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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 732 Bewertungen
Bewertung vom 23.04.2024
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


ausgezeichnet

Im Jahr 1974 brodeln in Boston die Unruhen, befeuert von der Desegregationskrise der öffentlichen Schulen; durch den Austausch von schwarzen und weißen Schulkindern per Bus soll Integration erreicht werden. Schwarze Kinder sollen nun auf überwiegend weiße Schulen gehen, weiße Kinder auf schwarze Schulen. So gut gemeint das auch klingen mag, so heftig ist doch der Widerstand; der Aufruhr ist bösartig, rassistisch, rabiat. Als wäre das nicht schon genug, um diese Krise zu einem Schandfleck der Bostoner Geschichte zu machen, befindet sich nicht nur die Unterwelt fest im Griff des Verbrecherbosses James »Whitey« Bulger (hier umgenannt in Marty Butler).

Inmitten dieses Chaos ist Mary Pat Fennessy auf der Suche nach ihrer vermissten Teenager-Tochter Jules, die eigentlich auch bald auf eine schwarze Schule gehen soll, aber kurz davor einfach nicht mehr nachhause kommt. Zeitgleich wird Augustus »Auggie« Williamson, ein schwarzer junger Mann, tot aufgefunden, und Augenzeugen sagen, er wurde von vier weißen Jugendlichen gejagt …

Dennis Lehane nimmt uns mit an einen Brennpunkt der amerikanischen Geschichte; es entspinnt sich eine Geschichte der rassistisch motivierten Hetze, der Polizeigewalt, des organisierten Verbrechens. Und des beiläufigen, teils unbewussten Alltagsrassismus von Menschen wie Mary, die sich tagtäglich am Rande der Armut abkämpfen, in ihrer freudlosen Existenz keinen Lichtblick mehr sehen – und einen Sündenbock dafür suchen.

Dass Lehane einer irischstämmigen Bostoner Familie entstammt, verleiht dem Buch sicher einen großen Teil seiner bestechenden Authentizität, insbesondere seiner ebenfalls irischstämmigen Protagonistin Mary. Er nutzt das historisch aufgeladene Setting, um tiefgehende gesellschaftliche Fragen zu erforschen.

Mary ist durchaus ein Charakter, mit dem Lesende mitfühlen können. Sie hat viel verloren in ihrem Leben: ein ermordeter Ehemann, der Ganggewalt zum Opfer fiel. Ein Sohn, der lebend aus Vietnam zurückkehrte, nur um dann an einer Überdosis Heroin zu sterben. Und nun soll sie einfach akzeptieren, dass ihre Tochter weg ist? Niemals. Sie sucht Rückhalt bei ihrer Community – und muss ernüchtert erkennen, dass sie vor vielem die Augen verschlossen hat.

Mary hält sich selbst nicht für rassistisch, obwohl sie sich manchmal beklommen bei Gedanken ertappt, die arg nach Rassismus klingen. Immer dann, wenn sie sich hilflos fühlt, wenn sie Angst hat, wenn sie nicht weiter weiß. Aber sie ist doch gut befreundet mit ihrer schwarzen Kollegin Dreamy, nicht wahr? Schrecklich, dass es ausgerechnet deren Sohn Auggie war, der tot da lag … da lag, wo ihre Tochter zuletzt gesehen wurde …

So verbunden sich Mary manchmal auch wähnt mit «den Schwarzen», letztlich ist diese Verbundenheit eben nur das: Ein Konstrukt, mit dem sie sich besser fühlen kann, obwohl sie keine konkreten Taten walten lässt, um Solidarität zu zeigen. Doch inmitten des Schmerzes und der Angst erlebt Mary durchaus ein inneres Wachstum, hinterfragt den Rassenwahn ihrer Community – und ihren eigenen. Sie ist eine harte Frau, die diese Härte nun auf sich selbst richtet, um ihre eigenen Ansichten nicht länger zu entschuldigen.

Dennis Lehane gelingt es, dass ich beim Lesen mitfühlte und mitfieberte mit dieser kettenrauchenden, verbitterten kleinen Frau, die zu spät versucht, sich aus dem Morast freizukämpfen, den sie erst jetzt als solchen erkennt. Sie wagt es, ihre Tochter über den Schweigekodex der Nachbarschaft zu stellen, und doch bleibt ihr nichts mehr übrig als Rache.

Auch andere Charaktere werden von Dennis Lehane mit feinem Gespür für deren komplexes, oft zwiespältiges Innenleben geschildert; wie Mary ist zum Beispiel auch Detective Bobby Coyne im Grunde ein gebrochener Mensch. Doch im Gegensatz zu ihr sieht er immer noch Gründe dafür, weiterzuleben, es besser zu machen – und Sekunden der Gnade walten zu lassen, auch wenn diese meist kaum mehr bewirken als Tropfen auf dem heißen Stein.

Obwohl es sich hier nicht um einen klassischen Thriller handelt, sorgt die geschickte Verknüpfung von persönlichem Drama und politischem Konflikt dennoch für einen straffen Spannungsbogen, dem ich mich beim Lesen kaum entziehen konnte.

Der Schreibstil ist direkt und wirkungsvoll, macht die sozialen Spannungen der Zeit auf jeder Seite spürbar. In Dialogen, die durchwegs authentisch und realistisch wirken, erweckt Lehane auch zwiespältige Charaktere zum Leben. Problematische Ansichten werden dadurch zwar keinesfalls entschuldbar, aber im Kontext ihrer persönlichen Geschichten und sozialen Umstände ein Stück weit verständlicher.

Der Roman bietet Spannung und Unterhaltung, aber auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen und sozialen Themen. Lehane zeigt Hass als umfassendes System, das Grausamkeit und Gewalt gegen Außenseiter richtet, während es gleichzeitig bereit ist, Freunde und Nachbarn zu opfern. Kein Buch, das man schnell nebenher lesen sollte, aber definitiv ein lohnendes Buch, das ich weiterempfehle.

Bewertung vom 17.04.2024
Die verlorene Zukunft von Pepperharrow
Pulley, Natasha

Die verlorene Zukunft von Pepperharrow


ausgezeichnet

Es handelt sich hier um den zweiten Band einer Dilogie, und ich lege dir, lieber Bücherwurm, dringend ans Herz, erstmal «Der Uhrmacher in der Filigree Street» zu lesen. Erstens wird es ansonsten schwierig, der hochkomplexen Geschichte in diesem Band zu folgen; zweitens ist der «Uhrmacher» ein wunderbar charmanter Roman, den du nicht missen solltest.

Gut. Da das jetzt geklärt ist, lasst uns über «Pepperharrow» sprechen. Dessen Geschichte setzt fünf Jahre nach dem Ende des ersten Bandes ein.

Thaniel Steepleton und Keita Mori reisen mit ihrer Adoptivtochter nach Tokio, wo sie sich mit einer in vielerlei Hinsicht bedrohlichen Situation konfrontiert sehen. Krieg mit Russland wandelt sich von einer Möglichkeit zu einer Wahrscheinlichkeit, und in der britischen Gesandschaft spukt es. Derweil benimmt sich Mori sogar für seine Verhältnisse merkwürdig, und Thaniel hat das Gefühl, dass es in ihrer Beziehung kriselt. Daher stürzt er sich zur Ablenkung in den Auftrag, herauszufinden, was hinter den Geistererscheinungen steckt.

Mori hat Angst. Thaniel sieht Geister. Mori verschwindet. Und den Rest des Buches beschleicht dich das ungute Gefühl, dass dieser Band möglicherweise tragisch enden könnte. …nein, verrat ich nicht.

Eine Wendung folgt auf die nächste, der Plot verästelt sich zusehends… Historische Geschehnisse, politische Intrigen, mystische Gegebenheiten und Steampunkelemente verweben sich, aber der wunderbare Schreibstil und die dichte Atmosphäre halten meines Erachtens alles zusammen. Der Erzählrhythmus ist langsam, aber das ist auch nötig, damit die Geschichte unter ihrer eigenen Komplexität nicht zusammenbricht; es entwickelt sich nach und nach eine tiefgründige Spannung.

Wie im «Uhrmacher» wird die Geschichte auch hier von Charakteren getragen, deren Facetten die Autorin mit wunderschönen, feinen Strichen zeichnet; vieles liegt zwischen den Zeilen und erfordert behutsames Lesen.

Ich hab's geliebt. Und wenn du, lieber Bücherwurm, komplexe Erzähltstrukturen, originelle Einfälle und einen anspruchsvollen Genremix zu schätzen weißt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du es auch lieben wirst.

Bewertung vom 08.04.2024
Mein letztes Jahr der Unschuld
Florin, Daisy Alpert

Mein letztes Jahr der Unschuld


ausgezeichnet

Was ist Unschuld? Wann 'verliert' man sie, wann wird sie einem 'geraubt'? Fragen, die mit prävalenten gesellschaftlichen Erwartungen ebenso verbunden sind wie mit einem tief verwurzelten, erziehungsbedingten Selbstbild. Und dann? Wird aus Unschuld Schuld? Wird aus Unschuld Scham?

Isabel erfährt sexuelle Gewalt. Oder? «Mit ihrem Kommilitonen Zev verbindet sie eigentlich nur Freundschaft, doch irgendwie landen die beiden im Bett.» So sagt es der Klappentext, und verharmlost damit, spiegelt gewollt oder ungewollt die Kluft wider, die Isabel selber nicht überwinden kann.

Sie spricht von Angst, als es passiert. Bittet ihn, zu warten, und wird ignoriert. Erwägt, um Hilfe zu rufen, aber «es passierte ja nichts Außergewöhnliches». Versucht, sich der Situation mental zu entziehen, indem sie an ein Referat über das russische Judentum denkt. Hat sie nein gesagt, wird sie später überlegen? Danach unterhält sie sich ganz normal mit ihm, geht nach Hause.

«Irgendwo tief in mir tat etwas weh, das ich weder sehen noch benennen konnte.»

Sie weiß nicht, was sie denken oder fühlen soll. Doch als sie ihrer Mitbewohnerin davon erzählt, malt die eine plakative Version des Geschehens, übernimmt in gerechtem Zorn das Steuer – und raubt Isabel damit ebenfalls das Recht auf Selbstbestimmung.

Ihr Professor beginnt damit, die zutiefst verunsicherte Isabel mit Lob zu überschütten, und das fällt auf fruchtbaren Boden. Sie weiß, dass er verheiratet ist, als sie sich auf eine Affäre einlässt.

Daisy Alpert Florin beobachtet genau, zeichnet Isabels Gedanken und Gefühle mit feinen Schattierungen. Es wäre allzu einfach, aus der Geschichte ein plumpes moralisches Lehrstück zu machen, doch der Roman verliert nie aus den Augen, dass die Wahrheit ein scheues Tier ist.

Die Stärke der Erzählung liegt meines Erachtens in der nuancierten Charakterisierung der Protagonistin, die erst lernen muss, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und sich gegen Fremdbestimmung zu behaupten. Hier und dort könnte man belehrend den Finger erheben, doch 'Schuld' und 'Unschuld' sind in diesem Kontext wenig mehr als unbedeutende gesellschaftliche Konstrukte.

Bewertung vom 26.02.2024
Was damals geschah
Jewell, Lisa

Was damals geschah


ausgezeichnet

In den 90er Jahren werden in einem scheinbar verlassenen Haus drei verwesende Leichen gefunden – und ein quicklebendiges Baby, das offensichtlich jemand liebevoll versorgt hat… Was ist hier geschehen? Es bleibt vorerst ein Mysterium. Viele Jahre später erbt die junge Libby Jones das Haus, und damit eine ungeahnte problematische Familiengeschichte.

Erzählt aus drei verschiedenen Perspektiven, enthüllt die komplexe Handlung auf zwei Zeitebenen nach und nach die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner. Dabei präsentiert die Autorin unerwartete Wendungen und überraschende Enthüllungen so geschickt, dass sie die Glaubwürdigkeit nie überstrapaziert. Die Spannung gewinnt von Seite zu Seite an Dimension, während Geheimnisse sich wie Puzzleteile zu einem düsteren Bild zusammensetzen.

Die Charaktere, insbesondere Libby, sind so vielschichtig und gut ausgearbeitet, dass sie Leser:innen gut durch das anfangs noch fragile Gerüst der Handlung führen können. Auch die atmosphärische Dichte des Schreibstils und die bildhaften Beschreibungen tragen dazu bei, dass eine stimmige Geschichte entsteht, die irgendwo zwischen Thriller und Familiendrama eine ganz eigene Sogwirkung entfaltet.

Ob nun Familiendrama oder Thriller, «Was damals geschah» war für mich insgesamt ein echtes Highlight.

Bewertung vom 23.02.2024
Schneesturm
Walsh, Tríona

Schneesturm


sehr gut

Tríona Walsh entführt uns auf die irische Insel Inishmore, wo nicht nur das Wetter so geheimnisvoll wie unerbittlich ist. Wir begegnen einer Gruppe ehemaliger Freunde, die sich dort nach zehn Jahren wiedertreffen, um den Todestag eines der Ihren auf positive Weise zu begehen. Darunter befindet sich auch unsere Protagonistin Cara, die Witwe des damals tragisch aus dem Leben Gerissenen, die inzwischen als einzige Polizistin der Insel dauerhaft auf Inishmore lebt.

Die versöhnliche, vorsichtig hoffnungsvolle Stimmung weicht indes schnell einer Aura der Angst und des Misstrauens. Ein unerwarteter Schneesturm schneidet die Insel vollkommen vom Festland ab, kurz darauf wird eine Leiche gefunden… Geschickt webt die Geschichte fortan ein dichtes Netz aus Geheimnissen und Lügen.

Ja, die Ausgangslage ist ein Klassiker der Spannungsliteratur: ein Wiedersehen alter Freunde,ein abgeschiedener Schauplatz, ein Mord… Die Autorin reichert dieses Grundschema jedoch mit atmosphärischer Dichte, irischem Flair und tiefgründigen Charakterstudien an, sodass «Der Schneesturm» mehr zu bieten hat als das Altbekannte. Walshs Prosa fängt die raue Schönheit Irlands meisterhaft ein, und sie beweist ein feines Gespür für Spannung und die menschliche Psyche. Meines Erachtens sind auch langsame Passagen bewusst als Wegmarken einer Geschichte voller Wendungen und Abgründe konstruiert. Das schwankt zwischen Krimispannung und Thrillerelementen, was mir persönlich gut gefällt.

Die Charaktere empfand ich als fein gezeichnet und vielschichtig, obwohl ihre Geheimnisse und Motivationen nicht immer bis ins Detail erläutert werden. Schon nach wenigen Kapiteln hatte ich eine Ahnung, verwarf sie dann wieder, verdächtigte andere Charaktere – und am Schluss stellte sich dann doch heraus, dass ich direkt ins Schwarze getroffen hatte. Nur eine milde Enttäuschung, hatte mich die Autorin doch mehrfach auf Abwege geführt…

Fazit: Eine atmosphärische Geschichte, die mit schwelender Spannung und psychologischer Tiefe überzeugt, sowie einem Hauch von Mystery und irischer Kultur.

Bewertung vom 02.02.2024
No Exit (eBook, ePUB)
Adams, Taylor

No Exit (eBook, ePUB)


gut

Darby Thorne strandet während eines extremen Schneesturms in einer Raststätte mitten im Nirgendwo. Die vier Fremden, die dort ebenfalls den Sturm abwarten, wirken wenigstens nicht unfreundlich. Als Darby sich jedoch in der Hoffnung auf Handyempfang in die Eiseskälte wagt, schaut sie im Vorbeigehen in eines der geparkten Autos – und entdeckt zu ihrem heilosen Entsetzen ein gefesseltes kleines Mädchen…

Darby erwägt, den anderen Anwesenden davon zu erzählen, aber einem der vier Fremden muss das Auto ja gehören, und er könnte bewaffnet sein. Jetzt geht es um alles, denn Darby muss das Mädchen retten, ohne dabei ihr Leben und das der anderen Unschuldigen aufs Spiel zu setzen. Wer hat den längeren Atem? Der Sturm, der Täter, oder Darby? Die Uhr tickt…

Die Grundidee von "No Exit" ist geradezu klassisch: ein isolierter Schauplatz, eine Gruppe von Menschen, unter denen sich ein Monster verbirgt… Das schafft sofort eine beklemmende Atmosphäre, und die ersten Seiten bauen eine solide Grundspannung auf. Die Ausgangssituation ist ohne Zweifel vielversprechend, ihr Potential wurde meines Erachtens aber nicht voll ausgeschöpft.

Ja, Adams gelingt es zweifellos, die intensive Spannung durchweg hochzuhalten! Allerdings wirken einige der Wendungen übertrieben und daher auch unglaubwürdig. Es ist ein bisschen wie bei einer Achterbahnfahrt – aufregend, aber manchmal einfach zu viel des Guten.

Darby ist als Hauptfigur interessant, und ihre Entwicklung im Verlauf der Geschichte ist bemerkenswert. Jedoch fühlten sich einige der Nebencharaktere etwas flach und stereotyp an; ihre Entscheidungen erscheinen manchmal unrealistisch. Ich hätte mir mehr Tiefe und Nuancen in ihrer Darstellung gewünscht.

Der Schreibstil ist flüssig; er erweckt Szenen bildhaft und mit intensiver Atmosphäre zum Leben. Die Dialoge sind indes mal großartig, mal etwas holprig und überkonstruiert.

Fazit:

«No Exit» ist zweifellos ein packender Thriller, der für einige Stunden gute Unterhaltung bietet. Er hat jedoch seine Schwächen in der Glaubwürdigkeit und Charaktertiefe. Insgesamt ein solides Buch, aber kein herausragendes Meisterwerk im Thriller-Genre.

Bewertung vom 28.01.2024
Neuschnee
Foley, Lucy

Neuschnee


ausgezeichnet

Eine Gruppe von neun Freund:innen trifft sich in einer abgelegenen Hütte in den schottischen Highlands, um gemeinsam Silvester zu feiern. Das Treffen nimmt jedoch eine düstere Wendung, als eine:r von ihnen tot aufgefunden wird – während ein Schneesturm sie ohne Erbarmen von der Außenwelt isoliert. Geheimnisse kommen zum Vorschein, Spannungen innerhalb der Gruppe brechen sich ihre Bahn… Es beginnt ein psychologisches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sich herausstellt, dass jede:r der Freund:innen etwas zu verbergen hat.

Lucy Foley stellt ihren Thriller auf ein solides Fundament: ein isolierter Schauplatz, eine Freundesgruppe, bei der es unter der schönen Oberfläche gärt… Das mag nichts Neues sein, doch «Neuschnee» beweist, dass diese Kombination aus gutem Grund altbewährt ist! Auch in langsamen Passagen ist die Handlung meines Erachetens fesselnd, und die atmosphärischen Beschreibungen der schottischen Highlands tragen zu einer beklemmenden Grundstimmung bei. Mit jeder tückischen Wendung schrauben sich Paranoia und Verzweiflung innerhalb der Gruppe immer weiter hoch.

Das Buch brilliert in meinen Augen vor allem durch die gelungene Konstellation komplexer, zwiespältiger Charaktere, die von der Autorin differenziert ausgearbeitet werden. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten tragen wesentlich zur Sogkraft der Geschichte bei.

Fazit:

Psychologische Spannung, menschliche Abgründe, unerwartete Wendungen, dichte Atmosphäre? Was will man mehr! Bei mir sorgte das Buch für ein entspannendes, spannendes Lesewochenende.

Bewertung vom 26.01.2024
Das fehlende Glied in der Kette / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.1
Christie, Agatha

Das fehlende Glied in der Kette / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.1


ausgezeichnet

In diesem Roman stellte Agatha Christie erstmals den belgischen Detektiv Hercule Poirot in den Mittelpunkt. Da konnte die Großmeisterin des gepflegten britischen Kriminalromans sicher selber noch nicht ahnen, welchen Siegeszug der selbstherrliche, eitle Poirot antreten würde: 33 Romane, zwei Theaterstücke und 55 Kurzgeschichten!

Interessanterweise konnte sie ihre eigene Kreation im Laufe der Jahre immer weniger ausstehen … Christie schrieb in ihrer Autobiografie und in verschiedenen Briefen über ihre Frustration bezüglich Poirot, und es wird oft zitiert, dass sie ihn als 'aufgeblasenen kleinen Idioten' bezeichnete. Trotz ihrer persönlichen Ansichten über Poirot war Christie jedoch professionell genug, die Wünsche ihrer Leserschaft zu respektieren.

In seinem Debüt wird der belgische Flüchtling Hercule Poirot beauftragt, den Mord an Emily Inglethorp, der reichen Herrin von Styles Court, aufzuklären.

Die Handlung zeigt bereits einige Merkmale, die sich im Laufe der Jahrzehnte zu Christies Markenzeichen entwickeln würden: Innovative Wendungen spielen mit den damaligen Konventionen des Genres, und sorgfältig aufgeschlüsselte Hinweise ermöglichen dem aufmerksamen Leser, den Fall schon vor dem Detektiv (hier Poirot, später auch Miss Marple) zu lösen. Die Spannung wird durch ein komplexes Netz aus Verdächtigungen aufrechterhalten.

Christie verwendet einen klaren, direkten Stil, der für Leser:innen leicht zugänglich ist. Ihre präzise Sprache und ihre Fähigkeit, Details zu vermitteln, ohne langatmig zu wirken, tragen zur Lesefreude bei, und ich liebe vor allem ihren wunderbar trockenen Humor.

In meinen Augen reift ihr Stil im Laufe ihres Lebens immer mehr aus, doch «Das fehlende Glied in der Kette» ist bereits ein bemerkenswerter Roman!

Bewertung vom 26.01.2024
Mord auf dem Golfplatz / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.2
Christie, Agatha

Mord auf dem Golfplatz / Ein Fall für Hercule Poirot Bd.2


ausgezeichnet

In diesem Werk begleiten wir den belgischen Detektiv Hercule Poirot und seinen Freund Captain Hastings nach Merlinville-sur-mer, Frankreich. Der Grund ihrer Reise ist das Hilfegesuch eines französischen Multimillionärs, der um sein Leben fürchtet.
Als sie eintreffen, ist es jedoch bereits zu spät: Paul Renauld wurde tot auf dem Golfplatz aufgefunden, erdolcht mit einem Brieföffner​​. Poirot und Hastings schließen sich den lokalen Ermittlern an, um den Mord aufzuklären. Neben der Familie des Opfers und den Hausangestellten tauchen schnell weitere Verdächtige auf, während Poirot auch noch eine parallele Handlung in London und anderen Teilen Frankreichs verfolgt. Zusätzliche Komplexität erhält die Geschichte durch ein zweites Mordopfer, einen möglicherweise zu Unrecht Verdächtigten und einen Konkurrenten Poirots, der sich als der bessere Detektiv erweisen möchte.

Wie man das von der Großmeisterin des britischen Whodunits kennt, hat auch «Mord auf dem Golfplatz» überraschende Wendungen, komplexe Handlungsstränge, falsche Fährten und eine intelligente Spannung zu bieten. Und natürlich darf auch Christies wunderbar trockener Humor nicht fehlen! Dieser wird hier vor allem dadurch befeuert, dass der selbstherrliche Poirot sich mit einem nicht minder selbstherrlichen Herausforderer messen muss. Da kann Hastings eigentlich nur noch mit dem Kopf schütteln, hält seinem Freund Poirot aber dennoch die Treue.

Viele moderne Lesende werden hingegen ob Hastings veraltetem Frauenbild den Kopf schütteln! Da der Roman jedoch bereits 1923 erschien, kann man das Dame Agatha Christie meines Erachtens nicht ankreiden; es ist sicher realistisch und nicht ungewöhnlich für die Zeit.

Bewertung vom 08.01.2024
Helle Tage, dunkle Schuld
Völler, Eva

Helle Tage, dunkle Schuld


gut

⭐⭐⚝

Wir befinden uns im Ruhrgebiet im Jahr 1948. Der Kriminalbeamte Carl Bruns, der im Nazi-Regime den Ariernachweis nicht erbringen konnte und daher postwendend entlassen wurde, nimmt seinen Beruf im Essener Polizeipräsidium wieder auf. In einer schwärenden Atmosphäre der oft verdrängten Schuld sieht er sich schon bald mit einem Mordfall konfrontiert, der möglicherweise mit einem der zahlreichen grauenvollen Kriegsverbrechen verbunden ist.

Während seiner Ermittlungen begegnet Carl seiner Jugendliebe Anna, gerät selbst ins Visier des Mörders und beobachtet ernüchtert die Fallstricke der Entnazifizierung.

Eva Völler betritt hier erstmals das Genre des historischen Kriminalromans; das Ergebnis ist vielversprechend, hat meines Erachtens jedoch auch deutliche Schwächen.

Großartige Szenen, in denen die Nachkriegszeit eindringlich und mit viel Gespür für historische Details zum Leben erwacht, wechseln sich ab mit Momenten des Pathos und der aufgesetzten Emotionalität. Dies wäre gar nicht nötig gewesen, hat die beschriebene Situation doch mehr als genug Konflikt- und Spannungspotential!

Ähnlich gespalten empfand ich die Darstellung der Protagonisten und Protagonistinnen. Ja, die Grundlagen für komplexe, vielschichtige Charaktere sind gegeben! Aber leider erweisen sich diese Grundlagen in meinen Augen oft als Brachland, weil Charakterzüge und Eigenschaften übersteigert werden, statt sie mit psychologischem Gespür zu entwickeln.

«Wie ließ es sich sonst erklären, dass ihr Herz jedes Mal aus dem Takt geriet, wenn sie vor seiner Tür stand und darauf wartete, dass er ihr aufmachte? Oder dass sie schon bei dem Gedanken an seine Küsse feucht wurde und beim Liebesakt binnen Sekunden zum Höhepunkt kam, ehe er noch vollständig in sie eingedrungen war? In seinen Armen zu liegen, fühlte sich an wie eine machtvolle Droge, und sobald sie von seinem Bett aufstand und in ihre Sachen schlüpfte, spürte sie schon die trostlose Kälte des nahenden Entzugs.

(…)

Ihr Haar rieselte wie flüssiges Gold auf ihre Schultern, und ihre Brüste wölbten sich über ihrer schlanken Mitte in makellos straffer Fülle. Die fast madonnenhaften Züge ihres Gesichts bildeten einen irritierenden Gegensatz zu den sinnlichen Kurven ihres Körpers, abgesehen von den herzförmig geschwungenen Lippen, die auch ungeschminkt aussahen, als wäre sie jederzeit bereit zu einem Kuss.»
(Zitat)

Die Autorin beschreibt weibliche Charaktere mitunter mit geradezu 'männlichem Blick', im Sinne des oft zitierten Stereotyps. Eigenschaften wie Unschuld und Selbstlosigkeit werden mit Eigenschaften wie Attraktivität und sexuelle Verfügbarkeit kombiniert, was eine idealisierte und unrealistische Sicht auf die weibliche Figur erzeugt. Zudem werden die Traumata, die mit der Prostitution in der Nachkriegszeit verbunden sein können, dadurch in meinen Augen trivialisiert.

Die Liebesgeschichte zwischen den Hauptfiguren empfand ich leider als aufgesetzt und klischeehaft. Sie nimmt sehr viel Raum ein, während andere Themenkomplexe vernachlässigt wurden – insbesondere die Ermittlungsarbeit des eigentlichen Kriminalfalls, wodurch Spannung verloren geht.

Fazit:

«Helle Tage, dunkle Schuld» verbindet die Komplexität der Nachkriegszeit in Deutschland mit einem auf Tatsachen beruhenden Kriminalfall. Ein vielversprechender Ansatz! Doch bedauerlicherweise wich meine anfängliche Begeisterung schnell einer gewissen Ernüchterung; interessante Einblicke in die Gesellschaft der Zeit können nicht über fehlende Spannung und eine schwächelnde Charakterzeichnung hinwegtäuschen.