzugleichen.
Aus Sicht Alissas - mal in der ersten, mal in der dritten Person - erzählt die Autorin ihre Geschichte in einer klaren, unprätentiösen Sprache, teilweise aus einiger Distanz und dann auch wieder sehr nahe bei ihrer Protagonistin. Neben dem im Russischen scheinbar unvermeidlichen Namenswirrwarr, bei dem hier eine vorangestellte Personenliste allerdings darüber aufklärt, dass Etja, Etina und Etinka oder Katho, Katharina und Katüscha jeweils die gleiche Person meint, haben mich die häufigen kyrillischen Einsprengseln irritiert, die fast alle ohne Übersetzung bleiben. Bis auf «verpiss dich!», für das ich dann auf Russisch im Internet eine andere Formulierung fand als im Buch, «Пошёл ты!» nämlich. Was soll das also! Besonders gefallen haben mir die anschaulich erzählten Kapitel über die russischen Großeltern, die ein wenig über Alissas unappetitliche Abenteuer in der Transgender-Szene Istanbuls hinwegtrösten, bei denen mir öfter mal unwillkürlich etwas ähnliches wie Пошёл ты herausgerutscht ist. Ein sperriger Roman also, rätselhaft, hoch komprimiert erzählt zudem, der weitab vom Mainstream angesiedelt ist.
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