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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 927 Bewertungen
Bewertung vom 13.07.2025
Kazantzakis, Nikos

Alexis Sorbas


sehr gut

Als Schelmen-Roman ein Klassiker

Mit «Alexis Sorbas» ist dem bekanntesten griechischen Schriftsteller Nikos Kazantzakis 1946 der Durchbruch als Romancier gelungen. Auch der gleichnamige Spielfilm, in dem Anthony Quinn dieser berühmtem Romanfigur ein Gesicht gegeben hat; war hierzulande ein Kassenschlager, er erhielt drei Oscars. Als Vorlage für diese berühmte Romanfigur fungierte ein guter Freund des Autors mit gleichem Nachnamen, dem er damit ganz bewusst ein Denkmal setzen wollte. Weitere autobiografische Bezüge sind nicht nur durch die als Handlungsgerüst dienende, gescheiterte Bergwerks-Geschichte unverkennbar, ganz am Ende erklärt der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller (sic!), sogar seine Motive, diese Geschichte nun 30 Jahre später mal aufzuschreiben.

Der 35jährige, namenlos bleibende englische Ich-Erzähler beschließt, sein Dasein als «Tintenkleckser» zu beenden und pachtet auf Kreta eine Braunkohlemine. Vor der Überfahrt spricht ihn im Hafen Alexis Sorbas an, ein 65jähriger, ziemlich abgerissen wirkender Mann, der sich mit Gelegenheits-Arbeiten durchschlägt und sich wortreich als vielseitig begabt anpreist. Der Chef, wie Sorbas ihn fortan nennt, erkennt in dem redegewandten Typen einen unterhaltsamen Alltags-Philosophen, der ihn mit seinen unkonventionellen Überzeugungen und vermeintlichen Lebensweisheiten köstlich amüsiert. Er nimmt ihn mit nach Kreta, weil Sorbas schon in Minen gearbeitet hat und deshalb durchaus nützlich für sein Vorhaben sein dürfte. Und so ist es denn auch, Sorbas nimmt als Vorarbeiter dem Chef die harte Arbeit in dem Stollen ab und leitet ein dutzend Arbeiter an, die dort Braunkohle fördern. Aber auch Sorbas ist letztendlich ein Dilettant, es kommt zum Einsturz des neu gegrabenen Stollens, und eine von ihm erdachte Fördermethode von Baumstämmen per Seilzug scheitert ebenfalls kläglich. Ein ökonomisches Desaster, über das Beide zu guter Letzt aber nur noch herzlich lachen.

Um diesen Handlungskern herum wird von den vielen Diskussionen zwischen Sorbas und seinem intellektuellen Chef erzählt, aber auch vom Dorfleben und den skurrilen Figuren, die dort leben. Der Chef kann gar nicht genug bekommen von den abenteuerlichen Geschichten, die ihm Sorbas immer wieder aus seinem abenteuerlichen Leben erzählt. Er ist weltweit viel herum gekommen und hat so manches erlebt dabei. Eine wichtige Figur im Roman ist die verwelkte ehemalige Kokotte Madame Hortense, in deren Gasthaus die Beiden wohnen. Der Schwerenöter Alexis Sorbas macht ihr sofort den Hof und nennt seine neue Geliebte zärtlich Bubulina. Eine zweite, tragische Frauenfigur im Roman ist die schöne Witwe, die von allen Männern heiß begehrt wird, die sie aber alle hochmütig abblitzen lässt. Den drögen Chef jedoch, der sich an Frauen so gar nicht interessiert zeigt, animiert sie schließlich völlig überraschend zu einer Liebesnacht. Als kurz darauf einer ihrer hartnäckigsten Verehrer sich vor Liebeskummer im Meer ertränkt, kommt es zur Katastrophe in dem abgeschiedenen Dorf, das alles andere als ein typisches Beispiel für das oft beschworene, arkadische Landleben in Griechenland verkörpert.

Feministen dürften sich die Haare raufen angesichts der extrem machohaften Perspektive, aus der dieser Roman erzählt wird. Frauen sind allenfalls schmückendes Beiwerk in einer von Männern dominierten Dorfgemeinschaft. Sie sind, mit Ausnahme der schönen Witwe, auch allesamt leicht zu haben, und zwar sofort, ohne langes Werben. Allen voran dabei ist Alexis Sorbas, die Zahl seiner Amouren ist ebenso wenig bekannt wie die von ihm gezeugten Kinder. «Das echte Weib», erklärt er dem Chef, «freut sich mehr über das Vergnügen, das sie dem Manne gewährt, als über das Vergnügen, das sie vom Manne empfängt». Markantestes erzählerisches Merkmal des Romans ist die grenzenlose Lebensgier und die verquere Moral des lebenslustigen Helden. Der holt bei Gelegenheit dann auch schon mal sein im Roman als «Santuri» bezeichnetes Zupfinstrument hervor und singt fröhlich dazu. Die entsprechende Filmmusik ist ein Evergreen! Mit seiner hedonistischen Alltags-Philosophie als tragendes Stilelement ist «Alexis Sorbas» als lesenswerter Schelmen-Roman ein absoluter Klassiker.

Bewertung vom 10.07.2025
Bomann, Anne Cathrine

Agathe


gut

Amüsante Arzt/Patienten-Umkehr

Die dänische Schriftstellerin und Psychologin Anne Catherine Bomann hat ihren Debütroman mit dem Titel «Agathe» in dem ihr vertrauten Milieu der Psychotherapie angesiedelt. Sie erzählt darin die Geschichte eines altersdepressiven Psychiaters, der kurz vor dem ersehnten Ruhestand steht und nur noch die Therapie-Sitzungen zählt, die er zu absolvieren hat bis zur Übergabe seiner Praxis an einen Nachfolger. Seine Arbeit besteht nur noch aus Routine, wie er gelangweilt feststellt, denn während der Gespräche mit seinen Patienten skizziert er geistesabwesend Vögel auf seinen Notizblock, die je nach den Beschwerden seiner Patienten groteske Karikaturen von ihnen darstellen. Der 71 Jahre alte, namenlos bleibende Ich-Erzähler, der im Roman immer nur Doktor genannt wird, lebt allein und völlig zurückgezogen in seinem kleinen Haus. Er hat weder zu Bekannten noch zu Verwandten Kontakt und kennt nicht mal den Nachbarn persönlich, mit dem er schon seit Monaten Tür an Tür lebt. Außer Klassik-Schallplatten hören hat er auch kein Hobby, er dämmert schon lange nur noch vor sich hin als menschenscheuer Einzelgänger. Es lähmt ihn zusätzlich aber auch die völlige Leere, die er zu erwarten hat im nahenden Ruhestand.

Gleich zu Beginn erzählt der Doktor, dass es genau achthundert Gespräche sind, die er in den verbleibenden zweiundzwanzig Wochen noch zu führen hat. Als er morgens in die Praxis kommt, informiert ihn seine seit fünfunddreißig Jahren bei ihm arbeitende Mitarbeiterin Madame Surrugue, dass eine suizidgefährdete deutsche Patientin angerufen habe, die später noch vorbei kommen wolle, um einen Termin auszumachen. Sie solle die Frau abwimmeln, weist er sie an, denn in einem solchen Fall reiche die verbleibende Zeit ja keinesfalls aus. Es wäre deshalb unumgänglich, dass die Frau sich bei einem anderen Kollegen in die erforderliche, langwierige Behandlung begeben müsse. Aber Madame Almeida bleibt hartnäckig, und es gelingt ihr, bei der Sprechstundenhilfe doch noch einen Termin zu bekommen, allerdings nur unter der Bedingung, dass die Behandlung durch den Doktor längstens bis zum baldigen Schließen der Praxis dauern könne, womit die Frau problemlos einverstanden ist.

Zwölf von achtunddreißig Kapiteln des kurzen Romans handeln von eben diesen Sitzungen mit der nicht therapierbaren Madame Almeida, die schon von Psychiater zu Psychiater weitergereicht worden ist und fest daran glaubt, nur dieser Doktor könne ihr wirklich helfen. Sie hat bereits einen Suizidversuch hinter sich, die Narben am Handgelenk sind deutlich sichtbar. Er möge sie mit «Agathe» ansprechen, bittet sie ihn gleich zu Beginn, und erweist sich in den folgenden Sitzungen als sehr lebhafte und unbeirrbare Patientin. Allerdings ist er, gegen das Berufsethos verstoßend, von ihr schnell fasziniert und fühlt sich verbotener Weise sogar zu ihr hingezogen. Schlechten Gewissens verfolgt er sie eines Tage bis zu ihrer Wohnung, oder er entdeckt sie zufällig in einem Café und beobachtet sie fasziniert im lebhaften Gespräch mit Freundinnen. In einer amüsanten Arzt/Patienten-Umkehr gelingt es Madame Almeida unbewusst, den von ihr hochgeschätzten Doktor aus seiner Lethargie heraus zu reißen, seine Lebensgeister wieder zu wecken und das Interesse an seiner therapeutischen Arbeit neu zu beleben.

Erzählt wird diese originelle Geschichte in einer präzisen, leicht lesbaren und schnörkellosen Sprache ohne stilistische Mätzchen. Allerdings gerät der Plot am Ende völlig unnötig ins Kitschige, wenn der lethargische Doktor seinem Nachbarn, mit dem er nie ein Wort gesprochen hat, beispielsweise plötzlich und unmotiviert einen Kuchen bäckt und bei der Übergabe dann erst merkt, dass der Mann taub ist. Oder wenn er den todgeweihten Ehemann seiner Sekretärin am Krankenbett besucht und von ihm hören muss, er solle sich wegen seiner eigenen psychischen Probleme einfach selbst mal nach seiner größten Sehnsucht fragen. Wie auch immer, die Intention dieses ebenso klugen wie amüsanten Romans wird nachvollziehbar und überze

Bewertung vom 09.07.2025
Lykke, Nina

Aufruhr in mittleren Jahren


gut

In der Woche zwier

Mit dem deskriptiven Titel «Aufruhr in mittleren Jahren» ist zu ersten Mal ein Roman der norwegischen Schriftstellerin Nina Lykke auf Deutsch erschienen, im Original « Nei og atter nei», was «Nein und nochmals nein» bedeutet und weniger stimmig auf sein Thema passt. Loriot hat es einst auf den Punkt gebracht: «Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen». In diesem Roman wird der Beweis dafür auf ebenso satirische Weise erbracht, denn auch hier versuchen die Protagonisten es trotzdem unbeirrt, aber natürlich erfolglos!

Es geht um die Midlife-Crisis von Jan, einem mit Frau und zwei Söhnen in Oslo lebenden, knapp fünfzigjährigen Ministerialbeamten, der soeben zum Referatsleiter befördert wurde. Der in zehn Kapiteln erzählte Roman beginnt mit der Beschreibung von Jans gleichaltriger Ehefrau Ingrid, die als Lehrerin arbeitet und die Strapazen ihres Berufs ebenso geduldig erträgt wie die Zumutungen ihres Daseins als Mutter zweier völlig verwöhnter, fast erwachsener Söhne. Sie leben komfortabel im eigenen Haus, ihre Ehe dauert nun schon fünfundzwanzig Jahre, sie verstehen sich gut, alles ist bestens eingespielt. Sogar der Sex wird pünktlich, aber wohl ziemlich lustlos praktiziert, immer «einmal die Woche». Nur halb so viel allerdings, wie Martin Luther es bekanntlich empfohlen hat: «In der Woche zwier, ist der Weiber Gebühr, schadet weder ihm noch ihr, und macht im Jahr hundertvier!» Ingrid ist zutiefst frustriert, sie sinniert permanent über das Leben an sich und ihre eigene, ihr völlig sinnlos erscheinende Situation. Sie kann nicht mehr, sieht alles schwarz, hat an nichts mehr Freude, fühlt sich von allen verlassen. Sie hadert mit ihrem langweiligen Dasein und entwickelt zunehmend eine beängstigende Menschenscheu.

Bei einer Weihnachtsfeier macht sich eine fesche junge Mitarbeiterin seines Referats an Jan heran, begeistert von der Karaoke-Gesangseinlage ihres Chefs. Noch in der gleichen Nacht geht er mit der fünfunddreißigjährigen Hanne ins Bett, sie erleben rauschhaften Sex miteinander. Hanne ist eine sprunghafte, chaotische Frau, ganz anders als die disziplinierte Ingrid. sie hat es bisher nirgendwo lange ausgehalten und ist schon mehr als zehnmal umgezogen, weil sie immer irgendetwas gestört hat. Die Liaison der Beiden dauert schließlich eineinhalb Jahre. Jan ist hin und her gerissen, kann sich nicht entscheiden zwischen Frau und Geliebter, sucht sogar Rat beim Psychotherapeuten. Der macht ihm klar, dass er nicht alles haben könne, trautes Heim und aufregende Geliebte. Zwischen Vernunft und Brunft, könnte man sagen, durchleben Beide ein Wechselbad der Gefühle, immer erneut erfolgt auf Trennung wieder reumütige Versöhnung im Bett. Bis Hanne, die irgendwann in Torschluss-Panik gerät und ein Kind haben will, ihn eines Tages endgültig zu einer definitiven Entscheidung zwingt.

Die in Deutschland kam bekannte Autorin hat aus einer nicht nur in der Literatur tausendfach thematisierten Beziehungs-Konstellation eine amüsante Geschichte entwickelt, die allerdings unvermeidlich mit diversen Klischees behaftet ist. Nordisch kühl und sachlich, ohne jede Theatralik, hat sie ihre Figuren in allen ihren Hoffungen und Zweifeln psychologisch stimmig dargestellt. Wobei sie viel mit inneren Monologen arbeitet, die das Innenleben ihrer Figuren nachvollziehbar offenlegen und ihre Lebensängste verdeutlichen. Als Leser erlebt man diese Achterbahn der Gefühle hautnah mit, erkennt womöglich sich selbst und andere in manchem wieder. Es ist keine spannende Tragödie, die da geschildert wird, eher ein Drama mit einem nicht vorhersehbaren unspektakulären Ende, ganz ohne Herz/Schmerz-Attitüde, aber immer nach dem Motto: «Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt». Nur Ingrid nimmt diese Zäsur gelassen hin, «endlich passiert was», stellt sie erleichtert fest. Als Geschichte einer Befreiung wird hier an das Dilemma erinnert, in dem sich Männer und Frauen befinden, die nicht wahrhaben wollen, dass sich nicht alle ihre Träume erfüllen können, dass sie auf manches verzichten müssen, und dazu gehört nun mal auch die unerfüllte Liebe in allen ihren Spielarten!

Bewertung vom 06.07.2025
Fosse, Jon

Trilogie


ausgezeichnet

Konfuse innere Monologe

Der viele Jahre lang als Favorit für den Nobelpreis angesehene, norwegische Schriftsteller Jon Fosse hat ihn im Jahre 2023 dann endlich auch erhalten. Eine seiner wichtigsten Prosa-Veröffentlichungen ist «Trilogie», die Jury in Stockholm hat dazu erklärt: «Mit ihrer formalen Raffinesse und dem forschenden Verhältnis zur Geschichte stellt die ‹Trilogie› einen Höhepunkt in der neueren norwegischen Literatur dar». Die Rezeption in Deutschland ist eher verhalten, erst nach dem Nobelpreis begann man sich näher mit dem vor allem als Dramatiker bekannten Autor zu befassen. Seine lose verbundenen Erzählungen mit den Titeln «Schlaflos», «Olavs Träume» und «Abendmattigkeit», aus denen die Trilogie besteht, verhandeln schnörkellos und unaufgeregt große Menschheits-Themen wie Geburt, Liebe und Tod. Als der große Minimalist der europäischen Literatur hält er nichts von literarischen Anspielungen, die seine Geschichten enthalten würden: «Es ist doch nur die Geschichte eines jungen Paares, das eine Bleibe sucht». Als plötzlich kurz vor dem Ende ein «Jon» auftaucht, der ein Buch mit Gedichten geschrieben habe und ebenfalls ein «Spielmann» sein soll, sind die autobiografischen Bezüge allerdings unübersehbar. Nach einer in der Jugend erlittenen Nahtod-Erfahrung sei sein Schreiben davon stark beeinflusst: «Ich glaube bis heute, dass ich durch diesen Unfall zum Schriftsteller geworden bin. Die Hauptperspektive meiner Texte ist nämlich die von jemandem, der sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befindet.»

Im ersten, an die biblische Weihnachts-Geschichte erinnernden Teil des Buches ziehen die hochschwangere Alida und Asle, beide siebzehnjährig, als unverheiratetes Paar hungrig und obdachlos in dem Fischerdorf Dylgja umher auf der vergeblichen Suche nach einer Bleibe. Asle bestreitet als gelegentlich auftretender Spielmann mit der Fidel mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt, schreckt aber auch vor Gewalttaten nicht zurück, um ihr Überleben zu sichern. Schließlich kommen sie für kurze Zeit bei Alidas Mutter und Schwester unter, stehlen ihnen aber Geld und Lebensmittel und flüchten mit einem ebenfalls gestohlenen Boot, dessen Besitzer Asle ertränkt, in die Stadt Bjørgvin, dem heutigen Bergen. Dort, wo sie niemand kennt, wollen sie endlich eine Unterkunft finden. Als sie aber auch dort überall abgewiesen werden in Hinblick auf die Schwangerschaft, dringt Asle mit Gewalt in das Haus einer alten Frau ein, die sie ebenfalls nicht einlassen will, und tötet sie. Dort bekommt Alida schließlich den kleinen Sigvald, benannt nach dem Großvater.

Um ihre Spuren zu verwischen, nennen sich die Beiden nun Olav und Åsta, und um an Geld zu kommen versetzt Olav seine geliebte Fidel. Vom Erlös will er Eheringe kaufen, die ihnen ebenfalls als Tarnung dienen sollen. In einem Gasthof wird er von einem alten Männchen angesprochen, das ihm hartnäckig auf den Kopf zusagt, er sei in Wahrheit Asle, der gesuchte Mörder aus Dylgja. Und kurz darauf wird der falsche Olav abgeführt und einige Tage später von dem Männchen erhängt, das war nämlich der «Rote Meister», der Scharfrichter von Bjørgvin. Nach einem Zeitsprung von hundert Jahren wird im dritten Teil von Alise erzählt, der inzwischen greisen Tochter von Alida, die einen Fischer geheiratet hatte und mit ihm neben Alise noch vier weitere Kinder bekam. In den wirren Erinnerungen von Alida lebte Asle fort, sie sah ihn immer wieder und sprach mit ihm, hat sich permanent mit ihm beraten.

Formal besticht das Buch mit einem narrativen Schweben, das in der Musik seinen Ursprung hat und zeitenthoben über dem gesamten Geschehen liegt wie ein metaphorischer Schleier. «Die Zeichensetzung in diesem Buch folgt den musikalisch-rhythmischen Besonderheiten der Prosa Jon Fosses», lautet ein vorangestellter Hinweis des Verlags. Es ist gerade dieser eigenwillige, unsortierten inneren Monologen folgende, grandios naive Erzählstil, mit dem dieses Buch einen lang nachwirkenden Lesesog erzeugt, der den Leser am Ende tief betroffen zurücklässt!

Bewertung vom 03.07.2025
Flaubert, Gustave

Lehrjahre der Männlichkeit


ausgezeichnet

Und das soll Männlichkeit sein?

Unter dem Titel «Lehrjahre der Männlichkeit» mit dem Untertitel «Geschichte einer Jugend» ist 2020 der letzte Roman von Gustave Flaubert in einer Neuübersetzung erschienen, ein epochales Werk, das als Vorläufer des ‹Modernen Romans› angesehen wird. Anders als bei «Madame Bovary» galt dieses Werk damals aber als misslungen, die zeitgenössischen Rezensionen waren bis auf wenige Ausnahmen allesamt vernichtend. Seine mit ihm eng befreundete Kollegin George Sand hat das neuartige Konzept dieses Entwicklungs-Romans als einzige Rezensentin wirklich verstanden, umfassend kommentiert und ihn seinem Rang entsprechend gewürdigt.

Zeitlich in den 1840er Jahren angesiedelt, beschreibt der im selben Jahr wie sein Protagonist geborene Autor die französische Gesellschaft dieser Epoche in Paris. Frédéric Moreau verlässt sein Elternhaus in der Provinz, um Jura zu studieren und in der mondänen Metropole sein Glück zu versuchen. Er findet schnell Anschluss an verschiedene Gesellschaftskreise, die ihm nützlich sein sollen bei seiner Karriere. Frédéric verkehrt in der Bohème, begeistert sich für journalistisch unangepasste, systemkritische und revolutionäre Bestrebungen. Er sucht und findet andererseits aber auch Kontakt zu etablierten, großbürgerlichen Kreisen, von denen er sich Protektion erhofft und deren Wohlstand ihm als einzig erstrebenswertes Lebensziel vorschwebt. Den von ihm erträumten politischen Idealen steht diametral die reale Gewissenlosigkeit der Kaufleute, Bankiers und Politiker beim ewigen ‹Tanz ums goldene Kalb› entgegen, was ihn zu einem permanenten Zickzack-Kurs in seinen Unternehmungen zwingt. Gleiches gilt für seine naiv schwärmerischen Beziehungen zu Frauen, die zwischen ‹himmelhoch jauchzend› und ‹zu Tode betrübt› changieren als ewiges Wechselbad seiner Gefühle.

Der dreiteilig aufgebaute Roman beginnt mit dem Bestreben des defätistischen Helden nach einer Karriere als Politiker, nachdem er sich vergeblich als Schriftsteller, Maler oder Musiker zu etablieren versucht hat. Als er den undurchsichtigen Kunsthändler Arnoux kennen lernt, entbrennt er in schwärmerischer Liebe zu dessen schöner Frau, der er sich aber nicht zu erklären traut, weil sie ihm gegenüber sehr distanziert bleibt. In seiner Hoffnungslosigkeit flüchtet er zurück in sein Elternhaus, hält es aber da nicht lange aus und kehrt zurück nach Paris. Denn er hat von seinem Onkel ein beträchtliches Vermögen geerbt, das ihm finanziell ein sorgenfreies Leben ermöglicht, wenn er vernünftig damit umgeht. Was ihm aber schwer fällt, einerseits, weil er den Luxus liebt, andererseits, weil er seine Freunde großherzig unterstützt. Im zweiten Teil schildert Flaubert detailliert und sehr anschaulich die politischen Unruhen und dem Umsturz von 1848. Sein lange unterbrochener Kontakt zu Madame Arnoux lebt wieder auf, sie wird seine Vertraute, bleibt aber unerreichbar und verarmt nach einem verlorenen Prozess. In Rosanette, Mätresse verschiedener reicher Männer, findet er zeitweilig eine Geliebte, und als sie schwanger wird, planen sie sogar zu heiraten. Aber ihre unbedarfte Art stört ihn mit der Zeit doch, und als das Kind früh stirbt, bricht er mit ihr. Wenig später verliebt er sich in die Frau eines befreundeten Bankiers und hat eine Affäre mit ihr, die neue Perspektiven eröffnet, als ihr Mann stirbt und sie sich steinreich wähnt mit der zu erwartenden Erbschaft, - die aber ausbleibt, seine uneheliche Tochter erbt alles! Auch diese Liaison, die in eine Ehe münden sollte, zerbricht kläglich.

Dieser eindeutig ironisch gemeinte, elf Jahre umspannende Roman von einem hoffungsvollen jungen Mann, der sich die Hörner abläuft und sich im Erwachsenenalter als Philister wieder findet, endet überraschend in einer ergreifenden Schlussszene. «Und das soll Männlichkeit sein»? fragt sich der Leser in Hinblick auf den Titel verblüfft. Den 579 Buchseiten folgt in der vorliegenden, mustergültigen Ausgabe ein Anhang von fast hundert Seiten mit einem 68seitigen, äußerst hilfreichen Nachwort der genialen Übersetzerin, welches dieses grandiose Werk zu einem ergiebigen literarischen Studienobjekt erweitert im Kanon der Jahrhundert-Romane.

Bewertung vom 26.06.2025
Helfer, Monika

Die Jungfrau


gut

Auf der Suche nach dem Ich

Im Reigen der bei auffallend vielen Autoren derzeit sehr beliebten, autofiktionalen Romane steht Monika Helfers «Die Jungfrau» für das Erkunden des ‹Ich›, was hier exemplarisch an der lebenslangen Freundschaft zweier Frauen dargestellt wird. Eine der beiden ist eine Schriftstellerin mit dem Vornamen Monika (sic!), die andere, wie die österreichische Autorin im Interview erklärt hat, allerdings nur zu dreißig Prozent reale Figur ist deren Freundin Gloria. Die eher unscheinbare, brave, aber blitzgescheite Moni kommt aus bescheidenen Verhältnissen, die exzentrische Gloria hingegen entstammt dem gehobenen bürgerlichen Milieu. Beide sind mit unterschiedlichen Talenten gesegnet. Moni ist eine sehr gute Schülerin, die ihrer Freundin bei Klassenarbeiten die Lösungen zuflüstert und dabei ganz bewusst auch Fehler einbaut, damit der Lehrer keinen Verdacht schöpft, weil die Versagerin plötzlich alles richtig macht. Gloria macht ihrem Namen alle Ehre, sie ist abenteuerlustig, äußerst attraktiv, erfolgreich und atemberaubend sexy, alle Männer schwärmen von ihr, und sie hat Talent als Schauspielerin, träumt von ihrer künftigen Karriere.

Der in acht Kapiteln erzählte, schmale Roman beginnt fünfzig Jahre später mit einem Hilferuf der kranken Gloria, die vor ihrem Tod unbedingt noch mal mit Moni reden will. Die Beiden haben sich völlig auseinander gelebt und sich schon jahrelang nicht mehr gesehen. Sofort fährt Moni zu ihr und findet sie verwahrlost in der ziemlich herunter gekommenen alten Villa, eine Nichte, die in der Nachbarschaft wohnt, betreut sie dort – und hofft mangels Blutsverwandten auf eine Erbschaft. Während Moni in zweiter Ehe mit einem Schriftsteller namens Michael (sic!) glücklich verheiratet ist und Kinder hat, ist Gloria ledig geblieben und, wie sie der Freundin gesteht, immer Jungfrau geblieben. Trotz ihrer umwerfenden Attraktivität habe sie nämlich nie mit einem Mann geschlafen. Auch eine einzige, leidenschaftliche Affäre mit einem verheirateten italienischen Professor blieb in diesem einen Punkte keusch, weil dieser Mann sich aus tiefer Religiosität strikt an sein Ehegelübde gebunden fühlte, woran auch Glorias sehnlicher Wunsch nach eigenen Kindern damals partout nichts ändern konnte.

In vielen chronologisch wild durcheinander gewürfelten Rückblenden beschreibt die Autorin, wie ihre Protagonistinnen zu denen wurden, die sie nun im Alter tatsächlich geworden sind. An einer Stelle im Roman werden diese von der Autorin selbstkritisch erkannten Zeitsprünge von ihr damit erklärt, dass Erinnern ja immer ein chaotischer Prozess sei, den sie nur getreulich abbilde in ihrer Geschichte. Und auch die Frage bleibt jeweils offen, ab wo der voyeuristische Zoom auf das Innerste ihrer Figuren von der Realität ins Fiktive abgleitet, reale Wahrheit also zur puren Fantasie wird. Das alles gipfelt in dem Wunsch von Gloria, ihre Freundin möge doch ein Buch über sie schreiben, denn wenigstens das würde zurückbleiben von ihr, wenn sie erst tot sei. Moni erkennt in den intensiven Gesprächen, die sie nach einer sehr langen, getrennt nebeneinander her gelebten Zeit nun führen, dass sie immer einen gewissen Neid empfunden hat und oft auch ziemlich eifersüchtig war auf Gloria.

Der eher konservativen, angepassten, bescheidenen Lebensweise der spät zu Ansehen gekommenen Schriftstellerin steht in diesem Roman das abenteuerliche, exaltierte, unter glänzenden Vorzeichen stehende Künstlerleben der exaltierten Jugendfreundin Gloria diametral gegenüber, was der Autorin reichlich Stoff bietet für allerlei kontemplative Exkursionen. Sie bleibt dabei aber auffallend distanziert, schreibt wie nebenbei über ihre Thematik, sie stellt weder selbst Fragen noch gibt sie Antworten auf Zweifel oder Widersprüche. Am Ende haben die alten Rollenbilder der ungleichen Freundinnen die biografischen Umbrüche und Verwerfungen fast allesamt überlebt, und das eigene Ich bleibt weiterhin rätselhaft. Die Autorin macht auch das Schreiben selbst zum Thema ihres Romans und bereichert ihn damit zusätzlich.

Bewertung vom 24.06.2025
Morrison, Toni

Gott, hilf dem Kind


gut

Überambitioniert und thematisch überfrachtet

Das Werk der US-amerikanischen Nobelpreis-Trägerin Toni Morrison ist gekennzeichnet durch das Thema Rassentrennung, so auch in «Gott, hilf dem Kind», ihrem elften Roman. Gegenüber früheren Romanen ist sie hier stilistisch aber neue Wege gegangen, sie arbeitet mit nicht weniger als vier Ich-Erzählerinnen, ergänzt um eine auktoriale Passage. Im Mittelpunkt des Plots steht ein farbiges Paar, beide Anfang zwanzig, die auf jeweils ganz individuelle Weise psychisch geschädigt sind durch schreckliche, rassen-feindliche Kindheits-Erlebnisse mit Sexualtätern, die sie mental nicht verarbeiten können.

Der vierteilige Roman beginnt aus der Perspektive von Sweetness mit der Geburt von deren Tochter Lula Ann, einem Baby, das im Gegensatz zu Mutter und Vater tiefschwarz ist. «Sie war so schwarz, dass es mir Angst machte», heißt es im Roman. Sie ist fassungslos, glaubt an eine Verwechslung, will das Kind zur Adoption freigeben. Sie selbst ist so hellhäutig, dass sie als Weiße gilt wie auch ihr Mann, der denn auch prompt glaubt, er wäre nicht der Vater, und wütend die Familie verlässt. Sweetness hat Probleme, mit der Situation klar zu kommen, sie erzieht ihre Tochter zu absolutem Gehorsam und zu einer unterwürfigen Haltung den Weißen gegenüber. Immer nach dem Motto «Nur nicht auffallen» in einem Land, dessen Bewohnern die Rassentrennung scheinbar unausrottbar in den Hirnen eingepflanzt ist, aller Vernunft zum Trotz! Als Lula Ann bei einem Prozess gegen ihre Lehrerin, die sich an Kindern vergangen haben soll, als Zeugin aussagt, belastet sie die Angeklagte, nur um sich wichtig zu machen und die Mutter zu beeindrucken. Eine Aussage, die der Lehrerin eine fünfzehnjährige Gefängnisstrafe einbringt und ihr selbst ein lebenslanges Trauma beschert. Lula Ann wächst zu einer bildschönen Frau heran, nennt sich künftig Bride und kleidet sich auf Anraten eines als Modeberater arbeitenden Freundes provokant nur noch in strahlendem Weiß, was sie als Black Beauty noch attraktiver macht. Und sie legt eine steile Karriere in einer Kosmetikfirma hin, deren Sortiment sie kreativ erweitert, - die junge Frau fährt fortan einen Jaguar.

Zweiter Protagonist des Romans ist neben Bride deren Freund Booker, dessen Geschichte auktorial erzählt wird. Sein älterer Bruder ist Opfer eines pädophilen Sexualverbrechens geworden, das ein Weißer Mann begangen hat. Obwohl er hochbegabt ist und erfolgreich studiert hat, hat diese Zäsur in seinen Jugendjahren ihn seelisch vollkommen aus der Bahn geworfen. Nach einem Streit trennt sich das Paar, und jeder versucht auf seine Weise, mit seinem speziellen Trauma fertig zu werden. Im Roman kommen Sweetness, die Mutter von Bride zu Wort, ferner Brooklyn, ihre beste Freundin und Kollegin, aber auch Sofia, die zu Unrecht verurteilte Lehrerin sowie Rain, ein von seiner Mutter an Männer vermietetes kleines Mädchen, dass von einem weißen Ehepaar bei strömendem Regen einsam auf der Straße aufgegabelt wird.

Rassismus ist niemals nur ein Übel bei den alten weißen Männern, wie immer gesagt wird, im Diskurs zur «Critical Whiteness» nimmt auch Toni Morrison deutlich dazu Stellung: «Mein Projekt ist das Bemühen darum, den kritischen Blick vom rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu wenden…» Und beweist auch in diesem Roman wieder, dass Selbsthass als rassistisch vorgeprägtes Bewusstsein bei den Betroffenen fest verankert ist. Sie erzählt oft sentimental, aber stilistisch locker, und meist erhaben über ihrer Geschichte stehend, in der abartige Sexualität eine wichtige Rolle spielt. Die Bilder, die sie schafft, sind nicht immer überzeugend, vor allem die kafkaeske Metamorphose von Bride zurück zu Lula Ann irritiert denn doch. Thematisch überfrachtet, ist dieser Roman zwar durchaus lesenswert, aber auch die gleich vierfach auftretenden, unzuverlässigen Erzählerinnen sind des Guten zuviel, hinterlassen sie doch allzu viele Leerstellen und falsche Fährten. Überambitioniert und thematisch überfrachtet, leider!

Bewertung vom 20.06.2025
Szalay, David

Turbulenzen


schlecht

Turbulente Lektüre für Minimalisten

Der in Kanada geborene und in London aufgewachsene Schriftsteller David Szalay hat sich für seinen zweiten Roman mit dem Titel «Turbulenzen» ein Setting ausgedacht, welches unwillkürlich an Schnitzlers ‹Reigen› erinnert. Der Buchtitel weist auf die heftigen Wetterstörungen hin, die beim Fliegen als unangenehme Begleiterscheinungen manchmal auftreten können. Und so sind denn auch die zwölf Kapitel des Romans jeweils an einen internationalen Flug geknüpft und mit den dreistelligen Kurzbezeichnungen der internationalen Flughäfen überschrieben. Alle Flüge zusammen absolviert würden eine Reise rund um die Welt ergeben, die in London begänne und dort nach 12 Flügen auch endet. Anders als bei Schnitzler sind die Figuren hier aber nur dadurch lose verbunden, dass eine Nebenfigur ohne feste thematische Bezüge im folgenden Kapitel zur Hauptfigur wird.

Auf dem unruhigen Flug LGW-MAD von London nach Madrid erzählt eine Frau mit Flugangst ihrem Sitznachbarn, dass sie in London ihren krebskranken Sohn besucht hat. Den senegalesischen Sitznachbar erwartet bei seiner Ankunft in Dakar die Nachricht von einem tragischen Unfall. Ein Frachtpilot erlebt in Dakar auf einer Taxifahrt zum Flughafen, wie ein Junge von dem Taxi totgefahren wird. Im Hotel angekommen, ruft er nach einigen Drinks nachts um zwei Uhr eine Bekannte an. Die versucht, ihn nach einer Liebesnacht möglichst schnell wieder los zu werden, sie hat als Journalistin einen Interview-Termin, den sie nicht verpassen darf. Eine Mutter besucht ihre Tochter, die gerade ein Kind geboren hat, das blind ist. Ein indischer Golfspieler bestiehlt ohne jedes Schuldbewusstsein den dementen Vater, die Tochter einer Auswanderin will einen syrischen Flüchtling heiraten, mutmaßlich nur, um seine Einbürgerung zu erzwingen. Eine Frau aus Budapest besucht ihren sterbenskranken Vater in London, sie hat ihn viele Jahre lang nur selten mal gesehen, und jetzt ist er dem Tode geweiht, aber sie finden keinen Zugang mehr zueinander.

Es sind emotional labile Charaktere, denen gemeinsam nur die seelischen und psychischen Turbulenzen sind, die ihr Leben instabil machen, sie über die Maßen belasten. Wie die Flugverbindungen sind auch die Verbindungen der Figuren untereinander von Störungen bedroht, die ihre vermeintliche Souveränität in Frage stellt und sie angreifbar und verletzlich macht. Mit der originellen Struktur seines Plots ermöglicht der Autor seinen Lesern tiefe Einblicke in das Leben seiner Figuren, die einsam sind, mit Beziehungsproblemen kämpfen, sich mit Krankheit und Tod auseinander setzen müssen, mit Unterdrückung und Betrug. Indem er seine Schauplätze über alle Kontinente hinweg verteilt, macht er seine Befunde zu globalen Problemen, die oft sogar erst durch die schrankenlose Mobilität des modernen Menschen entstehen. Jeder ist also gefordert, so die Botschaft, mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Insoweit ist dieser schmale Band ein veritabler Gesellschafts-Roman mit einer unverhohlen kritischen Note.

So kreativ das formale Konzept des Romans auch erscheinen mag, so kontraproduktiv ist die skizzenhafte Flüchtigkeit, mit der da flott über tiefgründige psychologische Probleme hinweg erzählt wird. Die schon fast sarkastisch knapp bemessenen Szenen eilen unbeirrt über schwierigste mentale Herausforderungen hinweg, von einer angemessenen, gedanklichen Tiefe kann nicht die Rede sein bei diesem Kurzroman. Während andere Autoren ihre Werke manchmal narrativ hoffnungslos überfrachten, geht David Szalay hier den umgekehrten Weg, wird damit allerdings seiner anspruchsvollen Thematik in keiner Weise gerecht. Ein Zuviel kann ärgerlich sein bei einem Roman, ein Zuwenig aber auch, das ist die ernüchternde Erfahrung nach der turbulenten, allenfalls für Minimalisten goutierbaren Lektüre!

Bewertung vom 18.06.2025
Scheer, Regina

Machandel


weniger gut

DDR-Epos von zerplatzten Lebensträumen

Der erste und bisher einzige Roman der in Ostberlin geborenen und literarisch vielseitig tätigen Schriftstellerin Regina Scheer erschien 2014 unter dem Titel «Machandel». Er bezeichnet ein fiktives Dorf in Mecklenburg, das in weiten Teilen der Schauplatz des Geschehens ist, aber im Niederdeutschen auch ein Bezeichnung für den Wacholder. Die Autorin schildert in ihrer von den 1930iger Jahren über den Zweiten Weltkrieg, DDR und Wiedervereinigung bis in die Neuzeit reichenden Geschichte die Auswirkungen der verschiedenen politischen Epochen auf die Figuren ihres umfangreichen Romans. Im Anhang «Die wichtigsten Personen» stellt sie nicht weniger als dreizehn davon ausführlich vor, und auch die 25 Kapitel dieses Wenderomans sind mit dem Namen einer der fünf Protagonisten überschrieben, aus deren Perspektive jeweils abwechselnd erzählt wird. Beides erweist sich als außerordentlich nützlich für die Orientierung beim Lesen.

Es beginnt damit, dass die 24jährige Clara, wichtigste Protagonistin des Romans und unschwer als Alter Ego der Autorin erkennbar, im Sommer 1984 von Ostberlin aus mit ihrem Mann und Jan, ihrem vierzehn Jahre älteren Bruder, nach Machandel reist. Jan wurde im Schloss von Machandel geboren und verbrachte seine Kindheit dort bei der Großmutter. Es ist ihre erste Reise in das Dorf, wo ihre Eltern sich einst kennen gelernt haben und ihr Bruder dann ein Jahr später auch geboren wurde. Sie entdeckt bei diesem Besuch eine herunter gekommene Kate, die sie als Sommerhaus herrichten will. Clara arbeitet dann dort unter primitivsten Bedingungen an ihrer Dissertation über das Märchen vom Machandelbaum, das es in den verschiedensten Dialekten aus unterschiedlichen Kulturen gibt. Allmählich lernt sie auch andere Dorfbewohner kennen und erfährt von deren Schicksalen. So von Natalja, einer Ostarbeiterin aus Weißrussland, die sich nach dem Krieg nicht hat repatriieren hat lassen und in Machandel geblieben ist. Hans Langner, Claras Vater, war während der Nazizeit im Roten Frontkämpferbund engagiert, überlebte das KZ und kann später in hohe Ämter der DDR. Clara und vor allem ihr Bruder stehen dem Regime kritisch gegenüber, Jan wird als Dissident zu Gefängnis verurteilt und verlässt nach der Haft 1985 die DDR. Er hatte einen Ausreiseantrag gestellt, der wohl wegen seines prominenten Vaters dann auch positiv beschieden wurde. Aber auch Clara und ihr Mann engagieren sich in einer regimekritischen Friedensinitiative, und gute Freunde von ihnen werden als Mitglieder einer Oppositionsgruppe sogar inhaftiert und müssen die DDR 1988 verlassen, - jedes politische Engagement war gefährlich im Arbeiter- und Bauernstaat.

In diesem äußerst komplexen, detailverliebt erzählten DDR-Epos von den zerplatzten Lebensträumen werden die Schicksale der vielen Figuren eng miteinander verwoben. Durch die unterschiedlichen Perspektiven ist es allerdings schwer, die komplizierten Zusammenhänge immer richtig zu verstehen und zuzuordnen. So erwähnt Claras Vater denn auch mehrfach, dass er seiner Tochter «nicht alles» erzählt habe, ein deutlicher Hinweis der Autorin also auf die Leerstellen, die sie für Claras Verständnis der Geschehnisse ganz bewusst gelassen hat. Dieses überbordende Epos als Konglomerat aus fünf Erzählstimmen leidet ein wenig unter deren Gleichklang, es fehlen Spannung erzeugende, alternative Standpunkte und kontroverse Diskussionen. Die Romanfiguren lassen scheinbar klaglos alles über sich ergehen, zeigen sich ohnmächtig einem Generationen übergreifenden, schicksalhaften Geschehen gegenüber.

Nüchtern, präzise und detailreich wird in diesem Roman von einer mystischen Gegenwelt zum ‹real existierenden Sozialismus› erzählt, raffiniert gespiegelt am uralten Mythos «Von dem Machandelboom», der bekanntlich eine bessere Zukunft verheißt. Die ist hier allerdings auch nach dem Mauerfall nicht gegeben und droht ja trotz all der negativen Erfahrungen wieder in einen faschistischen Albtraum abzugleiten. Die Figuren erzeugen keine Emotionen und bleiben unnahbar, ihre Geschichten sind allzu ausufernd erzählt und werden schnell quälend langweilig!

Bewertung vom 14.06.2025
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


gut

Vom Überwintern in Deutschland

Nach dem Erfolg seines Debütromans hat der auf Deutsch schreibende iranische Schriftsteller Behzad Karim Khani jetzt unter dem kryptischen Titel «Als wir Schwäne waren» seinen zweiten Roman vorgelegt. Die in der Jetztzeit angesiedelte, autobiografisch inspirierte Coming of Age Geschichte hat als hochaktuelle Thematik die Probleme der Migration in Deutschland zum Gegenstand. Reizvoll daran ist die authentische Perspektive, aus der ein jugendlicher Ich-Erzähler das Thema mit scharfem Blick für Details sehr subjektiv angeht. Wobei das Besondere daran ist, dass seine Probleme als Nicht-Deutscher hier nicht beklagt und bejammert werden, sondern in unverhohlenen, gewaltbereiten Hass umschlagen.

In den 1990er Jahren ist seine Familie mit ihm aus dem Iran geflohen und im Ruhrgebiet gelandet. Sein Vater ist Schriftsteller, seine Mutter Soziologin. Sie wohnen in einer Sozialwohnung in einem herunter gekommenen Hochhaus eines typischen Problem-Viertels mit verdreckten, stinkenden Treppenhäusern und allgegenwärtigem Müll drum herum. Die Mitbewohner sind andere Migranten aus aller Herren Länder, denen scheinbar jedes Gespür abgeht für Sauberkeit und Ordnung. Als später auch noch zwei Großfamilien von Sinti und Roma einziehen, zusammen fast einhundert Personen, verschlimmert sich die prekäre Lage dramatisch. Diese mehr als schlimmen Verhältnisse, in denen die kleine iranische Familie dort leben muss, bessern sich auch mit der Zeit nur wenig, ihr Wohnsitz ist und bleibt eine asoziale Müllhalde.

Auf den Straßen drum herum herrschen Zustände, von denen sich seine gebildeten Eltern keine Vorstellung machen können. Beginnend in der Schule erlebt der Junge eine nicht abreißende Welle von Gewalt, unter der er besonders leidet als Kind von Migranten. Diebstahl, Erpressung, Schlägereien sind an der Tagesordnung, aus Frust werden Autos mutwillig beschädigt oder angezündet, dauerndes Schulschwänzen gilt als ein nicht der Rede wertes Kavaliersdelikt. So bleibt es nicht aus, dass der heranwachsende Junge schon früh von seinen fragwürdigen Kumpels zu Ladendiebstahl animiert wird, man ihm aber auch sein eigenes Fahrrad klaut und er mit Drogen in Berührung kommt, zuerst als Junkie, später auch als Dealer, wobei man ihn eines Tages prompt auch erwischt. Unter diesen Umständen schafft er nur gerade so sein Abitur, an Studium und berufliche Karriere ist nicht zu denken.

In dieser Erzählung über Migranten erfährt man tatsächlich viel mehr über die Einheimischen, welche voller Vorurteile die Migranten zu Außenseitern machen und mit ihrer Fremden-Feindlichkeit das verhängnisvolle soziale Klima ja erst selber herbeireden. Die deutlichen Hinweise des Autors auf diese sachlich gebotene Umkehr der Schuldzuweisung prägen den Plot des Romans thematisch ebenso wie die bisher in der deutschen Literatur kaum thematisierte Gewalt, die daraus erwächst. Der Nährboden dafür sind eben genau jene Verhältnisse, von denen Behzad Karim Khani in seinem Roman authentisch berichtet. Er erzählt schnörkellos in einer bildhaften Sprache vom grandiosen Scheitern einer - immer nach dem Motto: «Wir schaffen das» - politisch leichtfertig herbei geredeten, überbordenden Migration in Deutschland. Von Politik ist in diesem Roman allerdings nicht die Rede, hier geht es einzig um die Befindlichkeiten seiner Figuren, die nach Deutschland kamen, aber nie wirklich angekommen sind. Berichtet wird strikt aus deren eigener Perspektive, wobei es einzig um ihre seelische Verfasstheit und die irreparablen mentalen Schäden geht, die atmosphärisch bedingt daraus hervor gegangen sind, - und ja weiterhin ungebremst daraus hervor gehen. Stärkste Figur des Romans ist übrigens der Vater, dem der Kapitalismus völlig fremd ist und der seine Rolle darin nur als Verlierer findet. Die titelgebenden Schwäne sollen andeuten, dass es in dieser Spezies auch Zugvögel gibt, selbst wenn sie mancherorts überwintern, - und der Protagonist gehört eben eindeutig zur Zugvogel-Fraktion. Überwintern in Deutschland, das heißt bleiben, kommt für ihn partout nicht in Frage!