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Mikka Liest
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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

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Insgesamt 732 Bewertungen
Bewertung vom 16.10.2023
Drifter
Sterblich, Ulrike

Drifter


ausgezeichnet

Wenzel und Killer: Beste Freunde seit Kindertagen. Verdienen ihr Geld damit, in PR und Social Media Parallelwelten zu erschaffen, Trugwelten, schaumschlagende Scheinwelten. Ihre Freundschaft ist eine Blase in der Zeit, die zu platzen droht, als Killer die Scheinheiligkeit dieser Welten erkennt.

«Ich wollte zurück ins Altbekannte; er wollte, dass ich ihm folgte auf neues Terrain.»
(Wenzel)

Vica: Alterslose, hedonistische Schönheit im goldenen Kleid, mit tanzendem Hund. In ihrem Umfeld erfüllen sich Wünsche; die Realität changiert zwischen Chance und Illusion. Magie trifft auf Börsenkurse.

«Potenziale. Potenziale schlummern und werden erst durch Kontakt, Vermischung, Symbiose lebendig.»
(Killer)

Drifter: Mysteriöser Schriftsteller, von dem nicht nur Wenzel besessen ist. Hat vielleicht ein Buch geschrieben, das nur in Vicas Händen existiert.

«Egal wie nahe man an der Perfektion ist, man sieht immer nur die Differenz, das, was fehlt. Schon die kleinste Abweichung zerstört die Perfektion, sodass sie unerreichbar wird. Der Maßstab wird dann niemals mehr erfüllt und ist deshalb eigentlich sinnlos. Man könnte sogar sagen, die Suche nach Perfektion ist überhaupt der Fehler. Der Makel liegt nicht in der lädierten Vollkommenheit, der Makel liegt darin, Vollkommenheit zu wollen.»
(Killer)

Schreibstil: Überrascht mit bestechenden Bildern und magischem Realismus. Spielt mit Farben, mit Licht und Schatten, verliert jedoch nie seinen Witz – da sind Wolken schon mal 'auf Krawall gebürstet' und es gibt ein 'Ministerium für ehrliche Propaganda'.

Themen: Realität und Fiktion. Status Quo und Bruch mit dem, was man zu wissen glaubte. Fremdbestimmung und Selbstbestimmtheit.

Fazit:

Die Wirklichkeit zersplittert in Fragmente, Themen werden immer wieder aufgegriffen und neu interpretiert. Mit einer bildreichen, humorvollen Sprache zieht die Autorin ihre Leser:innen tiefer und tiefer in eine magische Realität, bis man – irgendwie, irgendwann – den Boden der Tatsachen erreicht.

Eine intensive Reflexion über die Fragilität der Realität, aber auch eine scharfzüngige Satire.

Bewertung vom 12.10.2023
Echtzeitalter
Schachinger, Tonio

Echtzeitalter


ausgezeichnet

Thomas Mann, E-Sport, Coming of Age

Sprache ist ein zentrales Thema in diesem Buch, und doch ist da eine tiefgehende Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Worte werden gesprochen, geflüstert, gebrüllt. Worte fallen. Worte fallen in eine unüberbrückbare Kluft, sammeln sich an deren Grund wie der Schnee von gestern.

Manche, wie der despotische Klassenlehrer Dolinar, sehen dies als Affront, als respektlose Verweigerung der Jugend, alte Werte und alte Machtverhältnisse anzuerkennen. Andere, wie Tills Mutter, bemühen sich darum, eine Verbindung herzustellen, müssen jedoch feststellen, dass sie zur Lebenswelt ihrer Kinder keinen Zugang finden, weil sie deren Sprache nicht sprechen. Denn für die ist Sprache etwas Fließendes: eine Mischung aus Deutsch, Englisch und Wortneuschöpfungen, die die Grenzen der eigenen Lebensrealität abstecken.

Dies bringt uns auch zum Thema 'Literatur und deren Bedeutung':

Dolinar treibt seinen Schüler:innen die Liebe zur Literatur eher aus, als sie zu fördern; bei ihm wird jedes noch so bedeutungsvolle Werk zu einem starren, toten Gebilde, jede Interpretation zum Grabraub. Literatur ist nichts, was man selber entdeckt. Literatur ist nichts, was man im Kontext des eigenen Lebens neu interpretiert. Jeglicher Nachhall wird erstickt, indem lebendige Worte reduziert werde auf vorgegebene Interpretationsschemata.

Wer in Dolinars Klasse doch einmal aufhorcht und überrascht feststellt, dass ein Klassiker durchaus Bedeutung fürs eigene Leben hat, wird schnell zurechtgestutzt. Denn das tut der Dolinar gerne: Jede Gelegenheit, zu höhnen, zu demütigen, geifernd zu beschimpfen, wird genutzt.

Der Kontrast zwischen Tills Aufstieg im E-Sport und seiner konstanten Herabwürdigung in der elitären Welt des Internats wird er zum Symbol für ein weiteres Schlüsselthema des Buches: den Erwartungsdruck, dem junge Menschen in einer prägenden Phase ihres Lebens ausgesetzt sind. Hier bringt der Autor auch die Themen Klassismus und Privilegien aufs Tapet, und zerpflückt ganz nebenher die Dünkel der Österreichischen Gesellschaft.

Tonio Schachinger findet den perfekten Schreibstil für diese Geschichte: unterhaltsam und doch markerschütternd prägnant.

2 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.10.2023
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry / Harold Fry Bd.1
Joyce, Rachel

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry / Harold Fry Bd.1


ausgezeichnet

»Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg.«

Harold Fry, ein unscheinbarer Mann in seinen Sechzigern, begibt sich auf eine spontane Pilgerreise von über 1.000 km, um seine sterbende Freundin Queenie zu besuchen. Seine Frau Maureen erwartet zunächst, dass er bald scheitern und zurückkehren wird, doch stattdessen führt jeder Kilometer Harold näher zu sich selbst. Alles reduziert sich auf das Wesentliche, jeder Schritt wird zu einer Reise der Selbstfindung und des persönlichen Wachstums.

Konfrontiert mit unausgesprochenen Wünschen, gescheiterten Hoffnungen und lähmendem Bedauern, muss Harold lernen, sich selbst zu vergeben und einen Neuanfang zu wagen.

Das Überbringen eines Briefes ist im Grunde ein schlichter, gradliniger Vorgang, doch Rachel Joyce nimmt ihn als Ausgangspunkt für eine vielschichtige Erzählung über das Leben, die Liebe und die menschliche Natur. Sie lotet die Tiefen der menschlichen Emotionen aus und kreist dabei immer wieder um das Thema Trauer, doch sie verfällt niemals in schnöden Betroffenheitskitsch.

Der Roman entwickelt eine ungeheure Sogwirkung, denn Harold kann als authentischer, tiefgründiger Charakter überzeugen. Bevor man sich versieht, hat man schon eine starke emotionale Bindung zu ihm aufgebaut und verfolgt gespannt seine Entwicklung im Laufe der Geschichte. Auch die Nebencharaktere sind gut geschrieben; in jedem davon blitzt ein Moment der emotionalen Wahrheit auf, wenn sie Harold begegnen.

Rachel Joyce fasst die Gefühle und Gedanken ihrer Charaktere in poetische, einfühlsame Worte, die lange nachhallen. Die emotionale Tiefe der Geschichte, die Nuancen der Charaktere und der eindringliche Schreibstil machen den Roman zu einem herzergreifenden und lohnenden Leseerlebnis.

Bewertung vom 29.09.2023
Die Ladenhüterin
Murata, Sayaka

Die Ladenhüterin


ausgezeichnet

»Irasshaimase konnichi wa!«

Keiko ist Mitte dreißig, Single, und arbeitet schon ihr halbes Leben als Aushilfe in einem 24-Stunden-Supermarkt, einem 'Konbini'. Wie es von dessen Verhaltensregeln verlangt wird, perfektioniert sie mit Hingabe das inhaltlich korrekte Kundengespräch, den korrekten Gesichtsausdruck, den korrekten Tonfall in der Stimme. Sie ist stolz, wenn es ihr gelingt, das Tagesangebote mehr als 200 Mal zu verkaufen.

Sie isst, um dem Laden dienen zu können. Sie pflegt sich, um dem Laden dienen zu können. Sie schläft ausreichend, um dem Laden dienen zu können. Routine ist für sie fast so wichtig, wie die Luft zum Atmen. Sie versteht andere Menschen nicht, ahmt ihr Verhalten lediglich nach; gesellschaftliche Anforderungen sind eine Fremdsprache, die sie nicht spricht.

Der Konbini ist ein Mikrokosmos, der Keiko Sicherheit und Erfüllung bietet. Sie verlangt nicht viel vom Leben, tut auch niemandem weh damit, doch ihre Zufriedenheit wird als Affront wahrgenommen. Sie erfüllt nicht die gesellschaftlichen Erwartungen: Mitte dreißig, aber noch Single? Mitte dreißig, aber noch keine Kinder? Mitte dreißig, aber auf der Karriereleiter noch ganz unten?

出る釘は打たれる
Altes japanisches Sprichwort:
»Der herausstehende Nagel wird eingeschlagen«

In ihrem Bestreben, sich als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft zu etablieren, gerät Keiko auf Abwege, die sie letztlich nur noch weiter von der Norm entfernen. Sie wagt etwas Neues, doch Sayaka Murata schildert dies nicht als Befreiung. In nüchternen, unaufgeregten Worten zeichnet sie ein beklemmendes, wenn auch überzeichnetes Bild von den Zwängen, die Frauen von der Gesellschaft auferlegt werden. Umfeld und Seelenleben der Protagonistin werden ebenfalls mit nur wenigen, indes prägnanten Strichen umrissen.

Die Sparsamkeit des Schreibstils ist in meinen Augen jedoch kein Manko, sondern eine Kunst: Die Geschichte ist oft geradezu skurril, doch im Kern durch und durch vorstellbar; sie ist lediglich auf die knappsten Grundzüge der Problematik konzentriert. Dies ist ein Roman, den man auch zwischen den Zeilen lesen muss – und ein Roman, den ich sehr gerne gelesen habe.

Bewertung vom 26.09.2023
Felix Ever After
Callender, Kacen

Felix Ever After


sehr gut

Felix Love war noch nie verliebt – die Ironie ist ihm durchaus bewusst. Er ist schwarz, transgender und schwul, das macht es nicht unbedingt einfacher! Zwar erfährt er durchaus Unterstützung, aber natürlich gibt es da auch die schrägen Blicke und gewisperten Bemerkungen. Und eines Tages kommt Felix zur Schule und sieht sich riesigen Plakaten gegenüber, die ihn zeigen, wie er vor seiner Transition aussah. Daneben dick und fett sein 'Deadname' (sein früherer Name), was in Felix schreckliche Panikattacken auslöst. Wie soll er sich in der Schule jetzt je wieder sicher fühlen? Wer steckt hinter dieser heimtückischen Attacke?

Felix glaubt es zu wissen und er ist auf Rache aus – es muss sein Rivale Declan sein, der ihm das Stipendium abluchsen könnte. Der soll jetzt am eigenen Leibe erfahren, wie sich so ein Verrat anfühlt! Und so beginnt Felix damit, sich per Text-Nachrichten das Vertrauen seines Gegners zu erschleichen… Der Plan: der andere soll sich verlieben, damit Felix ihn dann gnadenlos abservieren kann. Nur läuft das alles nicht ganz so, wie geplant.

Mit Declan zu reden hilft Felix dabei, mit seiner Angststörung fertig zu werden, wieder mit sich ins Reine zu kommen. Und schon bald ertappt er sich dabei, wie ihm die Nachrichten immer wichtiger werden – kann das sein, ist er dabei, sich zu verlieben?!

Man merkt, dass Kacen Callender als schwarze, nicht-binäre Persönlichkeit eigene Erfahrungen mitbringt, was geschlechtliche Identität und die damit verbundenen Vorurteile betrifft. Callender spricht authentisch, sensibel und inklusiv über Identität, Selbstwert, und das Ringen um Anerkennung in einer Welt, die dich als Außenseiter sieht. Verschiedene Charaktere bringen verschiedene Themen aufs Tapet, denn rund um Felix herum hat sich eine Gruppe von Freunden versammelt, die alle auf verschiedenste Art und Weise nicht der 'Norm' entsprechen.

»Felix Ever After« ist eine wunderbare Geschichte, die nicht nur lehrreich ist, sondern auch unterhaltsam und sehr bewegend. Besonders schön fand ich, wie Callender über die Fluidität geschlechtlicher Identität schreibt, denn Felix ist noch nicht ganz angekommen mit seiner Selbstfindung.

Bewertung vom 16.09.2023
Die Unbändigen
Hart, Emilia

Die Unbändigen


ausgezeichnet

Altha ist Heilerin und bezieht ihre Kraft aus einer tiefen Verbundenheit zur Tier- und Pflanzenwelt. Entgegen der Norm der Zeit ist sie eine unabhängige Frau, die im Jahr 1619 des Mordes per Hexerei beschuldigt wird.

Violet lebt im Herrenhaus ihres gestrengen Vaters, der versucht, ihr die unziemliche Naturverbundenheit auszutreiben und sie ins Korsett einer damenhaften Weiblichkeit zu zwängen. Im Jahr 1942 verspricht eine schicksalhafte Begegnung Freiheit – und bringt Violet doch vor allem Schmerz und Gewalt.

Kate flieht im Jahr 2019 vor ihrem gewalttätigen Freund und zieht in das Cottage, das sie überraschend von ihrer Großtante geerbt hat. Dort stößt sie auf alte Aufzeichnungen, die sie auf die Spur ihrer Familiengeschichte führen, und damit auch zu Altha und Violet.

Während die Frauen in ihren jeweiligen Epochen mit patriarchaler Gewalt und Unterdrückung konfrontiert sind, erkunden sie dennoch ihre eigenen Fähigkeiten und Stärken. Die Handlung thematisiert vor allem weibliche Solidarität, Naturverbundenheit und die Kraft der Frauen, in einer von Männern dominierten Welt zu überleben und den eigenen Wert zu behaupten.

In Emilia Harts bildhaften, atmosphärischen Worten entspinnt sich eine Geschichte, deren Spannungsbogen sich nur langsam entfaltet, die jedoch zunehmend an emotionaler Wucht gewinnt. Jede Seite fesselte mich mehr an meinen eReader, und die Elemente des magischen Realismus tun dem Realismus der Themen, und damit deren Wirkung, keinen Abbruch.

Ich fühlte mich Altha, Violet und Kate sehr verbunden, denn sie werden ungemein lebendig, vielschichtig und authentisch beschrieben. Ihre Geschichte ist oft schmerzhaft; ich wollte die Ungerechtigkeiten, die diesen Frauen widerfahren, von den Dächern brüllen. Doch auch die positiven Erlebnisse sind emotional berührend, sodass Emilia Hart die Gefühlswelt ihrer Protagonistinnen umfassend und stets sensibel darstellt.

Insgesamt ist »Die Unbändigen« ein beeindruckendes Debüt, das mich sehr beeindruckt hat.

Bewertung vom 14.09.2023
Die Tochter des Doktor Moreau
Moreno-Garcia, Silvia

Die Tochter des Doktor Moreau


ausgezeichnet

Mexiko, spätes 19. Jahrhundert: Auf einer Forschungsstation im Dschungel der Halbinsel Yucatán wächst die schöne Carlota als behütete Tochter des genialen Doktor Moreau auf. Ihr idyllisches Leben wird auf den Kopf gestellt, als der Sohn des Geldgebers ihres Vaters überraschend auf der Insel eintrifft und um ihr Herz wirbt. Dies führt zu einer Kette von Ereignissen, die finstere Machenschaften ans Licht bringen: Hinter den Mauern des Anwesens verbergen sich Labore, wo fragwürdige Experimente menschliche und tierische DNA miteinander verschmelzen.

⇢ Dies ist eine Neuinterpretation des Klassikers »Die Insel des Dr. Moreau« von H.G. Wells, kann aber auch ohne Vorkenntnisse gelesen werden. ⇠

In meinen Augen handelt es sich hier um ein Werk, das man nicht übereilt lesen sollte. Dazu verbirgt sich zu viel in dieser komplexen Geschichte, die nicht nur Elemente aus verschiedenen Genres kombiniert, sondern auch eine Vielzahl an historischen und gesellschaftlichen Themen, wie z. B. den Unabhängigkeitskrieg der Maya-Bevölkerung auf Yucatán. Dies verleiht der Neuinterpretation eine einzigartige Note.

Anfangs erschien mir die Geschichte noch schwer zugänglich, das Tempo eher träge. Doch im Verlaufe der Handlung baut sich eine dunkle, dräuende Spannung auf, die sich mit unterschwelligem Horror verbindet – bis hin zu einem nervenaufreibenden Finale. Silvia Moreno-Garcia fasst die Geschehnisse in bildgewaltige, atmosphärische Beschreibungen, denen man sich immer weniger entziehen kann oder auch nur möchte.

Die Charaktere sind gut ausgearbeitet; im Verlaufe des Buches beweisen sie sich als vielschichtige Persönlichkeiten.

Einige überraschende Enthüllungen blitzen auf als rätselhafte Schemen, in die man wie bei einem Rorschachtest eine Vielzahl hineininterpretieren kann: Parallelen zu historischen Entwicklungen, Überlegungen zum Wesen der menschlichen Natur... Jeder Charakter entpuppt sich als komplexer, als in den ersten Kapiteln ersichtlich war.

Insgesamt ist »Die Tochter der Doktor Moreau« für mich ein Buch, in das man etwas Zeit und Mühe investieren muss, das dieses jedoch mehr als lohnt.

Bewertung vom 25.08.2023
Der Freund der Toten
Kidd, Jess

Der Freund der Toten


ausgezeichnet

Seine Kindheit in einem Dubliner Waisenhaus hat der Tunichtgut Mahoney schon einige Jahre hinter sich gelassen. Mit Witz und Charme mogelt er sich nun durchs Leben und ist auch dem gelegentlichen Diebstahl nicht abgeneigt. Doch seine Überzeugung, seine Mutter habe ihn aus mangelnder Liebe verstoßen, gerät jäh ins Wanken, als er einen Brief erhält, der eine viel grausamere Erklärung andeutet. Was ist damals mit seiner Mutter geschehen?

Kurz entschlossen reist er ins irische Städtchen Mulderrig, wo sie einst lebte. Dort findet er eine Verbündete in der alten Mrs Cauley, die überzeugt ist, Mahoneys Mutter sei ermordet worden. Andere Bewohner begegnen ihm mit Misstrauen und Ablehnung, denn sie sehen in seinen Zügen den Schatten einer Vergangenheit, die sie schon lange begraben wähnten … Doch Mahoney besitzt eine ungewöhnliche Gabe: Er kann Geister sehen, die ihn auf ihre eigene Weise unterstützen oder beeinflussen.

Die Handlung sprüht vor Einfallsreichtum; Jess Kidd verwebt Krimi, Urban Fantasy, Schelmen- und Entwicklungsroman zu einer stimmigen Mischung, gewürzt mit Humor und irischem Flair. Ich bin beeindruckt von ihrer literarischen Bandbreite: Drama und Tragik, Unterhaltsamkeit und Spannung, Liebe und feiner Witz, sie porträtiert alles mit der gleichen Leichtigkeit, ohne je ins Banale abzugleiten.

Ihre Sprache tanzt nur so durch die Geschichte, mit poetischen Worten, bildgewaltigen Beschreibungen und viel Charme und Ambiente. Sie schreckt allerdings auch vor dem Makabren nicht zurück.

Die Spannung baut sich schnell auf, und die Kombination aus Geheimnissen, ungelösten Rätseln und übernatürlichen Elementen sorgt für eine ganz eigene Note. Man sollte ja meinen, dass Geister der Logik und Schlüssigkeit abträglich wären! Tatsächlich fügen sie sich jedoch organisch in die Geschichte ein und tragen sogar zur Enthüllung der Geheimnisse bei.

Die Charaktere sind komplex und vielschichtig, gut ausgearbeitet und lebendig. Sie haben alle ihre Schrullen und Schwächen, und gerade das macht sie einnehmend und überzeugend.

Ich hatte viel Freude an diesem rundum außergewöhnlichen Roman.

Bewertung vom 19.08.2023
Idol in Flammen
Usami, Rin

Idol in Flammen


ausgezeichnet

Das ganze Leben der 17-jährigen Akari dreht sich um Masaki, Mitglied einer beliebten J-Pop-Gruppe. Die Schülerin arbeitet Überstunden, nur um all ihr Geld für Tickets und Merchandise auszugeben. Noten sind unwichtig. Ihre Familie ist unwichtig. Ihre Zukunft ist unwichtig. Alles ist unwichtig, nur nicht Masaki. Doch eines Morgens wacht sie in einer Welt auf, die aus den Fugen geraten ist: Masaki soll einen weiblichen Fan geschlagen haben, und so stürzt das Idol vom Himmel, der Sonne zu nah gekommen. Doch so viele Anhänger:innen sich jetzt auch von ihm abwenden, Akari kann und will sich von ihrer emotionalen Abhängigkeit nicht lösen.

Ist das nicht ihre Chance, sich als wahrer Fan zu beweisen? Wenn ihr Idol in Flammen steht, sollte sie dann nicht ebenfalls brennen?

Akari erscheint nur wenig verwurzelt in ihrer eigenen Gefühlswelt. Dennoch entwickelt die Handlung eine emotionale Intensität, die sich aus ihrer bedingungslosen Obsession speist. Die Schülerin reduziert sich vollkommen auf ihre Rolle als Masakis treusten Fan und wird dadurch zum perfekten Sinnbild für eine problematische Fankultur, die die Individualität ihrer Anhänger:innen erstickt.

Ihre Persönlichkeit verbirgt sich im Ungesagten, im Unterdrückten — in dem, was sie ihrem Idol opfert, ohne dass Masaki auch nur von ihrer Identität weiß. Als Leser:in musst du zwischen den Zeilen lesen, die Leerstellen selber füllen, sodass Tiefgang eher angedeutet als ausgestaltet wird. Wie bei einem Haiku vervollständigt sich die Bedeutung erst im Erleben der Lesenden; nicht alles wird ausgeschrieben oder benannt.

Wer mit dem Thema der asiatischen Idolkultur bereits vertraut ist, wird hier möglicherweise nicht viel Neues entdecken. Dennoch gelingt Rin Usami eine bestechende Darstellung von Haltlosigkeit und sozialer Isolation, gezeichnet in minimalistischen, geradezu nüchternen Worten. Akaris familiärer Hintergrund bleibt offen, was ihre Einsamkeit jedoch nur weiter hervorhebt.

Die Geschichte regt zum Nachdenken an, indem sie den ein oder anderen Stein ins Gewässer wirft. Den Kreisen, die sich bilden, musst du schon selber behutsam nachspüren, hier wird nur wenig erklärt.

Bewertung vom 18.08.2023
Magie und Milchschaum / Die Viv-Chroniken Bd.1
Baldree, Travis

Magie und Milchschaum / Die Viv-Chroniken Bd.1


ausgezeichnet

Als Ork-Frau weiß Viv nur zu gut, dass jeder von ihr erwartet, dass sie aggressiv und dumm ist. Und bisher hat ihr Leben als Kriegerin nur wenig dazu beigetragen, dieses Vorurteil zu wiederlegen, aber sie ist des Kämpfens müde. Sie liest leidenschaftlich gerne und wünscht sich nichts sehnlicher, als ein gemütliches Kaffeehaus zu führen, wo die Gäste sich wohl fühlen – egal, ob Zwerge, Hobgoblins, Menschen oder Kobolde.

Kann sie sich denn nicht verändern, den Erwartungen trotzen? Kann sie nicht das Schwert an den Nagel hängen (buchstäblich, als Dekoration ihres Cafés) und sich stattdessen Kaffeebohnen, Schokolade und köstlichem Gebäck widmen? Gedacht, getan: Viv versammelt eine Reihe von Angestellten um sich, die alle nicht den Vorurteilen entsprechen, mit denen sie konfrontiert werden. Schnell wird daraus eine kleine Familie, die ihre Stärken gemeinsam einsetzen, um ihre Schwächen abzufangen. Und ganz nebenbei gibt es noch eine bezaubernde LGBTQIA+ Liebesgeschichte.

Gemütliche Fantasy in ihrer besten Form: Dieses Buch ist einfach rundum entzückend und wohltuend, mit einer herzerwärmenden Botschaft, viel Kaffeehaus-Atmosphäre und zahlreichen Beschreibungen köstlicher Backwaren. Unbedingt bei einer Tasse Kaffee und mit einigen Leckereien in Reichweite lesen!