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Bories vom Berg
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München
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Bewertungen

Insgesamt 798 Bewertungen
Bewertung vom 18.03.2022
Ein von Schatten begrenzter Raum
Özdamar, Emine Sevgi

Ein von Schatten begrenzter Raum


weniger gut

Kunst als Ersatzheimat

Die türkischstämmige Schauspielerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hat mit «Ein von Schatten begrenzter Raum» nach 17 Jahren wieder einen Roman veröffentlicht, der als autofiktionales Werk eine Bilanz ihres Lebens zieht. Gleich zu Beginn hält sich die Ich-Erzählerin, auf der Flucht vor den politischen Verhältnissen in Istanbul, 1971 auf einer der türkischen Inseln auf, von der aus Lesbos zu sehen ist. Dort sei Europa, erklärt ihr ein Einheimischer, dort werde es niemals dunkel. Der fiktionale Anteil des Romans wird schon bald deutlich, als ihr nämlich die Krähen auf der Insel dringend davon abraten, als Schauspielerin nach Deutschland zu gehen. «Auf einer deutschen Bühne ist eine türkische Frau eine türkische Frau, und eine türkische Frau ist eine Putzfrau. Das ist die tägliche Realität. Du kannst in Deutschland am Theater nur als Putzfrau Karriere machen», erklären ihr die schwarz gefiederten, visionären Unglücks-Boten, - und formulieren damit eines der Leitmotive dieses Romans.

Kann man als jemand, der die geografische Heimat verloren hat, in der Kunst seine Heimat finden, lautet die Kernfrage, ein weiteres Leitmotiv, das in diesem Roman in vielen Facetten, wenn auch oft ironisch, thematisiert wird. Die Protagonistin geht zunächst nach West-Berlin und arbeitet, zwischen West und Ost pendelnd, als Regieassistentin ihres Mentors Benno Besson an der Ostberliner Volksbühne. Ihre endlosen Streifzüge durch das «Kriegsinvalidenberlin» sind ein erster erzählerischer Höhepunkt des Romans. Mit scharfem Blick für die allgegenwärtigen Kriegsspuren an den zerschossenen Häusern nennt sie die zerstörte Metropole fortan «Draculas Grabmal». Man höre dort gleichermaßen das Schweigen der Täter wie auch die Stimmen der Opfer, für sie ein eher destruktives künstlerisches Arbeitsklima. Ab 1979 spielt sie dann am Schauspielhaus Bochum unter Matthias Langhoff, Intendant dort wird damals gerade Claus Peymann. Bis sie schließlich Benno Besson nach Paris holt, um an seiner Inszenierung von Brechts «Der kaukasische Kreidekreis» mitzuwirken.

Wesentlich stärker noch als die Berlin-Passagen prägen die endlosen Beschreibungen von Paris den Roman. Dabei stören schon bald die häufigen, oft wortwörtlichen Wiederholungen der immergleichen Szenen das Lesevergnügen. Sei es im Café, in der Metro, zuhause bei den diversen Freunden, die ihr selbstlos Unterkunft gewähren, beim Beschreiben der Eigenarten von deren Katzen oder dem täglichen Besuch eines psychopathischen Nachbarn, der Leser beginnt sich zu langweilen und schließlich zu ärgern. Hinzu kommt eine schwer zu bewältigende Fülle von erzählerischen Details, seien es die unüberschaubar vielen Figuren, denen die Protagonistin begegnet, oder die dauernd wechselnden Orte des Geschehens, die schiere Menge all dessen überfordert den Leser schlichtweg.

Die Art und Weise, wie die Autorin die vielen, in sich abgeschlossenen Szenen ihres Romans mit durchaus auch dokumentarischem Anspruch aneinander reiht, das erinnert an die Techniken von Bühne und Film. Besonders überzeugend sind dabei die ins Mystische weisenden Szenen, wenn Tiere oder Gegenstände plötzlich zu reden beginnen, oder wenn die Romanheldin immer wieder mal auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise am Grab von Edith Piaf zu der Sängerin spricht, ihr das Herz ausschüttet. Man kann diesen Roman auch als Versuch interpretieren, das libertäre Lebensgefühl einer Epoche herauf zu beschwören, um damit die gegenwärtige Leere, «Ein von Schatten begrenzter Raum», glücklich zu überwinden. Dabei wird nicht nur Vergangenheit und Gegenwart angenähert, es wird im Rückblick sogar, mit dem Terrorangriff auf Charlie Hebdo beispielweise, Jahrzehnte früher eine schreckliche Zukunft in den Text mit eingebunden. Weniger gelungen ist die traumatische Liebesgeschichte im letzten Drittel dieses in Teilen erfreulichen, dickleibigen Künstler-Romans, der als Ganzes aber nicht überzeugt, weil er mehr will, als er tatsächlich leistet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.03.2022
Das Versprechen
Galgut, Damon

Das Versprechen


gut

Irrlichternde Erzählerstimme

Als dritter südafrikanischer Autor hat Damon Galgut mit seinem Roman «Das Versprechen» 2021 den britischen Booker Prize gewonnen. Der Titel bezieht sich auf das uneingelöste Versprechen der Mutter einer weißen Familie, die auf dem Totenbett ihrem Mann das Versprechen abgenommen hat, ihrer farbigen Dienstbotin die baufällige Hütte auf dem Farmgelände zu übereignen, in der sie wohnt. Im vorangestellten Motto wird Federico Fellini mit einer Anekdote zitiert, der von einer ziemlich überdreht auftretenden Frau gefragt worden sei: «Warum gibt es in ihren Filmen nicht einen einzigen normalen Menschen?» Ist das als Hinweis auf die Roman-Figuren gedacht?

Zeugin des Versprechens war Amor, die jüngste, damals 13jährige Tochter des Ehepaares Swart. In dem vierteiligen Roman ist jeweils ein Teil der Mutter, dem Vater, der ältesten Tochter und dem Sohn gewidmet. Die enden jeweils mit ihrem Tod, Ma stirbt an Krebs, Pa am Biss einer Kobra, Astrid wird ermordet und Anton erschießt sich, weil seine Farm hoffnungslos überschuldet ist. Der Roman berichtet von den tief reichenden Konflikten der auseinander driftenden Familie vor dem politischen Hintergrund der südafrikanischen Geschichte, ausgehend vom Tod der Mutter 1986 und über das Ende der Apartheid hinweg bis zur Auflösung der ‹Kleptokratie› von Präsident Zuma. In den vier Romanteilen wird in teils drastischen Bildern vom langsamen Verfall einer Familie erzählt, deren Probleme bei der Sinnsuche von Religions-Übertritten, Ehezwist, Versagensängsten oder Alkoholismus bestimmt sind. All das wird zudem überschattet von desillusionierenden Erfahrungen in der Nach-Apartheid-Ära, in der die Gewissheiten der weißen Bevölkerung von einst zunehmend verloren gehen.

Durch den gesamten Roman zieht sich als alleiniger Spannungsbogen, geradezu gespenstisch im Hintergrund bleibend, das im Titel apostrophierte Versprechen, welches weder der Vater einlöst noch der Sohn, der die Farm nach dessen Unfall-Tod übernimmt. Zur Schlüsselfigur wird die erzählerisch im Hintergrund bleibende jüngste Tochter Amor, die jahrzehntelang vergebens die Einlösung des Versprechens fordert. Sie ist als Kind nur knapp dem Tod entronnen, als ein Blitz dicht neben ihr eingeschlagen ist. Dieses Erlebnis hat sie zweifellos geformt und besonders sensibel gemacht. Sie hat sich völlig von der Familie gelöst und findet in der Arbeit als Krankenschwester ihre Erfüllung. Nach einigen gescheiterten Beziehungen bleibt sie alleinstehend und ist oft auf Jahre hin für die Familie nicht erreichbar. So auch beim Tod ihres Bruders, erst am Tage der Trauerfeier erfährt dessen Frau zufällig, dass Salome, die Dienstbotin, ihre aktuelle Telefonnummer hat. Als Amor verspätet eintrifft, findet sie das Manuskript des Romans, an dem Anton seit vielen Jahren schrieb, und wie sie an den wenigen fertigen Seiten erkennt, ist er auch daran gescheitert. Amor übernimmt es als letzten Liebesdienst, wunschgemäß Antons Asche auf dem Grundstück zu verstreuen.

Damon Galgut stellt dem nicht eingehaltenen Versprechen der Familie, das wie ein Fluch über den Protagonisten liegt, die ebenfalls nicht eingehaltenen Versprechungen der Politik gegenüber. Und er lässt seine Figuren oft recht drastische Töne anschlagen: «Anton steht [betrunken] in der Toilettenkabine und pisst. Er weiß zwar nicht genau, wie er hierher gekommen ist, aber Pissen ist eine grundsätzlich ehrliche Tätigkeit. Kacken auch. Da kann man sich nicht hinter gesellschaftlichen Umgangsformen verstecken. Diplomatie sollte grundsätzlich auf dem Scheißhaus stattfinden». Der in den ersten zwei Dritteln eher holprig erzählte Roman mit unkonventionell irrlichternder Erzählerstimme liest sich erst im letzten Drittel flüssiger, zumal auch das Geschehen erkennbarer auf ein Ziel hinsteuert und dann sogar in ein unerwartet poetisches Ende mündet. Und das, obwohl ansonsten alle Emotionen konsequent ausgespart bleiben von einem zu seinen Figuren sarkastisch Abstand haltenden Autor.

Bewertung vom 10.03.2022
Ludwigshöhe
Pleschinski, Hans

Ludwigshöhe


sehr gut

Der Tod als Programmfehler

Seinem Roman «Ludwigshöhe» hat Hans Pleschinski ein an den ‹Zauberberg› erinnerndes Setting zugrunde gelegt, eine in die Jahre gekommene, einst pompöse Jugendstil-Villa, die aber hier von keinen Patienten, sondern von Lebensmüden bevölkert wird. Der Autor benutzt sie für seine originelle Versuchs-Anordnung, Suizid-Kandidaten einen letzten Zufluchtsort zu bieten, an dem sie ohne bürokratische Hürden völlig ungehindert aus dem Leben scheiden können. Das Ganze wird durch eine riesige Erbschaft ausgelöst, die nur unter der Bedingung wirksam wird, dass die drei Erben dieses Hospiz ein Jahr lang ausschließlich zu diesem sehr speziellen Zweck betreiben.

Der reiche Onkel aus Brasilien hat diese Hürde für drei Geschwister aufgebaut. Sie alle sind wenig zufrieden mit ihren persönlichen Lebensumständen und träumen von dem Luxusleben, das sie erwartet, wenn sie unter den strengen Augen des Notars die makabre Erbauflage erfüllen. Aber wie an die Kandidaten kommen? Jede öffentliche Werbung wäre ja sittenwidrig und würde die Behörden auf den Plan rufen! Also stecken sie im Wartebereich von Arztpraxen und Arbeitsagenturen in die dort ausliegenden Zeitschriften und Broschüren diskret schwarze Visitenkarten, auf denen Folgendes geschrieben steht: «Reicht es? Reicht es wirklich? Und nicht mehr weiter? Kein Weg mehr? Aber prüfen Sie sich. Alles in Ruhe. Wenn Sie verstehen, verstehen Sie», gefolgt von einer Telefonnummer. Und es melden sich auch tatsächlich Interessenten für diesen notgedrungen so verklausuliert angebotenen Service. Nach und nach füllt sich die Villa mit fast zwanzig «Finalisten», wie die Kranken, Verbitterten, Enttäuschten, Gescheiterten und Mutlosen hausintern genannt werden. Da ist zum Beispiel die von ihrem Lover verlassene Domina, ferner eine abgehalfterte, ehemals bekannte Schauspielerin, die nervlich an ihren Schülern gescheiterte Lehrerin, ein bankrotter Verleger, eine vom Alltagsstress ausgebrannte Verkäuferin, die medikamentensüchtige Witwe, der verzweifelte Bühnenbildner und ein medienmüder Radioredakteur. Wie zu erwarten folgen aber, von zwei Ausnahmen abgesehen, die im Keller tiefgekühlt gelagert sind, die Moribunden kaum noch ihrem ursprünglichen Ziel. Es entwickeln sich neue Beziehungen in diesem seltsamen Mikrokosmos, das Leben scheint weniger unerträglich zu sein als ursprünglich angenommen.

Die alte Villa dient als Bühne für menschliche Verrücktheiten und als Laboratorium für Wege aus dem ewigen Dilemma allen Lebens, seiner unabweisbaren Endlichkeit. Kann man dem denn wenigstens mit passiver Sterbehilfe beikommen, weil die aktive ja doch nur theoretisch möglich ist? Will man ein Fazit ziehen aus all den Gedanken, die in diesem lebensprallen Gesellschafts-Roman angesprochen und oft auch durchdekliniert werden, so kommt man letztendlich auf die einfache Formel: Unsterblichkeit wäre ein Fluch!

Humorvoll nutzt Hans Pleschinski seine Satire zu einem Feuerwerk an herber Gesellschafts-Kritik und zu verschmitzt vorgetragenen, philosophischen Diskursen über ein im Kern ja durchaus ernstes Thema. Aber wie eine Finalistin im Roman es sich wünscht, nämlich tot zu sein ohne sterben zu müssen, das funktioniert leider auch auf der «Ludwigshöhe» nicht. Es sind solche Verrücktheiten, die bei der Lektüre dieses makabren Plots immer wieder ein Schmunzeln erzeugen, den Leser aber öfter auch laut auflachen lassen. Sprachlich nutzt der fabulierlustige Autor mit seinem ironischen Plauderton alle Register seines Könnens. Er bleibt auch im Fiktionalen dem Realismus verhaftet, überzeugt zudem mit vielerlei intellektuellen Betrachtungen, aber auch mit fundiertem Alltagswissen. Dabei verzeiht man ihm dann, dass er seinen Stoff derart über Gebühr ausgewalzt hat, weniger wäre hier mehr gewesen. Das Wichtigste an dieser Moralsatire aber ist die beißende Kritik an einem Zeitgeist der intellektuellen Verflachung, in welchem der Tod, wie es im Roman heißt, «zum Programmfehler heruntergekommen ist».

Bewertung vom 07.03.2022
Rauschzeit
Stadler, Arnold

Rauschzeit


schlecht

Redundanter Lebensgefühls-Roman

Das Opus magnum des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler mit dem Titel «Rauschzeit» ist ein Roman ohne Plot, der allein von seinem eigenwilligen Stil lebt und genau damit eine sehr konträre Rezeption in Feuilleton und Leserschaft erzeugt hat. Am Beispiel eines Paares in der Beziehungskrise wird hier resignierend eine illusionslose Weltsicht thematisiert, die ihr Vorbild in Jean Paul hat, auf den der Autor in seinem intertextuell reich ausgeschmückten Roman häufig Bezug nimmt.

Der Buchtitel spielt auf die begrenzte Paarungszeit der Wildschweine an, die ihre Entsprechung findet im Sexualverhalten von Alain und Mausi, die eigentlich Irene heißt. Das in Berlin lebende, kinderlose Ehepaar, beide vierzigjährig und als Übersetzer tätig, hat sexuell seine «vegetarische Zeit» erreicht, sie beschimpft ihn, nicht ganz zu Unrecht, als «Waldschrat». Die sich über zwei Mittsommer-Tage, den 25. und 26. Juni 2004, erstreckende Handlung ist schnell erzählt: Alain reist zu einem Symposium nach Köln und trifft dort zufällig nach langer Zeit erstmals wieder auf seine Jugendliebe Babette. Mausi hat von Freunden eine Karte für ‹Toska› geschenkt bekommen und fiebert schon dem Opernabend entgegen, die zweite Karte ging nämlich an einen ihr unbekannten Dänen, der dann ja neben ihr sitzen wird. Und wie vorauszusehen finden Alain und Babette wieder zueinander, und Mausi und der blonde Däne werden ebenfalls ein Paar. So weit, so profan, - denn mehr ist da nicht! Der Autor hält sich an Mark Twain, den er häufig mit dem bezeichnenden Satz aus «Huckleberry Finn» zitiert: «Persons attempting to find a plot in will be shot». Also Vorsicht, verehrter Leser!

Dem Roman ist mit «Wir wissen wenig voneinander» ein Zitat von Georg Büchner vorangestellt. Und Arnold Stadler selbst beginnt seinen sechsteiligen Roman mit den sinnigen Worten: «Was ist Glück? Nachher weiß man es», den er später immer wieder mal zitiert und variiert. In oft kurzen, mit ihrem Namen überschriebenen Kapiteln lässt er jeweils abwechselnd seine zwei Protagonisten zu Wort kommen, Alain als Ich-Erzähler, die Mausi-Kapitel werden auktorial erzählt. Nur im vierten Teil schildert Alain unter dem Titel «Ma vie» auf fast zweihundert Seiten ohne jede Gliederung sein Leben. Das Besondere daran sind jedoch nicht die Inhalte, die erzählerisch wenig hergeben, es ist der alle Konventionen negierende Stil, in dem da erzählt wird. Er ist, typisch für Stadler, gekennzeichnet durch eigenwillige Sprachbilder, häufige Selbstzitate und Wiederholungen, aphoristische Irrwege oder Sackgassen und oft ins Groteske verzerrte Figuren. Und deren ständiger Begleiter auf ihrer unentwegten Suche nach Glück und Lebenssinn ist der Schmerz, der in ständigen Vor- und Rückblenden und mit vielen, meist wörtlichen Wiederholungen thematisiert wird. Besonders der mutmaßliche Freitod von Mausis bester Freundin, der trucksüchtigen Fotografin Elfi Rauschzeit (oh wie sinnig, dieser Nachname!) wächst sich im Roman schon fast zu einer Art Totenklage aus.

Erzählt wird in einer an Neologismen reichen Sprache, in der das unbekümmerte Wortspiel tragendes Element ist sowie die ungehemmte Lust am Verschieben von Buchstaben oder das eifrige Variieren zusammengesetzter Wörter mit phonetisch ähnlichen. Ein gleichartiges Spiel wird auch mit ganzen Sätzen veranstaltet, was zu bestenfalls komischen, aber auch zu oft völlig sinnlosen Aussagen führt. Befremdlich wirken zudem viele der vom Autor eingestreuten Aphorismen aus eigener Feder, deren tieferer Sinn sich oft nicht erschließt. «Mein Leben war eine Vermeidungsstrategie, damit es glückte» wird da verkündet, oder, ebenso sinnig: « Ich? Ein Joint Venture aus Schmutzfink und Sprachgitter». Als alles beherrschendes Formschema aber bläht ausufernde Redundanz die Textmasse des Romans unnötig auf und ärgert den geplagten Leser. Als stilistisch holperiger Lebensgefühls-Roman spricht «Rauschzeit» allenfalls einen äußerst kleinen, esoterischen Leserkreis an!

Bewertung vom 06.03.2022
Kazimira
Leiber, Svenja

Kazimira


gut

Baltisches Epos

Der neue Roman von Svenja Leiber weist mit dem slawischen Frauennamen «Kazimira» als Titel auf eine starke Frau als Protagonistin hin. Auf dem Umschlag ist Bernstein abgebildet, ein einst beliebter Schmuckstein, in dessen Abbaugebiet an der Kurischen Nehrung die Handlung räumlich angesiedelt ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von der Reichsgründung 1871 über beide Weltkriege bis 1945, und ergänzend ist dann auch noch ein Handlungsstrang im Jahre 2012 mit eingebaut.

Die mit einem Bernstein-Schnitzer verheiratete Titelheldin hat eine geniale Idee. Man könnte doch, erklärt sie ihrem Mann, das mühsame und verlustreiche Säubern der landeinwärts geförderten, aber stark verschmutzten Steine mit Hilfe einer künstlich erzeugten Brandung erledigen. In der würden sie dann automatisch ebenso sauber gewaschen werden wie die Zufallsfunde am Strand ja auch. Der jüdische Unternehmer Hirschberg greift diese Idee gerne auf und begründet damit in Weststrand, dem heutigen russischen Jantarny, eine lukrative Bernstein-Förderung im großen Stil, die ihm und auch seinen Arbeitern einigen Wohlstand bescheren. Neben diesem primären Handlungsstrang erzählt die Autorin im Rahmen einer breit angelegten Familiengeschichte über vier Generationen hinweg auch vom Ringen ihrer Heldin um Anerkennung und ein frei bestimmtes Leben. Sie will partout «kein Kindchen» und bekommt doch eins. Auch eine lesbische Episode wird erzählt, in der Kazimira die in ihr schlummernden, männlichen Anlagen entdeckt und mit einer Freundin auslebt. Als sie sich aber die Haare kurz schneidet und Hosen trägt, löst das einen Skandal aus, sie wird fortan von allen geächtet. Und auch der zunehmende Antisemitismus in Ostpreußen wird thematisiert. Die Unternehmer-Familie wird immer öfter angefeindet, verkauft schließlich den Betrieb und flieht in das vermeintlich weltoffenere Berlin, - bis die Nazis an die Macht kommen.

Es gibt als Binnenhandlungen etliche weitere Geschichten, von denen am meisten bedrückend die von Kazimiras Urenkelin mit Down-Syndrom ist. Eines Tages wird das Kind unter falschen Versprechungen zu einem Heimaufenthalt abgeholt. Sie kommt nie wieder, denn in Wahrheit fällt sie für die Nazis in die Kategorie «lebensunwertes Leben». Auch ein SS-Massaker kurz vor Kriegsende wird thematisiert, die greise Kazimira ist hilflose Zeugin des Mordens. Und die nachrückenden Russen bringen bald wieder neues Unheil. Ein weiterer Handlungs-Strang im Jahre 2012 berichtet von einem plötzlichen Boom für Bernstein. Nachdem dieser Anfang des Jahrhunderts völlig aus der Mode gekommen war und die Förderung eingestellt wurde, entstand durch die hohe Nachfrage aus China ein neuer Markt mit hohen Profiten. An denen wollen auch Kazimiras Ururenkelin und ihr Mann beteiligt sein, sie werden dabei aber in kriminelle Machenschaften hinein gezogen.

Das Leben in diesem abgelegenen Landstrich Ostpreußens wird sehr anschaulich, detailliert und teilweise in geradezu poetischen Sätzen beschrieben, man fühlt sich mittendrin im Geschehen. Allerdings ist es ein gewagtes Unterfangen, eine Familiengeschichte über mehr als ein Jahrhundert in all den gravierenden historischen Umbrüchen zu spiegeln. Zumal eine kaum noch überschaubare Anzahl von Figuren in immer neuen Episoden und unterschiedlichen Handlungs-Strängen auftritt. Die werden für sich genommen alle einfühlsam erzählt und sind zudem bereichernd, in Summe aber ist der Plot dadurch deutlich überfrachtet. Nicht zuletzt stören auch die vielen Zeitsprünge, sie tragen nicht gerade zu einem angenehmen Lesefluss bei und erfordern immer wieder ein lästiges gedankliches Umschalten. Svenja Leiber erzählt in weiten räumlichen und zeitlichen Bögen eine Geschichte, die in Teilen von Grausamkeiten berichtet und dann wieder, fast schon lyrisch, eine scheinbar heile, ländliche Welt beschreibt, die in eine raue Natur eingebettet ist. Leider ist es ihr nicht gelungen, ihre überbordende Stofffülle zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.

0 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.03.2022
Brooklyn soll mein Name sein
Lago, Eduardo

Brooklyn soll mein Name sein


ausgezeichnet

Kontemplative Hochliteratur

Als Roman eines Romans ist «Brooklyn soll mein Name sein» von Eduardo Lago, der nun erstmals auch auf Deutsch vorliegt, ein typisch selbst-referenzielles Werk, das insbesondere auch die Lust und den Frust beim Schreiben thematisiert. Der in Deutschland weitgehend unbekannte, in Madrid geborene und in New York lebende Schriftsteller und Hochschullehrer gewann für seinen kritischen Vergleich dreier spanischer Übersetzungen des «Ulysses» den ältesten und prestige-trächtigsten spanischen Literaturpreis, den ‹Premio Nadal›. Er ist zudem Gründungs-Mitglied des ‹Order of Finnegans›, kein Wunder also, dass sein grandioser erster Roman als intellektuelle Hochliteratur in manchem an James Joyce erinnert.

Mit «Die Toten leben einzig in uns» als Begleitzitat von Marcel Proust beginnt der Roman am ‹Fenners Point›, einem längst aufgelassenen Friedhof von dänischen Matrosen, die einst an dieser gefährlichen Steilküste des Atlantiks zu Tode kamen. Nur mit einer Sonder-Genehmigung darf der Schriftsteller Gal Ackerman dort, seinem Wunsch entsprechend, bestattet werden. Ich-Erzähler des Romans ist sein bester Freund, der von seinen Freunden nur Ness genannte Journalist Néstor Chapman. Er hat Gal versprochen, dessen unvollendeten Lebens-Roman an Hand des hinterlassenen Materials unter dem Titel «Brooklyn» fertig zu schreiben. So wollte Gal post mortem erreichen, dass seine seit Jahren verschollene, große Liebe, die in Sibirien geborene Pianistin Nadja Orlov, ihn als Einzige lesen kann. Es gibt mehrere Erzählstränge in diesem Roman, einer davon ist die Amour fou mit der deutlich jüngeren, geheimnisvollen Nadja, ferner die Herkunfts-Geschichte von Gal, die er erst mit 14 Jahren erfährt und die ein düsteres Geheimnis birgt. In einer Bar in Brooklyn, dem Oakland, laufen viele weitere Handlungsfäden zusammen. Dort ist quasi der Lebens-Mittelpunkt nicht nur für den Ich-Erzähler, sondern auch für eine illustre Schar von Stammgästen verschiedenster Couleur. Unter ihnen viele Seeleute, kaputte Typen, Getriebene, Aussteiger und Gestrandete, die untereinander ein enges Gefecht von Beziehungen und Abhängigkeiten verbindet, - und ein unbändiger Durst auf Alkohol, der nicht selten in Trunkenheits-Exzessen endet. Weitere Episoden beschäftigen sich zum Beispiel mit dem Chelsea, einem legendären Hotel mit berühmten Gästen, oder mit Coney Island und seinen Attraktionen, einst «Insel der Träume» für den jungen Gal.

Quelle für all diese Episoden ist die «letzte Ruhestätte», Gals unerschöpfliches Archiv direkt über der Bar, wo er geschrieben hat und woher nun all die Tagebücher, Briefe, Notizen und Zeitungs-Ausschnitte stammen, die Ness als sein Testaments-Vollstrecker in den Roman einbringt. Mit einer ausgeprägten Intertextualität verbunden sind hier außer den Schriftsteller- auch viele Künstler-Geschichten. Gal hat Thomas Pynchon und Dylan Thomas im Chelsea getroffen, und er berichtet zum Beispiel auch vom Freitod des manisch-depressiven Mark Rothko in seinem Atelier.

Es ist nicht leicht, sich in diesem Mikrokosmos des Autors zurechtzufinden, weil eine Überfülle von Motiven, Szenen und Gedanken auf den Leser einstürzt und zum Verständnis dessen volle Konzentration fordert. Ein wenig hilft dabei das angeschlossene Register, das in der Reihenfolge ihres Erscheinens nicht weniger als 148 Personen verzeichnet, womit sogar Dostojewskis «Krieg und Frieden» in den Schatten gestellt wird. Hilfreich ist auch eine Chronologie der Ereignisse in Kurzform sowie ein siebenseitiges Glossar mit erläuternden Anmerkungen, so zum Beispiel zu Sacco und Vanzetti, die ebenfalls ihren Platz finden in diesem labyrinthischen Roman. Was Dublin im Ulysses ist, ist New York in diesem fragmentiert angelegten Exil-Roman, dessen Protagonist den ‹Big Apple› rastlos durchstreift und seine Wege und Beobachtungen minutiös beschreibt. Wer sich darauf einlässt als Leser, der wird hier kontemplativ herausgefordert, aber literarisch auch überreich belohnt.

Bewertung vom 24.02.2022
Lavaters Maske
Sparschuh, Jens

Lavaters Maske


weniger gut

Die Nöte eines Schreiberlings

Der Titel «Lavaters Maske» von Jens Sparschuh verrät, dass es um die Maskerade des Lebens geht, um Physiognomik, hier im Roman speziell um die wissenschaftliche Methode, aus den Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Johann Caspar Lavater war im achtzehnten Jahrhundert Begründer und wichtigster Vertreter dieser Lehre, heftig angefeindet von Lichtenberg, später auch von seinem Jugendfreund Goethe. Das Thema des 1999 erschienenen Romans ist insoweit hochaktuell, als China die heutigen technischen Ressourcen radikal nutzt, um einen lückenlosen Überwachungs-Staat zu realisieren. Dieses totalitäre Regime kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt mit modernster Software zur Gesichts-Erkennung, um Rückschlüsse auf ihre seelische Verfasstheit zu ziehen. Die Orwellsche Dystopie «1984» ist also doch noch Realität geworden.

Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Germanist und wenig erfolgreicher Schriftsteller, dem für sein letztes Buch das «Wühlischheimer Ehrenstipendium» zugesprochen worden war, damit er eine Zeit lang in ländlicher Ruhe schreiben kann. Er führt nun ein mit Residenzpflicht verbundenes, ziemlich langweiliges Stadtschreiber-Dasein. Ausgerechtet jetzt aber leidet er an einer Schreib-Blockade, ihm fällt partout kein neues Thema ein. Auf telefonische Nachfrage seines Agenten, woran er denn derzeit arbeite, antwortet er ohne lange zu überlegen mit einer Notlüge: Er schreibe über Lavater. Er hat das gar nicht vor, aber daraus wird dann tatsächlich Ernst, als sich nämlich auch noch ein Filmboss für den eher ungewöhnlichen Stoff interessiert. Da winken ihm ja schließlich dringend benötigte Vorschüsse. Er beginnt also, über seinen Protagonisten zu recherchieren, und stößt dabei schon bald auf eine Selbstmord-Geschichte. Enslin, der jugendliche Sekretär von Lavater, hatte sich mit einem Gewehr erschossen, ein mysteriöser Suizid, der bis heute viele Fragen aufwirft.

Die Recherchen zu dem Exposé für den geplanten Film nehmen breiten Raum ein in diesem Roman, unterbrochen nur von gelegentlichen Lese- und Vortragsreisen, mit denen der Ich-Erzähler zwischendurch seine notorisch klamme Kasse wieder auffüllt. Dieser ergänzende Erzählstrang ist witzig und zeugt davon, dass der Autor wohl vertraut ist mit den Gegebenheiten und Ritualen, denen sich heute ein Schriftsteller unterziehen muss als Promoter seiner eigenen Werke. Weniger lustig ist allerdings, was man in Form von historischen Briefen, Lexikonbeiträgen und zeitgenössischen Zitaten über Lavater und seinen Schreiber Enslin erfährt. Dieser eigentliche Haupt-Strang des Romans ist äußerst langweilig zu lesen, er führt zudem mit den wilden Spekulationen des Ich-Erzählers, was denn nun wirklich passiert ist in der Causa Enslin, ins Leere. Ebenso ins Leere führen auch die wirren Versuche des schreibenden Romanhelden, seinem Exposé eine tragfähige, glaubhafte und zündende Idee als Handlungsgerüst zu Grunde zu legen. Das Ganze wird nur immer wirrer, er macht die aberwitzigsten Erfahrungen, trifft auf die merkwürdigsten Leute und scheitert letztendlich auch im privaten Bereich, das Zwischenmenschliche ist nicht seine Stärke.

Ähnlich ergeht es auch Jens Sparschuh, es ist ihm nämlich nicht gelungen, das Lavater-Thema mit dem seiner Romanfigur, des Schriftstellers in der Identitäts-Krise, stimmig zu verbinden, beides steht in dieser doppelbödigen Geschichte unabhängig voneinander für sich. Da passt es dann auch, dass der eher trottelige, gleichwohl aber sympathische Protagonist am Ende des Romans in einer Festrede zum Thema Physiognomik kläglich scheitert. Gerade diese fachspezifischen Passagen wirken als Störfaktor, sie sind einfach nicht stimmig in ein erzählerisches Werk zu integrieren. Insoweit ist dieser anekdotenreiche Roman allenfalls wegen seiner gekonnt erzählten, amüsanten Einblicke in die Nöte eines mittelmäßigen Schreiberlings zur Lektüre zu empfehlen, als Ganzes aber ist er leider misslungen.

Bewertung vom 21.02.2022
Lichte Stoffe
Boehning, Larissa

Lichte Stoffe


schlecht

Psychedelisches Palaver

Für ihren Roman «Lichte Stoffe» hat Larissa Boehning den hochdotierten Mara-Cassens-Preis als bestes deutschsprachiges Debüt des Jahres 2007 verliehen bekommen. Sie beschreibt darin die Suche einer jungen Frau nach dem Schlüssel für ihre eigene Herkunft und verwebt in ihrer Geschichte Themen wie Raubkunst, Besatzungskinder, deutsch-amerikanische Animositäten, Familien-Geheimnisse und persönliches Scheitern. «Geheimnisse sind der Motor zum Erzählen» hat die Autorin im ZEIT-Interview erklärt, ihre Figuren spiegelten einzeln das Hauptthema des Romans wider, «weil jede Figur ihre eigene Lüge mitbringt oder verarbeitet». Worauf sich der Buchtitel bezieht, erfahren wir in der Mitte des Buches, als die Protagonistin nach der Trennung von ihrem Mann sinniert: «Aber die Liebe? Lichter Stoff.»

Die Großmutter von Nele Niebuhr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen farbigen GI kennen und lieben gelernt. Er war als Bewacher eines Lagerstollens für Nazi-Beutekunst zufällig in einer Nische auf ein rahmenloses Ölgemälde gestoßen und hat es heraus geschmuggelt. Das Bild von Degas zeigt eine Frau mit Hut, und da die Großmutter eine Hutmacherin war, hatte der Besatzungs-Soldat es ihr geschenkt. Als sie schwanger wurde, endete die Liaison mit dem Ami, sie gab ihm das Bild zurück, bevor er sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht hat. Dieses Trauma, alleingelassen zu werden mit einem Mischlingskind, hat sie niemals überwunden, aber solange sie lebte hat sie auch nie darüber gesprochen. Eva, die Tochter der Alleinerziehenden, lebt mit ihrem Mann in einer Reihenhaus-Siedlung, sie ist konsumsüchtig und hat ständig Besuch vom Gerichtsvollzieher. Ihr Mann Bernhard wurde nach dreißig Jahren als Sicherheitschef einer Großbäckerei entlassen, von schnöseligen Unternehmens-Beratern einfach wegrationalisiert. Er traut sich nicht, das seiner Frau zu sagen, und geht jeden Morgen ‹zur Arbeit›, um den Schein zu wahren. Die inzwischen dreißigjährige Nele, Tochter der Beiden, ist in Chicago mit dem Verkaufsleiter eines Herstellers ausgeflippter Sportschuhe verheiratet. Sie steht vor den Trümmern ihrer Ehe und dem Ende ihrer Karriere als Designerin in der gleichen Firma. Nach dem Tod der Großmutter stößt sie auf Ton-Kassetten, auf denen die Oma von dem Degas-Gemälde erzählt, das inzwischen Millionen wert sein muss. Nele macht sich auf, diesem Familien-Mythos auf den Grund zu gehen, den verschollenen Großvater und das Bild zu finden.

Erzählerischer Rahmen des Romans ist ihr Rückflug nach Deutschland, sie hat einen älteren Herrn im Tweedsakko als Sitznachbarn, der sich in der Malerei auskennt und ihr viel zu erzählt weiß. Neles Besuch beim Großvater hat sich als Fiasko erwiesen, sie hatten sich nichts zu sagen, das Bild bei ihm an der Wand könnte allerdings tatsächlich der Degas sei. Mit dieser Beutekunst-Geschichte legt die Autorin eine falsche Fährte, wohl um Spannung zu erzeugen. In Wahrheit geht es ihr offensichtlich um andere Themen wie zum Beispiel das deutsch-amerikanische Verhältnis oder der Konsum-Fetischismus, den sie karikaturhaft übertreibend in der Turnschuh-Episode an den Pranger stellt. Und völlig unverständlich bleibt der Sinn einer Episode, in der Neles Vater Bernhard sich kurz entschlossen dem Nachbarn anschließt, als der sich für drei Wochen mit 100 Euro pro Tag bei Manövern als Darsteller einer feindlichen Zivilbevölkerung anheuern lässt. Wenig überzeigend sind vor allem die Animositäten den Amerikanern gegenüber, die hier recht schablonenhaft artikuliert werden.

Diese Geschichte vom Leben der Frauen dreier Generationen einer Familie, bei denen fast alles schiefgeht, wird in verschiedenen Rückblenden metaphernreich erzählt. Immer wieder artet allerdings die Erzählweise in ein psychedelisches Palaver aus, was schon bald ziemlich nervt. Man grübelt dann zum Beispiel, was unter «Zahnpastasuburbs» zu verstehen sei oder was denn ein «kaugummifadenzartes Streichorchester» für eine Musik zu erzeugen vermag.

Bewertung vom 20.02.2022
Warum du mich verlassen hast
Ingendaay, Paul

Warum du mich verlassen hast


gut

Weniger wäre mehr gewesen

Der Debütroman von Paul Ingendaay greift mit seinem Titel «Warum du mich verlassen hast» auf die Worte von Jesus am Kreuz zurück. Ein deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem dieser Internats-Roman angesiedelt ist, ein katholisches Internat nämlich. Der Autor beschreibt darin eigene Erfahrungen, wie er im Nachwort erklärt. Er habe ganze siebzehn Jahre gebraucht, bis er nach der Erstfassung und nach langen Schreibpausen dann seine auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte ‹in einem Rutsch› neu geschrieben habe.

In einem Knaben-Internat fühlt sich der fünfzehnjährige Bücherwurm Marko sehr alleingelassen. Zwangsläufig beschäftigte er sich viel mit Gott, in der Adoleszenz gewinnt natürlich auch die «Mädchenfrage» eine immer größere Bedeutung, seine wahre Leidenschaft aber sind die Bücher, die ihm dann auch über seine gelegentlichen Nihilismus-Anfälle hinweghelfen. Leitmotivisch zieht sich Robinson Crusoe durch die Erzählung, der ja, ebenfalls alleingelassen, ähnlich gefordert war wie Marko auf seiner einsamen Internats-Insel. Dort herrscht eine strenge Ordnung, die Zöglinge werden geschlagen und gedemütigt, die rigorose religiöse Erziehung ähnelt in ihren drastischen Methoden eher einer Gehirnwäsche als der einfühlsamen Vermittlung moralischer Werte. Neben den Büchern helfen ihm nicht nur seine Kumpels über all den Frust hinweg, vor allem auch sein Religionslehrer, Bruder Gregor, ist ihm ein Mentor und unermüdlicher, literarisch kompetenter Gesprächspartner, der so gar nicht in diese Knaben-Zuchtanstalt hineinpasst. Auch bei dem unkonventionellen Hausmeister ist Marko oft zu einem Plausch, und der lässt ihn das geheimnisvolle «Buch der Ordnungen» lesen, eine Art Internats-Almanach. Als Marko erfährt, dass seine in Köln lebenden Eltern sich getrennt haben, bricht eine Welt für ihn zusammen, auch den sicheren Hafen der Familie gibt es nun nicht mehr für ihn. Bis schließlich etwas Schreckliches passiert und Marko sich moralisch verpflichtet fühlt, die arglistig vertuschte, bittere Wahrheit ans Licht zu bringen.

Paul Ingendaay hat für seinen in den 1970er Jahren angesiedelten Roman, der ja an die Internats-Geschichten von Hesse oder Musil erinnert, eine eigene Sprache gefunden, in der er seinen rebellischen Ich-Erzähler und Protagonisten reden lässt, ein konsequent durchgehaltener Jugend-Slang, wie er ähnlich auch bei Salinger zu finden ist. Vor allem aber die oft absurd komischen Gedankengänge des Helden unterscheiden den Roman von seinen großen Vorbildern und machen ihn zu einer unterhaltsamen Lektüre. Dem stehen gleichwertig allerdings ebenso viele kontemplative Abschnitte zu philosophischen Fragen gegenüber. Die werden neben vielen Bibelzitaten auch mit Zitaten von Kierkegaard bis Seneca untermauert und in funkelnden Dialogen erörtert. Der aufgeweckte und belesene Marko erweist sich dabei nicht nur als rhetorisch gewandt, er spricht gelegentlich auch den Leser direkt an und benutzt dabei oft spöttisch einen predigtartigen Ton. Er und viele der originellen Romanfiguren wirken sympathisch, und sogar der eine oder andere bigotte Erzieher zeigt manchmal, dass er eine versteckte menschliche Seite hat. Aber das bleibt die Ausnahme! «Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch» heißt es im Roman, und das ist letztendlich auch hier die bittere Erkenntnis.

Neben einem wenig dramatischen, aber stimmig bis zum Ende anhaltenden Spannungs-Bogen überzeugt dieser Roman vor allem mit seiner anschaulich beschriebenen Internats-Atmosphäre. Zu der gehören auch die Zumutungen der «Schädelstätte», wie die Zöglinge die grottenschlechte Internatsküche in ihrem Jargon verächtlich bezeichnen. Es ist letztendlich dieser juvenile Jargon, der diesen astreinen Internats-Roman zu einer ebenso amüsanten wie bereichernden Lektüre mit einigem gedanklichen Tiefgang macht. Ein deutlicher Wehrmutstropfen ist dabei allerdings seine schiere Länge, zweihundert Seiten weniger wäre mehr gewesen!

Bewertung vom 20.02.2022
Der Turm
Tellkamp, Uwe

Der Turm


ausgezeichnet

Zweitlektüre zu empfehlen

Im Jahre 2008 erschien unter dem Titel «Der Turm» von Uwe Tellkamp der ‹ultimative Wenderoman›, er wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Vier Jahre später erreichte die ARD mit ihrer Verfilmung des Stoffs mehr als sieben Millionen Zuschauer. In seinem Opus magnum hat der Autor die letzten sieben Jahre der DDR bis zum unblutigen Volksaufstand im ersten Arbeiter- und Bauerparadies auf deutschem Boden thematisiert. Und er hat es aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert, dem auch im Sozialismus durchaus vorhandenen Bildungs-Bürgertum eines noblen Dresdner Villenviertels.

Als Erzähler aus der Mitte einer systemfernen Bourgeoisie fungieren dabei der zu Beginn 17jährige Schüler Christian, der Arzt werden will, ferner sein Vater Richard, Oberarzt in einer chirurgischen Klinik, sowie sein Onkel, der studierte Biologe Meno, der fachfremd als Lektor in einem renommierten Verlag tätig ist. In unzähligen Episoden mit einer Hundertschaft von Figuren werden hier Geschichten aus den verschiedensten Milieus erzählt, die in einem dichten Geflecht von Verbindungen allen möglichen Kreisen der Gesellschaft angehören. Neben dem familiären und nachbarschaftlichen Verbund sind dies das Gesundheits-Wesen, für das der Vater steht, ferner das Bildungs-Wesen und die Nationale Volks-Armee, die der Sohn durchläuft und durchleidet, und schließlich auch das Verlagswesen, in dem sich der Onkel zu behaupten hat. Alle Drei sind dabei den bekannt fiesen Pressionen des Regimes ausgesetzt und kämpfen mit dessen grotesken Unzulänglichkeiten. Über allem wacht als permanente Bedrohung ein Spitzelsystem, das jederzeit mit einem Schlage eine erfolgreiche Karriere endgültig zerstören oder eine sich abzeichnende von vornherein verhindern kann. Im privaten Leben kommt es neben dem täglichen Kampf mit der Mangelwirtschaft und jederzeit drohenden Denunziationen natürlich auch zu amourösen Verwicklungen, die so weit gehen, dass der Vater dem Sohn die Freundin ausspannt. Onkel Meno liegt in ständigem Kampf mit den literarischen Betonköpfen der Kulturbehörden, den er in einem geradezu poetischen Tagebuch festhält, aus dem im Roman immer wieder mal zitiert wird.

Uwe Tellkamp schildert das bourgeoise Milieu, dem er ja ebenfalls entstammt, mit scharfem Blick für kleinste Details durchaus selbstkritisch. Bei allem Realismus wird dem Geschehen aber auch die eine oder andere eher märchenhafte Szene auflockernd beigemischt. In diesem Kaleidoskop sind die einzelnen Textteile, oft in unterschiedlicher Diktion, locker aneinander gereiht. Neben fachsprachlichen Begriffen finden sich da auch Militär- oder Stasi-Jargon, ein lautgetreu geschriebenes, breites Sächsisch, zuweilen aber auch eine poetische, nur in der gehobenen Literatur anzutreffende Ausdrucksweise. «Der Turm» enthält Elemente des Schlüsselromans, mehr als ein Dutzend Figuren sind da mehr oder weniger deutlich erkennbar, ein Who-is-Who der DDR-Literatur-Schaffenden bis hin zu einigen aus dem dekadenten Westen.

Als Tausendseiter hat dieser Roman mit seinen familiären Erzählern nicht nur vom Umfang her gewisse Ähnlichkeiten mit den Buddenbrooks. Besonders deutlich wird das im ersten Teil durch dem vergleichbar bildungssatten wie auch beschaulichen Erzählgestus. Diesem bürgerlichen Realismus mit seinen vielen literarischen Anspielungen und Symbolen steht im zweiten Teil unter dem Titel «Die Schwerkraft» ein eher sozialistisch geprägter Realismus gegenüber. Der zielt, deutlich politischer, auf die sich abzeichnende Wende hin, jene am 9. November 1989 bevorstehende Zäsur, in die der Leser an diesem historischen Tag abrupt entlassen wird. Die gigantische Materialfülle ist letztendlich auch erdrückend, sie übersteigt in ihrer Vielfalt deutlich das Aufnahmevermögen. Was man dann erst beim zweiten Lesen merkt, denn nach mehr als zehn Jahren ist davon kaum noch etwas erinnerlich. Es lohnt sich also jede erneute Lektüre, eine erste aber ist geradezu Pflicht!