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Bories vom Berg
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München
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Bewertungen

Insgesamt 798 Bewertungen
Bewertung vom 18.06.2022
Die Tschechow-Leserin
Corsalini, Giulia

Die Tschechow-Leserin


gut

Traumverlorene Selbstreflexion

Der Titel des Debütromans der italienischen Literatur-Wissenschaftlerin Giulia Corsalini lässt aufhorchen, «Die Tschechow-Leserin» dürfte zumindest die an gehobener Literatur interessierten Leser neugierig machen. Die vierzigjährige Ich-Erzählerin und Protagonistin Nina stammt aus Kiew. Sie hat einen Ruf als Spezialistin für Tschechow, lebt aber mangels beruflicher Chancen mit ihrem pflegebedürftigen Mann und der achtzehnjährigen Tochter Katja in prekären Verhältnissen. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern und vor allem der Tochter ein Medizinstudium zu ermöglichen, verlässt sie die Ukraine und nimmt in Italien eine Stelle als Pflegerin bei einer alten Dame an.

Die gleichförmige, wenig erfreuliche Arbeit und ihre Einsamkeit in der Universitätsstadt Macerata weckt in ihr wieder die Leidenschaft für Literatur, die lange Zeit unter dem Druck der widrigen Lebensumstände verdrängt war. Sie sucht in ihrer freien Zeit die Universitäts-Bibliothek auf, beginnt sich wieder intensiv mit Tschechow zu befassen und lernt im Institut für Slawistik den Professor De Felice kennen. Der bietet ihr schon bald einen befristeten Lehrauftrag an, den sie neben ihrem Putzfrauenjob in einem Supermarkt ausüben kann. Mit den Studenten untersucht sie in ihren Vorlesungen den Einfluss Tschechows auf die italienische Erzähl-Literatur und erfüllt zur Zufriedenheit aller die Erwartungen an ihre Dozentur. Ihre Beziehung zu dem zwanzig Jahre älteren Russisch-Professor bleibt, obwohl sie sich auch privat etwas näher kommen, rein intellektueller Natur, man zollt sich gegenseitig höchsten Respekt, auch wenn es manchmal scheint, als wäre da mehr. Als sie die Nachricht erhält, dass es ihrem Mann deutlich schlechter geht, beschließt sie, endgültig nach Kiew zurückzukehren. Dabei vertraut sie dem Freund ihrer Tochter, der Arzt ist, dass mit einem schnellen Ableben aber nicht zu rechnen sei, und schiebt ihre Abreise um zwei Wochen hinaus. Ihr Mann stirbt jedoch überraschend schon drei Tage später, sie ist also nicht mehr rechtzeitig an sein Sterbebett gekommen, was ihr die Tochter sehr übel nimmt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt die Autorin, dass Nina in Kiew geblieben ist, dort eine Stelle am Institut für russische Sprache und Kultur angenommen und sich allmählich auch mit ihrer Tochter ausgesöhnt hat, die inzwischen selbst Mutter geworden ist. Acht Jahre nach ihrer überstürzten Abreise erhält sie aus Macerata die Einladung, auf einer dreitägigen Tschechow-Konferenz den Einführungs-Vortrag zu halten. Innerlich zerrissen widmet Nina sich dort aber einer ukrainischen Pflegekraft, die junge Frau ist im Umgang mit den Behörden völlig hilflos. Die Veranstaltung endet im Fiasko, sie lässt sich bei der Konferenz nicht blicken. Im Epilog wird geschildert, wie sie ein halbes Jahr später die Tochter besucht und die Nachricht erhält, dass De Felice gestorben ist. «Ich war eine leidenschaftliche Tschechow-Leserin: Es ist, als hätte ich dies alles schon immer vorausgeahnt», heißt es am Schluss.

Neben dem Thema Migration, welches im zweiten Teil einen breiten Raum einnimmt und ja auch die Protagonistin selbst betrifft, steht in diesem distanziert erzählten Roman aber vor allem Ninas innere Abkehr von ihrem ursprünglichen Leben im Blickpunkt. Ihr entgleiten die Dinge, sie tut nicht das, was sie eigentlich tun wollte und befindet sich am Ende in einer seelischen Vorhölle. Ein schicksalhafter Auflösungs-Prozess, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Es ist die permanente Selbstreflexion, die hier im Blickpunkt steht, als Romanfigur bleibt Nina auffallend blass, ihre Gefühle sind kaum zu entschlüsseln. Über allem liegt stilistisch die für Tschechow typische, traumverlorene Melancholie, und wie dieser belässt auch Giulia Corsalini vieles im Ungefähren und verzichtet auf psychologische Deutungen. Unpassend jedoch ist leider der Schluss des Romans, bei dem alle Dissonanzen zwischen Mutter und Tochter kurzerhand weggebügelt werden.

Bewertung vom 11.06.2022
Zukunftsmusik
Poladjan, Katerina

Zukunftsmusik


gut

Aus der Kommunalka

Als Roman einer Zeitenwende beschreibt «Zukunftsmusik» von Katerina Poladjan den Beginn einer neuen Ära in Russland, die sich in diesem Fall ungewöhnlich exakt auf ein genaues Datum fixieren lässt, den 11. März 1985. Aber ebenso exakt lässt sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Tag für das Ende dieser Ära benennen, der 24. Februar 2022. Natürlich konnten die Menschen im Roman nicht ahnen, was sich mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum ZK-Generalsekretär für sie verbessern würde, sie haben es allenfalls gespürt. So wie wir Heutigen noch nicht ahnen, was Putins Wahn letztendlich bedeutet.

Handlungsort ist eine unbenannte Stadt tausend Werst östlich von Moskau, wo sich in einer aus unterschiedlichsten Mitgliedern bestehenden, WG-ähnlichen Kommunalka mit sechs Mietparteien die Protagonisten des Romans eine Wohnung teilen. Da leben in einem der Zimmer auf engstem Raum Großmutter Warwara, pensionierte Hebamme, die aushilfsweise noch in der Klinik arbeitet und an diesem Tag einem Kind auf die Welt hilft. Mutter Maria arbeitet als Aufseherin im Museum und ist in Matwej verliebt. Ihre Tochter Janka schließlich arbeitet in Nachtschicht in der Glühlampenfabrik und will am Abend in der Küche ein Kwartirnik veranstalten, ein zur Umgehung der Zensur von jungen Leuten einfach in den Privathaushalt verlegtes Konzert. Der Ingenieur Matwej von nebenan hat einen schlechten Tag, denn einer der Probanden bei den von ihm betreuten Versuchen zur Aufhebung der Schwerkraft stirbt. Er hat die Marotte, alles aus seinem Leben in kleinen Kästchen aufzubewahren, deren Inhalte er geradezu zwanghaft ständig umsortiert. Der hoch angesehene alte Professor ist selten zu sehen, bei der Feier zu dessen letztem Geburtstag nutzte Ippolit, Schaffner bei der Eisenbahn, die Gelegenheit und flüsterte Warwara zu, «er sei schon lange hinter ihr her, ihre Verbindung sei durch die Vorsehung bestimmt, und nun sei es an der Zeit, sich dem Schicksal zu ergeben. Warwara ließ ihn wissen, sie werde über sein Ansinnen nachdenken und ihn bezüglich ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen». Sie hat ihn erhört!

Bezeichnend für die Verhältnisse ist eine Szene, in der sich Maria an diesem 11. März spontan in einer Schlange mit anstellt, die bis weit auf die Straße hinaus reicht. «Was glauben Sie, was uns erwartet»? fragt sie den Mann vor ihr. «Am Anfang dieser Schlange erwarten uns feine, rosa glänzende Krakauer Würstchen, und wenn wir Pech haben, erwartet uns das Nichts. Und bis wir an der Reihe sind, ist uns die Möglichkeit gegeben zu überlegen, ob wir das, wofür wir anstehen, überhaupt brauchen». Zwischen Resignation und Aufbruch in bessere Zeiten strahlen die Figuren des Romans eine innere Unruhe aus, die sich bereits von der Gegenwart gelöst zu haben scheint und einem Gefühl Platz gibt, das vielleicht ja doch alles besser werden könnte. Wobei die Befreiung aus den beengten Wohnverhältnissen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben steht.

Der für den Leipziger Buchpreis nominierte Roman enthält viele Anspielungen auf die russische Literatur, wobei besonders Zitate von Tschechow teils wörtlich übernommen werden. Deutliche Bezüge gibt es aber auch auf Bulgakow, dessen ins Surreale weisender Stil sich bei Katarina Poladjan in ihrem ins Fantastische übergehenden Schluss wiederfindet. Da öffnet sich der Flur plötzlich ins Freie, ohne das sich jemand daran stört. In der kleinen Küche tummeln sich unglaublich viele Leute, obwohl Janka selbst gar nicht auftritt. In Anspielung auf den «Kirschgarten» werden jede Menge kleine Bäumchen aus der Küche durch den Flur getragen, Menschen steigen aus dem Fenster und fliegen davon. Auffallend ist auch die Diskrepanz zwischen den geschliffenen Dialogen aller Bewohner, man siezt sich natürlich, und dem eher proletarisch anmutenden Leben in der beengten Wohnung. Dieser im Stil des Magischen Realismus ohne Larmoyanz geschriebene Roman aus einer Kommunalka ist eine bereichernde, aber auch amüsante Lektüre.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.06.2022
Rombo
Kinsky, Esther

Rombo


schlecht

Eine Geschichte, die partout keine sein will

Der das Thema des neuen Romans von Esther Kinsky bereits andeutende Titel «Rombo» steht im Italienischen mythisch für das dumpfe, mehr spür- als hörbare Grollen aus der Tiefe, welches heftigen Erdbeben vorauszugehen scheint. Es geht hier um die verheerenden Erdbeben, die am 6. Mai 1976 im Bereich des Monte San Simeone im Friaul begannen und denen im September gleichen Jahres weitere schwere Erdbeben folgten. Bis zum Herbst jenes Jahres zerstörten die gewaltigen Erschütterungen zehntausende Häuser und forderten fast tausend Tote. Wie schon in «Hain», ihrem letzten Roman, dienen auch hier ausufernde Beschreibungen von Natur und Landschaft als stimmungsmäßige Grundierung für das eigentliche Thema. Es geht um das menschliche Trauma bleibender Erinnerungen an zerstörerische Naturgewalten, das in Worte zu fassen nicht so einfach ist. Ähnlich traumatische Erfahrungen von 9/11, nicht weniger schrecklich, zeugen davon.

Jedes der sieben Abschnitte des Romans wird durch ein kurzes Zitat aus verschiedenen wissenschaftlichen Werken zur Geognosie eingeleitet, wie die Lehre von Aufbau und Struktur der Erdkruste im neunzehnten Jahrhundert noch hieß. Ebenso fachkundigen Ehrgeiz verwendet die Autorin auf ihre eigenen, minutiösen Schilderungen der zerklüfteten Landschaft des betroffenen Gebietes. Mit großer sprachlicher Präzision beschreibt sie die Eigenarten von Flora und Fauna der rauen Bergregion mit ihren oft extremen Wetterlagen. Die krempeln im Verein mit den häufigen Erdbeben die geologischen Verhältnisse manchmal derart um, dass quasi neues Gelände entsteht. Meist durch Felsstürze oder plötzliche Schneeschmelze verursacht, werden unversehens Flüsse und Bäche in ein entferntes Bett umgelenkt. Oder durch Fels und Geröll verursachte Aufstauungen lassen an anderer Stelle neue Tümpel und Teiche entstehen. - und nichts ist mehr, wie es mal war.

Wenn es im Roman heißt, «die Erinnerungen, das sind wir selbst», dann ist das ein Hinweis auf die sieben Dorfbewohner, die zum Teil als Ich-Erzähler in meist kurzen Erinnerungs-Schnipseln über sich selbst und ihre persönlichen Lebensumstände, vor allem aber über ihre Beobachtungen und Erlebnisse vor, beim und nach dem Erdbeben berichten. Allesamt Einwohner des armseligen Bergdorfes Venzone, das sich mangels Arbeitsplätzen zusehends entvölkert und immer mehr ins Abseits gedrängt wird. «Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vielen Mäulern bellt», merkt der alte Anselmo zum Thema an. Esther Kinsky verwendet ihre fiktiven Protokolle nicht dokumentarisch, sondern schiebt sie in scheinbar bunter Folge in ihre thematisch nur bruchstückhaft zusammen gefügten Natur-Betrachtungen ein. Angereichert wird dieses Pendeln zwischen den Erzähl-Gegenständen durch immer wieder mal eingeschobene Mythen wie die von «Rombo», dem seismischen Unglücksboten. Es gibt aber auch Legenden und Sagen, wie sie zum Beispiel im Lied von der «Riba Faronika», dem pharaonischen Fisch, in der Region weiterleben als eigenständige Schöpfungs-Geschichte.

Mit ihrem verstörenden Mix aus Natur, Trauma und Mythen stellt die Autorin dem äußeren Chaos ein poetologisches gegenüber, eines der Sphären und Wörter, wohl um das Unfassbare sichtbar zu machen. Insoweit kann man ihren artifiziellen Roman als metaphorisch angelegten Versuch über das Erinnern lesen. Und natürlich steckt darin auch die alte Frage der Theodizee, wie kann Gott das zulassen? Durch ihre peniblen Natur-Beschreibungen festigt sie zunehmend den Eindruck, dass aber alles richtig ist, wie es ist. All diesen vielen geologischen und biologischen Exkursen, den Berichten ihrer blutleer bleibenden Figuren, den knappen, auktorialen Ergänzungen über Land und Leute fehlt jedoch ein narrativer Überbau, der die nicht weniger als 142 disparaten Textblöcke zu einer als Roman überzeugenden Prosa mit erkennbar rotem Faden zusammen bindet. Denn so bleibt kaum was haften nach der Lektüre einer Geschichte, die nun mal partout keine sein will.

Bewertung vom 07.06.2022
Serge
Reza, Yasmina

Serge


weniger gut

Schade eigentlich

Wen wundert’s, dass auch «Serge», Yasmina Rezas neuer Roman, eher wie ein Drama in Prosaform wirkt. Er lebt sprachlich von seinen funkelnden Dialogen, mit denen die französische Schriftstellerin in ihren Theaterstücken ja ebenfalls brilliert. Hier nun kreuzen die Mitglieder einer jüdischen Familie verbal die Klingen. Der titelgebende Sohn Serge ist ein nichtsnutziger Aufschneider, der von seinem jüngeren Bruder Jean, dem Ich-Erzähler, maßlos bewundert wird. Jean selbst ist ein unscheinbarer Typ ohne Charisma, ein Leisetreter, der im Hintergrund bleibt und außer seiner Funktion als Protokollant auch kaum in das Geschehen hineinwirkt. Nana, die von allen geliebte Tochter der Poppers, hat einen nach Ansicht der Familie unpassenden Mann geheiratet. Sie ist aber im Beziehungs-Chaos der diversen anderen Familien-Mitglieder als einzige wirklich glücklich. Die nicht praktizierende jüdische Familie ist innerlich gespalten durch den Antisemitismus-Vorwurf, den der verstorbene Vater regelmäßig in die Debatte warf, wenn es um Israel und seine Politik ging. Wer diesen Staat kritisiert, ist gegen die Juden, so seine felsenfeste Überzeugung!

Das verkrachte Genie Serge, ein unsympathischer Kotzbrocken, ist als Sechzigjähriger auf der ganzen Linie gescheitert. Seine ominösen Geschäfte als Berater sind nur noch reine Luftnummern, die er sich aber unverdrossen schönredet, auch wenn er finanziell völlig am Ende ist. Seine Ehen sind ebenfalls gescheitert, um seine Kinder kümmert er sich kaum, sie leben bei den Müttern, Auch seine Beziehungen halten nicht lange, er vermasselt es jedes Mal. Als plötzlich auch die achtzigjährige Mutter stirbt, stellen die Geschwister fest, dass sie von ihren Vorfahren und deren Schicksal so gut wie nichts wissen, zum Fragen ist es nun aber zu spät. Auf Vorschlag der Tochter von Serge starten sie zu einem gemeinsamen Besuch nach Auschwitz. Wie zu erwarten ist auch hier Serge der Störenfried, er weigert sich, die wichtigen Stationen der Gedenkstätte zu betreten, zeigt keinerlei Interesse an dem, wovon doch auch seine eigene Familie betroffen war. Jean protokolliert, ebenfalls wenig beeindruckt, das abstoßende touristische Umfeld. Erstaunt stellt er fest, er habe noch nie eine so mit Blumen herausgeputzte Stadt wie Auschwitz gesehen. Was als Versuch gedacht war, das nach dem Tod der Mutter auseinander zu brechen drohende Familiengefüge zu erhalten, erweist sich als Illusion. «Nach unserer Rückkehr aus Auschwitz haben Nana und Serge übereinstimmend und ohne Absprache beschlossen, nie wieder miteinander zu reden».

Das zentrale Thema der Erinnerung wird hier weitgehend im Desaster einer tragikkomischen Reise behandelt, wobei die eigentlichen Motive der Suche nach familiären Spuren und nach Wahrheit völlig in den Hintergrund geraten. Mit ihrer genauen Beobachtungsgabe und der ungenierten Art, Figuren sezierend kühl zu beschreiben, gleichzeitig aber auch noch warmherzig auf sie zu blicken, bewirkt die Autorin eine zuweilen unfreiwillig komisch wirkende, sprachliche Ambivalenz. Und auch der aus diesem Blickwinkel beschriebene Auschwitz-Besuch erscheint als kühnes Unterfangen und wirft die drängende Frage nach einem angemessenen Umgang mit der unsäglichen historischen Vergangenheit auf.

Hervorzuheben sind die brillanten, oft sarkastischen und zuweilen sogar witzigen Dialoge in diesem Roman. Misslungen ist zweifellos die von Anfang an fragwürdige, nebulöse Erzählerfigur des Jean, der im Text eher selten auftritt und mangels klarem eigenen Profil kaum erkennbar ist. Wenn er als Ich-Erzähler dann aber zuweilen auch noch in die Position eines auktorialen Erzählers rückt, weil er Dinge und Vorgänge beschreibt, die er als Akteur gar nicht wissen kann, ist man als Leser vollends irritiert. Dieser illusionslose Roman, der ohne Moralisieren ein schwieriges Thema behandelt, liefert weder neue Erkenntnisse, noch ist er, abgesehen von den Dialogen, besonders unterhaltsam. Schade eigentlich!

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Bewertung vom 04.06.2022
Eine andere Epoche
Ziegler, Ulf Erdmann

Eine andere Epoche


gut

Rädchen im Getriebe

Man ist unwillkürlich an Koeppens «Treibhaus» erinnert bei dem neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler, der unter dem Titel «Eine andere Epoche» vom Parlamentarismus in Deutschland erzählt. Hier geht es um weniger dramatische Ereignisse als 1953, wo in Bonn die Wiederbewaffnung zur Abstimmung anstand. Handlungsort ist nun natürlich Berlin, Handlungszeit sind die Jahre 2011 bis 2014, die SPD befand sich damals in der Opposition. Eine parteinahe Politikberaterin konstatierte lapidar: «Dass die SPD überhaupt einen Kanzler-Kandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben». Auch wenn viele politische Akteure mit Klarnamen benannt sind, kann man das Buch durchaus als Schlüsselroman lesen.

Wegman Frost ist Büroleiter des SPD-Bundestags-Abgeordneten Andi Nair, der schon viermal das Direktmandat für seinen Wahlkreis nahe Hannover gewonnen hat, sein alter Freund aus Jugendtagen. Zu der damaligen Clique gehörte auch Flo Jansen, der einst als Kind aus Saigon gerettet wurde, nach dem Studium bei der FDP gelandet ist und nun als Wirtschaftsminister und Vizekanzler am Kabinettstisch sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Wegmans, der sich scherzhaft als ‹Indianer› bezeichnet, weil er aus einer Reservation in Idaho stamme, er wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Drei haben sich in Schaumburg-Lippe kennengelernt, nahe von Gerhard Schröders Geburtsort.

In der politischen Chronik jener Jahre gibt es einige markante Ereignisse, die der Autor strikt aus dem Blickwinkel seiner Figuren heraus schildert. Da ist vor allem der Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, den die gegen ihn gerichtete Medien-Kampagne zur Aufgabe des Amtes bewogen hat. Später wurde er jedoch wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme vor Gericht freigesprochen. Ein großes Thema jener Jahre war auch die NSU-Affäre, die in einem Untersuchungs-Ausschuss unter dem Vorsitz von Andi Nair natürlich nicht aufgeklärt werden konnte. Alle Zeugen aus den Reihen von Polizei und Staatsschutz haben ‹gemauert›, um ihr eigenes Unvermögen und ihre hanebüchenen Fehler zu vertuschen. Ein Kollege aus der SPD Bundestags-Fraktion gerät wegen Besitz von Crystal Meth in die Schlagzeilen, und ganz zum Schluss verlässt einer der Protagonisten wegen offensichtlich berechtigter, schwerer Vorwürfe fluchtartig den Reichstag.

Kennzeichnend für Zieglers Erzählweise ist, dass er gerade den karriere- und bedeutungsmäßig am wenigsten hervorstechenden Wegman Frost in den Mittelpunkt stellt. Er ist Angestellter seines Freundes Andi Nair und arbeitet ihm zu, schreibt Reden für ihn und hält ihn auf dem Laufenden über die politische Stimmungslage hinter den Kulissen. Auch privat ist er eher eine unscheinbare Figur ohne Charisma, ein Wunder geradezu, dass sich die toughe Immobilien-Maklerin Marion mit ihm einlässt, ihn sogar bald schon in ihre noble Wohnung einziehen lässt. Deren altkluge Tochter Elli, in der man Uwe Johnsons Marie Cresspahl zu erkennen glaubt, versteht sich von Anfang an sehr gut mit Wegman und verwickelt ihn wissbegierig in manchmal allerdings gar zu tiefsinnig erscheinende Debatten zu Themen jenseits der Politik. Auffallen ist, dass Marion und auch ihre elfjährige Tochter als Charaktere ziemlich blass bleiben. Was übrigens auch für alle anderen, fast durchweg politischen Akteure gilt, deren Privatleben weitgehend ausgeklammert ist. Einzig Wegmans häufige Tagträume enthalten für ihn produktive Aspekte über die Tretmühle des politischen Alltags hinaus. Der Autor schreibt in einer angenehm lesbaren, klaren Sprache aus Sicht seines Helden, wobei er sich aber jeder moralischen Wertung enthält. Wegman Frost agiert als kleines Rädchen im Getriebe der großen Politik, er ist lediglich ein auf kleinste Details achtender Berichterstatter mit einem untrüglichem Sinn für politische Stimmungen. Und dass er sich am Ende sogar vornimmt, jetzt unbedingt mal Hannah Arendts Werk «Über die Revolution» zu lesen, ist fast schon ein revolutionärer Akt für ihn.

Bewertung vom 01.06.2022
Zebra im Krieg
Vertlib, Vladimir

Zebra im Krieg


weniger gut

Der Pisser

Mit dem Zusatz «Nach einer wahren Begebenheit» hat der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib für seinen neuen Roman «Zebra im Krieg» auf einen realen Bezug hingewiesen. Durch die offizielle Bagatellisierung der aggressiven Kämpfe im Roman als «erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen» wird überdeutlich auch auf den Ukrainekonflikt verwiesen. Es geht in diesem Roman um politischen Totalitarismus, dem heute mit seiner digitalen Variante im Internet eine nicht minder gefährliche, mediale Spielart als weiteres Lügenbabel zur Seite steht.

In einem quasi rechtsfreien Raum toben sich Hassprediger aller Couleur aus, so auch der arbeitslose Flugzeug-Ingenieur Paul Sarianidis. Der weiß mit seiner vielen Freizeit nichts Besseres anzufangen, als sich in einschlägigen Internet-Foren herumzutreiben und als Blogger seine Meinung in die Welt hinaus zu posten. In seiner nicht benannten balkanischen Hafenstadt tobt ein Bürgerkrieg, die multiethnische Einwohnerschaft sitzt in der Falle, man kann die umzingelte Stadt nicht mehr verlassen, die Rebellen haben sie vorübergehend in ihre Gewalt gebracht. Und ausgerechnet gegen den charismatischen Führer dieser Aufständischen hat Paul einen Hass-Kommentar geschrieben, in dem er ihn auf das Übelste beschimpft. Prompt stehen plötzlich Milizionäre vor der Tür des Mitte-Dreißigjährigen, die ihn zum Verhör mitnehmen. Dort trifft er auf sein verbales Opfer, den Rebellenführer Boris Lupowitsch, der ihn nun seinerseits beschimpft und derart bedroht, dass Paul sich vor Angst in die Hosen macht. All das wird mit zwei Kameras akribisch gefilmt und anschließend ins Netz gestellt. Paul erntet Hohn, Spott und eine traurige Berühmtheit als «Der Pisser». Dieses Begebnis ist nach Aussage des Autors übrigens authentisch. Der mit einer Ärztin verheiratete, mit Tochter und der eigenen Mutter zusammenlebende Paul wird nun auch zu Hause gescholten. Er hat die ganze Familie blamiert, was ihm besonders seine über alles geliebte, zwölfjährige Tochter Lena sehr übel nimmt.

Dieser dystopische Roman ist als Persiflage auf die Vorgänge in der Ost-Ukraine angelegt. Das Augenmerk des Autors liegt allerdings nicht auf dem politischen Machtpoker, sondern auf den dämonischen Kräften in den Köpfen der Bevölkerung, die sich im Internet eine Bühne suchen, um dort ihre vorgefassten Meinungen weiter anzuheizen, statt an einem Konsens mitzuwirken, um die Gegensätze zum Wohle aller zu überwinden. Als stadtbekannte Figur wird «Der Pisser» bei einem seiner ruhelosen Streifzüge durch die zerschossenen Straßen von einem grölenden Mob, zusammen mit der Intendantin des Theaters, symbolisch in einer vor Deck starrenden Bio-Mülltonne ‹entsorgt›. Pauls Versuche, sich mit Hilfe zweier PR-Spezialsten von seinem peinlichen Image zu befreien, scheitern kläglich, er wird nur finanziell ausgenommen von ihnen. «Ich will einmal im Leben das Richtige tun», beschießt der Antiheld und kümmert sich fortan um die alten jüdischen Hausnachbarn, die abgeholt worden sind. Es gelingt ihm tatsächlich, das Paar frei zu bekommen. Sie vertrauen ihm daraufhin ihren bescheidenen Schatz an, neben persönlichen Erinnerungsstücken vor allem 3000 Dollar, die er nach ihrem Tod der in den USA lebenden Tochter zukommen lassen soll, ehe sie der korrupte Staat kassiert.

Pauls multikulturelle Heimatstadt, ein Schmelztiegel aus griechischen, ukrainischen und koptischen Vorfahren sowie Russen, Armeniern, Türken, Juden und anderen Ethnien mehr, hat seinen Status als kosmopolitischer Sehnsuchtsort längst verloren. Nachdem in den Kämpfen auch der Zoo zerstört wurde, laufen plötzlich exotische Tiere durch die Stadt, so das titelgebende Zebra als Symbol für Friedfertigkeit. Die vom Autor als geharnischte Kritik an der Enthemmung in den sozialen Medien samt ihren Folgen angelegte Geschichte bleibt in der Form leider fragwürdig. Sie ist weder als Satire noch als Gesellschaftskritik wirklich überzeugend und wirkt in ihrer Slapstickartigkeit oft einfach nur albe

Bewertung vom 29.05.2022
Der Silberfuchs meiner Mutter
Hotschnig, Alois

Der Silberfuchs meiner Mutter


weniger gut

Wahrheit gibt es ja sowieso nicht

In seinem neuen Roman «Der Silberfuchs meiner Mutter» erzählt der österreichische Schriftsteller Alois Hotschnig eine berührende Geschichte. «Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Begegnung mit dem Schauspieler Heinz Fitz, der es mir erlaubt hat, entlang seiner Lebensgeschichte diesen Roman frei zu entwickeln», erklärt er in seiner Danksagung. Ich-Erzähler des Romans ist, wenig originell, Heinz Fritz, ebenfalls Schauspieler, der erst als Sechzigjähriger seinen richtigen Vater kennengelernt hat und zeitlebens auf den äußerst dürftigen Spuren seiner Herkunft das Schicksal seiner Mutter Gerda aufzuklären sucht.

Der einzige konkrete Beleg ist ein Dokument der Lebensborn-Organisation der SS, die in ihrem Arierwahn seine norwegische Mutter mit ihrem Sohn über Oslo, Kopenhagen, Berlin, München nach Hohenems in Vorarlberg geschickt hat, zur Familie seines Vaters. Der war Anfang 1942 als Obergefreiter verwundet nach Kirkenes im Norden Norwegens gekommen, sie war Krankenschwester dort und hatte sich mit dem Feind eingelassen. Das äußere Symbol ihrer Verbundenheit war der Silberfuchs, den Anton ihr dort geschenkt hat. Als sie dann schwanger wurde, hat ein Teil ihrer Familie sie als «Nazi-Hure» brüsk verstoßen. Aber auch in Hohenems ging es ihr nicht besser, die schöne Frau wurde von der österreichischen Familie ihres Geliebten als «Norweger-Hure» zunehmend abgelehnt, teils spielten allerdings auch religiöse Gründe eine Rolle dabei. Und sogar der leibliche Vater distanzierte sich plötzlich von ihr. Das Kind sei nicht von ihm, behauptete er, sondern von einem Russen, der ertrunken sei. Sie musste sich also allein durchschlagen, ein Zurück nach Norwegen gab es für sie als Kollaborateurin nun nicht mehr. Ende 1942 kam dann Heinz zu Welt, aus gesundheitlichen Gründen brachte sie ihn bei einem Bauern unter und sah ihn erst 4 Jahre später wieder. Als seine Mutter wieder heiratet, leidet Heinz sehr unter dem übergriffigen, sadistischen Stiefvater. Seinen leiblichen Vater aber hat er nur zweimal im Leben kurz gesehen, er hat jeden Kontakt abgelehnt.

Dieser Roman ist der breit angelegt Versuch des Ich-Erzählers, aus den offensichtlichen Lügen, ungeheuren Begebenheiten und aus den allerkleinsten Erinnerungs-Fetzen seine eigene Biografie zu rekonstruieren. Nicht nur seine Mutter, auch er selbst kommt in seelische Abgründe, begeht sogar unbeholfene Suizid-Versuche. Gleichwohl verbinden sie die Bücher, die Mutter liest ihm aus «Peer Gynt» vor, später auch aus «Andorra», und weckt damit sein Interesse an Literatur. Begeistert spielen sie einzelne Szenen nach, womit der berufliche Lebensweg von Heinz bereits vorgezeichnet ist. Er strebt eine Laufbahn als Schauspieler an und bereitet sich mit Hilfe seiner diversen Brot- und Butter-Jobs auf die Schauspiel-Schule vor.

«Bis ich mit sechzig Jahren, erst mit sechzig meinen richtigen Vater kennengelernt habe, diesen Anton Halbsleben in Hohenems, durch einen Theaterportier, der auch aus Hohenems war.» Unbekümmert um Grammatik verwendet Alois Hotschnig schon im ersten Satz eine holperige, häufig stockende, monologische Sprache. Die ist dazu angetan, dem Denken seines wurzellosen Helden einen Möglichkeits-Raum zu schaffen, um moralische und ethische Grenzen zu überwinden. «Wen lässt der Autor sprechen und wie» ist für Hotschnig die entscheidende stilistische Frage. In diesem düsteren und beklemmenden Psychogram geht es um die verzweifelte Suche eines zutiefst zerrissenen Menschen nach Liebe. Das Einzige übrigens, was zählt, denn Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Prompt wird das dann bestätigt, wenn ganz am Ende mit dem plötzlichen Auftauchen von Briefen der Mutter einige der bisherigen Gewissheiten ins Wanken kommen. Neben dem sperrigen Stil stören auch die seltsam blutleer bleibenden Figuren bei der Lektüre, was übrigens auch für beide Protagonisten gilt, vor allem aber ist ein nur rudimentäres Handlungsgerüst das größte Manko für den enttäuschten Leser.

Bewertung vom 26.05.2022
Heimatlos
Kováts, Judit

Heimatlos


gut

Die Deutschen als Opfer

Wie schon der Titel «Heimatlos» andeutet, handelt es sich bei dem neuen Roman der ungarischen Schriftstellerin Judit Kovats um eine Geschichte vom Verlust der Heimat. Als ihr erster ins Deutsche übersetzter Roman beschreibt er die mit dem Rückzug der deutschen Besatzer beginnende Vertreibung der Karpaten-Deutschen aus der Stadt Kesmark, die zur traditionellen Landschaft Zips in der nordöstlichen Slowakei gehört. Die Geschichte ist aus der Perspektive der zu Beginn 17jährigen Schülerin Lili erzählt.

Nach dem Partisanen-Aufstand 1944 marschiert die deutsche Wehrmacht in die Slowakei ein, alle deutschen Kinder werden im Rahmen der Kinderland-Verschickung von den Nazis zwangsweise nach Österreich geschickt. Später werden sie dann weiter nach Bad Reichenhall verlegt, Lilis Vater aber holt sie schon bald dort wieder ab, weil er befürchtet, sie in den zunehmenden Kriegswirren aus den Augen zu verlieren. Er bringt sie zu Verwandten im mährischen Olmütz, wo sie sicherer aufgehoben sei. Seit die neue Regierung jedoch per Dekret die Kollektivschuld aller Deutschen an den Untaten der Nazis festgestellt und sogar das Tragen einer Armbinde mit aufgenähtem «N» verbindlich vorgeschrieben hat, werden sie auch dort verfolgt. Denn den so geschaffenen rechtsfreien Raum nutzen vor allem die Partisanen, die voller aufgestauter Wut nur noch auf Rache sinnen und morden und brandschatzen. Lilli und ihre Familie müssen sich verstecken, werden sogar von ihren früheren Mitbürgern drangsaliert, obwohl doch dort im friedlichen multikulturellen Miteinander nicht selten «ein Satz auf Deutsch begonnen, auf Slowakisch fortgesetzt und auf Ungarisch beendet» wurde. Schließlich wird die Familie enteignet, in einem Sammel-Lager interniert und von dort zwangsweise nach Deutschland deportiert.

Dieser erste Teil des Romans berichtet von unsäglichen Massakern, beschreibt die odyssee-artige Vertreibung über viele Stationen hinweg Richtung Deutschland. Erzählt wird von geradezu viehischen Bedingungen, unter denen die Vertriebenen zu leiden haben und an denen viele von ihnen, unterernährt, von Ungeziefer befallen, unter hygienisch desaströsen Verhältnissen und ohne jede ärztliche Hilfe, elendig sterben. Diese leitmotivisch allzu häufig wiederkehrenden Schilderungen dominieren inhaltlich die erste Hälfte des Buches, sie erweisen sich aber mit der Zeit als langweilig und irgendwann sogar störend. Der Krieg schlägt gewaltige Breschen in die Gemeinschaft der Zipser Deutschen, Lilis Vater sitzt in einem Internierungslager und stirbt nach seiner Entlassung früh an den Folgen der Arbeit in einem Uranbergwerk, ihr Schwager gilt lange als im Krieg verschollen. Im zweiten Teil nimmt die Geschichte Fahrt auf, die Familie ist zu guter Letzt in Dachau gelandet, sie bewohnen als Flüchtlinge das ehemalige KZ. Auch hier warten zunächst Hunger und Entbehrung auf sie, aber auch wohlmeinende Amerikaner, die helfen. Mit der Zeit rappelt man sich auf, findet Arbeit, Lili verlobt sich mit einem angehenden Arzt, nimmt Klavierunterricht, die Mutter eröffnet eine Nähstube, man bekommt eine bescheidene Wohnung und kann das primitive Lagerleben hinter sich lassen.

Das Besondere an diesem Roman ist die selten anzutreffende, sudetendeutsche Perspektive, aus der er erzählt wird, wie einst die Juden sind jetzt die Deutschen Opfer. Mit Lili spricht eine naive junge Frau aus dem Volke, deren Augenmerk auf die eher profanen Dinge des Alltags gerichtet ist, die großen historischen Umwälzungen werden nicht thematisiert. Was aber nicht bedeutet, dass ihr die Schrecken der Vergangenheit nicht ‹in den Knochen› stecken. Selbst Jahre nach Kriegsende hat sie nämlich ständig den gepackten Rucksack bereit stehen, den sie seinerzeit schon bei ihrer Flucht benutzt hat. Er enthält Kleidung, Hygieneartikel und Konserven, und einmal im Jahr öffnet sie ihn am Karfreitag in einem feierlichen Ritual, wechselt die Kleidung gegen frische aus und ersetzt abgelaufene Konserven durch neue.

Bewertung vom 21.05.2022
Die Geschichte von der 1002 Nacht
Roth, Joseph

Die Geschichte von der 1002 Nacht


gut

Ein verhängnisvoller Besuch

Mit seinem 1939 posthum erschienenen Roman «Die Geschichte der 1002. Nacht» hat Joseph Roth der morgenländischen Sammlung von Erzählungen eine ironische Ergänzung hinzugefügt. Das Buch wurde von Peter Beauvais 1969 für das Fernsehen verfilmt und gehört heute zu den zahlreichen Klassikern aus der Feder des österreichischen Autors, der für seinen vom Journalismus geprägten Erzählstil bekannt ist.

Mit großem Gefolge reist der Schah von Persien nach Wien, besucht also ein aus seiner Sicht exotisches Land. Auf einem zu seinen Ehren veranstalteten Ball entdeckt er unter den illustren Gästen eine wunderschöne blonde Frau. Der über einen Harem von 365 Frauen verfügende Potentat gibt seinem Großwesir den Auftrag, ihm diese Schönheit noch heute Nacht zuzuführen. Gräfin W. ist eine verheiratete Dame, die von allen Männern verehrt wird. Undenkbar für den entsetzten Polizeipräsidenten, an den sich der Großwesir gewandt hat, der Dame ernsthaft einen solchen Wunsch vortragen zu lassen. Stattdessen wendet er sich ratsuchend an Baron Taittinger, ein zur besonderen Verwendung bei Hofe abgestellter Rittmeister. Dem gelingt es zunächst, Graf und Gräfin W. zum sofortigen Verlassen des Balls zu bewegen. Eine ehemalige Geliebte von ihm hat eine frappante Ähnlichkeit mit der Gräfin, sie könnte deren Zwillings-Schwester sein. Die einfältige Mizzi arbeitet im Kurzwarengeschäft ihres Vaters und gelegentlich auch noch in einem anrüchigen Etablissement, also die Idealbesetzung für das von Taittinger vorgeschlagene Täuschungs-Manöver. Der Polizeipräsident ist begeistert, kümmert sich um alles weitere, und der Schah ist nach der ersehnten Liebesnacht so zufrieden, dass er seiner blonden Bettgefährtin eine sündhaft teure Perlenkette als Geschenk zukommen lässt, sie ist über Nacht eine reiche Frau.

Damit nimmt das Unglück seinen Lauf. In einer gekonnt angelegten, turbulenten Handlung beschreibt Joseph Roth das Unheil, welches sowohl bei Mizzi als später auch bei Taittinger, von dem sie ein missratenes Kind hat, und bei vielen weiteren Figuren durch dieses monströse Geschenk ausgelöst wurde. Ein mieser Schreiberling der Zeitung versucht aus der peinlichen Geschichte Profit herauszuschlagen, ein Betrüger schmeichelt sich bei Mizzi ein und wird nicht nur ihr Liebhaber, sondern auch ihr Geschäftspartner. Er verkauft in ihrem Laden gefälschte Brüsseler Spitzen, überredet auch Mizzis geldgierige Bordellmutter, sich finanziell zu beteiligen und plündert die kleine Firma planmäßig aus. Als schließlich alles auffliegt, landet auch Mizzi im Gefängnis. Und sogar auf Taittiger fallen die Schatten der Affäre zurück, er muss den Dienst quittieren. Leichtsinnig wie er ist, hat er zudem sein Gut sträflich vernachlässigt, ist überschuldet und findet sich auch im Privatleben nicht mehr zurecht. Als er sich Jahre später für eine Rückkehr in den Dienst bewirbt, wird bekannt, dass der Schah einen weiteren Besuch in Österreich plant, die deshalb hervorgeholten, alten Akten werden ihm nun erneut zum Verhängnis.

Die Ende des 19ten Jahrhunderts angesiedelte Geschichte ist eine ironische Gesellschafts-Studie der k. u. k-Monarchie mit ihrer Doppelmoral. Geld allein macht nicht glücklich, ist die Devise von Joseph Roths letztem Roman. Als großer Moralist seziert er die Verstrickungen der damaligen Gesellschaft und ihre typischen Verhaltensmuster, wobei seine Ironie nicht ins Amüsante abgleitet, sondern eher melancholisch die bedauernswerten Zustände beleuchtet. Die berechtigte Frage manch männlichen Lesers, was den Schah so an den Frauen seiner Gastgeber gereizt habe, wird im Roman sehr einleuchtend beantwortet: «Jede einzelne war lockender als ein ganzer Harem, angefüllt mit 365 rätsellosen, geheimnislosen, gleichgültigen Leibern. […] Welch vertrackte Raffiniertheit, die Gesichter der Frauen nicht zu verhüllen! […] Jede einzelne ein behüteter Edelstein». Dieses Buch mit dem originellen Titel ist auch heute noch eine lohnende Lektüre!

Bewertung vom 18.05.2022
Der Feuerturm
Florescu, Catalin Dorian

Der Feuerturm


weniger gut

Der Turm schützt uns

Um den neuesten Roman des rumänisch-stämmigen Schriftstellers Catalina Dorian Florescu mit dem Titel «Der Feuerturm» ist es merkwürdig still. Das deutsche Feuilleton hat sich vornehm zurück gehalten, während andere Bücher oft ja eilfertig schon unmittelbar nach ihrem Erscheinen besprochen werden. Erzählt wird hier die Geschichte einer rumänischen Familie über fünf Generationen hinweg, in der die Männer traditionell bei der Feuerwehr sind. Es ist auch ein Gesellschafts-Roman, und ein typischer Stadt-Roman obendrein, eine Hommage an Bukarest.

Der Roman wird eingeleitet mit der Legende von Iane, einem Unglücksboten, der aus dem Wald gelaufen kam und die Stadt vor einem nahenden Unheil warnen wollte. Auch der titelgebende Feuerturm hat eine solche Alarmfunktion, er wurde 1892 fertig gestellt und bietet mit 42 Meter Höhe eine weite Aussicht über Bukarest. Der dort oben diensthabende Feuerwehrmann alarmiert im Brandfall seine Kollegen und gibt ihnen Hinweise auf den genauen Ort des Brandes. «Dieser Turm ist eine Metapher für die Widerstandskraft der Menschen» hat der Autor erklärt. Im Roman fungiert er als Leitmotiv, um ihn rankt sich ein dichtes Geflecht von zeitlich vor und zurück springenden Geschichten und Episoden.

Ich-Erzähler ist der 1932 geborenen Victor Stoica, der froh ist, dass sein älterer Bruder Alex, der unumstößlichen Tradition folgend, Feuerwehrmann wird, er selbst hatte wenig Lust dazu. Lieber studiert er Geschichte. Im Laufe der Zeit wechseln sich, begleitet von heftigen Unruhen, die verschiedenen Regime ab. Als die Kommunisten zunehmend angefeindet werden, finden die Freiheitlichen auch auf der Uni Anhänger, zu denen auch Victor gehört. Prompt wird er als Klassenfeind denunziert, - er ahnt, wer dahinter steckt. Man holt ihn zu Verhör, er durchleidet eine unmenschliche Untersuchungshaft. Beim Prozess stellt sich sein stärkster Belastungs-Zeuge als jemand aus seinem unmittelbaren Umfeld heraus. Homo homini lupus! Denunziant und Zeuge stehen beide natürlich ebenfalls unter dem Druck der Securitate. Als er acht Jahre später entlassen wird, gibt er seine düsteren Rachepläne auf, er sucht nur noch ein ruhiges Plätzchen. Das findet sich bei einem jüdischen Schneider, der ihn einstellt, obwohl er gar nicht schneidern kann, er sucht eigentlich nur einen Gesprächspartner. Erst als der alte Schneider sein Ende nahen spürt, bringt er Victor, im Crashkurs sozusagen, das Schneidern bei, Victor soll das kleine Geschäft fortführen. Dort lernt er dann auch seine spätere Frau kennen, mit der er schließlich ein Kind hat und in einen Plattenbau zieht.

Man hilft sich gegenseitig in diesem Unterschichten-Milieu, da werden auch schon mal verhungernde Kinder von der Straße in die Familie aufgenommen. Das geschilderte Elend ist unsäglich und wird über die Zeiten hinweg im Kommunismus vom geradezu absurden Mangel als neuer Drangsal abgelöst. Bei alldem wirkt die Feuerwehr-Dynastie der Stoicas wie ein Fels in der Brandung, mit dem Turm als Symbol. Wobei die Frauen die dominante Rolle einnehmen, immer gestützt auf eine bedingungslos gläubige Religiosität, man läuft oft mehrmals am Tag in die Kirche und spricht für jeden Wunsch direkt den dafür zuständigen Schutzpatron an. Florescu bildet sehr überzeugend das Leiden unter der ständigen Fremdherrschaft Rumäniens ab, schildert detailreich das bunte Leben in den Gassen, das Gewusel auf den Märkten der Stadt. Was dann aber, durch allzu häufige Wiederholungen überstrapaziert, irgendwann langweilig wird. Neben den wilden Zeitsprüngen erschwert auch eine Überfülle von oft schwer einzuordnenden Figuren das Lesen. Die rumänischen Begriffe und Sätze tun ein Übriges, das schmalbrüstige Glossar hilft da meistens nicht. Was die Spannung anbelangt, nimmt der Roman erst im letzten Drittel etwas an Fahrt auf und lässt einen roten Faden erkennen. «Der Turm schützt uns» heißt es ganz am Ende, als Victor nach seiner aufmüpfigen Tochter sucht in den Wirren des Umbruchs von 1989.