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Bories vom Berg
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München
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Bewertungen

Insgesamt 798 Bewertungen
Bewertung vom 17.01.2022
Der andere Ort
Cusk, Rachel

Der andere Ort


schlecht

So what?

In Form eines Briefromans hat die kanadisch-britische Schriftstellerin Rachel Cusk mit «Der andere Ort» die Seelenpein einer alternden Frau beschrieben, die in einer Art Torschluss-Panik versucht, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Als Vorlage für ihre Geschichte, erfährt man in der Nachschrift, diente der unerquickliche Besuch von H. D. Laurence in der von Mabel Dodge Luhan gegründeten Künstlerkolonie in Taos, New Mexico, sie habe nur den Poeten durch einen Maler ersetzt.

Prompt heißt dieser Maler im Roman L, die Erzählerin heißt M, und der Bericht, den sie als eine Art Lebensbeichte schreibt, ist an einen gewissen Jeffers gerichtet, für den der Dichter Robinson Jeffers, ein Freund der M. D. Luhan, Pate stand. «Ich habe dir einmal erzählt, Jeffers, wie ich in einem Zug ab Paris den Teufel getroffen habe», lautet der erste Satz. Die fünfzigjährige M lebt mit ihrem zweiten Mann Tony auf einem Ufergrundstück in einer abgelegenen Küstenregion Englands. Bei einer Ausstellung in Paris hatte sie ein Gemälde von L gesehen und war fasziniert von dessen Wirkung, sie fühlte sich sehr direkt angesprochen. Erst nach mehreren Absagen folgt der berühmte Maler schließlich ihrer Einladung zu einem längeren Arbeits-Aufenthalt, die landschaftlich reizvolle Küste bietet ja reichlich Motive. Überraschend bringt L seine attraktive, junge Geliebte mit. Die Beiden werden im separaten Gästehaus untergebracht, wo L, der sich in einer Schaffenskrise befindet, ideale Bedingungen zum Malen vorfindet. Auffallend distanziert vermeidet er jedoch den Kontakt mit M, bleibt ihr gegenüber äußerst wortkarg. Auch Tony, der ausgeglichene, in sich ruhende Mann von M, ein pragmatischer Vernunftmensch, wird nicht richtig warm mit ihm. Geradezu provokant wirkt die lebenslustige Geliebte auf M, deren blühende Jugend ihr, verglichen mit ihrem eigenen, von unübersehbarem Verfall gezeichneten Alter, erschreckend bewusst wird. Das psychologisch komplexe Figuren-Ensemble wird schließlich noch mit der Ankunft der Tochter von M und deren schnöseligem Freund erweitert und stürzt die Ich-Erzählerin in zusätzliche Zweifel.

Rachel Cusk deutet die demütigende Abneigung des Malers seiner Gastgeberin gegenüber als völligen Mangel an «Moral und Pflichtgefühl», ihm fehle schlicht der Sinn dafür. «Mit dem Konzept der Verpflichtung konnte er einfach nichts anfangen. Vor allem das war es, was mich zu ihm hinzog, auch wenn mir klar war, dass er keinerlei Anziehung verspürte und das Ganze nur in einer Katastrophe enden konnte». Die Zweifel an ihrer Ehe und letztendlich auch an ihrem Leben kommen zum Ausdruck, wenn M sinniert: «Ach Tony, sagte ich in meinem Herzen, verrate mir, was wahr ist. Ist es falsch, zu wollen, was du mir nicht geben kannst? Mache ich mir etwas vor, wenn ich glaube, dass es richtig ist, mit dir zusammen zu sein, nur weil es so einfach und so schön ist?»

Das Leben sei «mehr Ringen als Tanzen» wird am Ende – fälschlich – Nietzsche mit einem Ausspruch von Marc Aurel zitiert. Und genau das wird hier auf eindrucksvolle Weise literarisch verdeutlicht durch den Kampf gegen die in M geweckten, inneren Dämonen. Mit denen ist die Protagonistin plötzlich konfrontiert, sie haben den Glauben an ihre erotische Anziehungskraft nachhaltig zerstört und sogar existentielle Zweifel bei ihr ausgelöst. Der psychologisch dichte Roman hat im Wesentlichen diesen verzweifelten inneren Kampf seiner Heldin zum Gegenstand, und so dreht sich denn der weitgehend ereignislose Plot nur um ihre aus den Fugen geratene, feminine Selbstgewissheit. Ist der egozentrische Malerfürst, der sie grausamer Weise auch nicht malen will, also der Satan in Person? Als das «erbarmungslos intelligente Porträt des Älterwerdens» hat die Autorin selbst ihren Briefroman bezeichnet. All die toxischen Fragen, die er in vielen Varianten unentwegt aufwirft, werden mit oft ins Profane abgleitendem Gefasel wenig überzeugend beantwortet. So what? fragt man sich ziemlich frustriert als Leser!

Bewertung vom 10.01.2022
Halbschatten
Timm, Uwe

Halbschatten


gut

Der Flug ist das Leben wert

Uwe Timm hat mit seinem Roman «Halbschatten» einer illustren Figur aus der Frühgeschichte der Fliegerei ein Denkmal gesetzt, der jungen Pilotin Marga von Etzdorf. Sie gehörte zu den wenigen berühmten Fliegerinnen wie Hanna Reitsch oder Elly Beinhorn, die sich in der Weimarer Republik als Kunstfliegerinnen und mit diversen Flug-Rekorden einen Namen gemacht hatten. Das kurze Leben der ehrgeizigen Marga von Etzdorf endete, als sie sich mit fünfundzwanzig Jahren nach einer Bruchlandung in Aleppo im Mai 1933 das Leben genommen hat.

Wie der Autor in einer Nachschrift erklärt, hat er sich bei der Geschichte seiner Protagonistin auf deren Buch «Kiek in die Welt» gestützt, in dem sie von ihrem Leben erzählt. Den gleichen Namen trug auch ihr knallgelb lackiertes Flugzeug, eine Junkers A50, mit dem sie 1931 zu ihrem erfolgreichen Rekordflug Berlin-Tokio gestartet ist. Auf dem Rückflug setzte nach dem Start in Bangkok der Motor aus, sie stürzte aus 80 Meter Höhe ab und wurde schwer verletzt, ihre Junkers hatte Totalschaden. Nach ihrer Genesung plante sie mit einer Klemm Kl32 einen erneuten Rekordflug Berlin Kapstadt, wobei sie finanzielle Unterstützung von den Nazis erhielt. Als Gegenleistung musste sie nicht nur eine Maschinenpistole mitnehmen, um ein Exportgeschäft vorzubereiten, sie sollte auch mit einer speziellen Kamera für die deutsche Auslands-Spionage Fotos von strategischen Zielen anfertigen. Dazu kam es aber nicht, denn ihr Flugzeug wurde bei der Landung in Aleppo beschädigt, weil sie versehentlich mit dem Wind gelandet war und über die Piste hinausgeschossen ist. Zwanzig Minuten später erschoss sie sich im Flughafen-Gebäude.

Diese Kernhandlung ist in eine zweite Erzählebene eingebettet, in der berichtet wird, wie ein Schriftsteller auf den Spuren seiner Romanheldin in Berlin den Invaliden-Friedhof besucht. Dort trifft sich der Ich-Erzähler mit einem Stadtführer, der ihm in einer Führung ‹nur für ihn allein› ans Grabmal von Marga von Elzdorf führt. «An diesem Ort» sagt der ‹Graue‹›, wie er fortan im Roman nur noch heißt, «liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben. Jedenfalls die militärische. Scharnhorst liegt hier und andere Generäle, Admiräle, Obristen, Majore, bekannte Jagdflieger, damals die Helden der Luft, Richthofen, Udet, Mölders, und unter all diesen Männern, diesen Militärs, liegt eine Frau». Aber dort liegt eben auch Reinhard Heydrich, den Göring mit der Endlösung der Judenfrage betraut hatte, Leiter der berüchtigten Wannseekonferenz. Und diese Toten mischen sich munter in das Gespräch ein, beginnen aus den Gräbern heraus zu reden. Unter ihnen auch der Diplomat Christian von Dahlem, ein ehemaliger Kampfflieger, der Marga in Tokyo begrüßte und mit dem dort gerade gastierenden Schauspieler Anton Miller bekannt machte. Der hat dann Marga heftig, aber erfolglos umworben. Bei einem ihrer Flüge in Japan musste sie sich notgedrungen ein Privat-Zimmer mit von Dahlem teilen. Eine ganze Nacht lang haben sie sich dann, getrennt durch einen aufgespannten Vorhang, in ungewöhnlicher Freimütigkeit wechselseitig ihre jeweils spektakuläre Lebens-Geschichte erzählt.

Die etwa zwei Stunden dauernde Friedhofs-Geschichte beschwört die Schatten der Vergangenheit in einem vielstimmigen Chor herauf, angereichert mit meist kurzen, durch Anekdoten, Redensarten und Gedankensplitter ergänzte, historische Rückblicke. Abwechselnd berichtet in der Kerngeschichte um die kühne Pilotin diese selbst als Ich-Erzählerin aus ihrem Leben. Mit seiner fragmentarischen Form löst der nicht einfach zu lesende Text viele Assoziationen aus, wobei das die Toten einbeziehende Stimmengewirr nicht nur eine mystische Stimmung erzeugt, sondern auch permanent zum Weiterdenken anregt. Und so bleibt denn auch das Motiv für den Suizid ungeklärt: Scham über das fliegerische Versagen, politische Skrupel, unerwiderte Liebe? «Der Flug ist das Leben wert», steht vieldeutig auf Margas heute noch erhaltenem Grabstein!

Bewertung vom 10.01.2022
Die geheimen Stunden der Nacht
Ortheil, Hanns-Josef

Die geheimen Stunden der Nacht


weniger gut

Misslungener narrativer Clou

Man kann den Verleger-Roman «Die geheimen Stunden der Nacht» von Hanns-Josef Ortheil als Abgesang auf editorische Traditionen sehen, deren hehre Ziele zunehmend dem nüchternen Kalkül der Marketing-Leute zum Opfer fallen. Der Autor kennt sich jedenfalls aus in der Buchbranche und gewährt dem Leser, der über seinen Buchdeckel-Horizont hinaus an diesem kulturellen Medium interessiert ist, einen Einblick, wie es hinter den Kulissen der Branche zugeht.

Protagonist ist der älteste Sohn des 80jährigen Großverlegers Reinhard von Heuken aus Köln, dessen Vater nach zehn Jahren einen zweiten Herzinfarkt erleidet. Es steht schlecht um den Patriarchen, der seine Nachfolge nicht geregelt hat. Der 52jährige Georg von Heuken rechnet damit, dass auch sein jüngerer Bruder und die Schwester, die jeweils einen zum Konzern gehörenden Verlag in Frankfurt und in Köln leiten, eigene Ansprüche auf die Konzernleitung geltend machen werden. Beide eilen herbei, und nach einigem hin und her erklärt die Tochter, dass sie in einem Gespräch mit dem Vater die Übernahme der Leitung für sich abgelehnt habe- Der Vater habe ihr daraufhin die Entscheidung überlassen, wer von den Brüdern die Position an der Spitze übernehmen soll. Um diesen Handlungskern herum erzählt Ortheil die Geschichte der Verleger-Familie, die in einer pompösen Villa in bester Lage Kölns residiert, vor allem aber berichtet er von den Aktivitäten, die durch das wahrscheinlich bevorstehende Ableben des Alten bei Georg ausgelöst werden. Und er muss auch gleich noch den wichtigsten Autor des Verlages empfangen, der bisher immer nur mit dem Senior persönlich verhandelt hat. Ein mimosenhafter Romancier mit Starallüren, dessen Bestseller satte Gewinne versprechen, der diesmal aber um seinen neuen Roman viel Aufhebens macht. Georg löst diese diffizile Aufgabe jedoch mit Bravour.

Insider der Branche interpretieren das Buch auch als Schlüsselroman und sehen zum Beispiel Martin Walser in der Figur des Starautors, erkennen vermutlich aber auch noch viele weitere Anspielungen aus dem Branchen-Geschehen. Neben den Verlegern trifft man als Leser vor allem auf Lektoren, aber auch auf eine toughe Literaturagentin, den smarten Journalisten, der mit der Biografie des Seniors betraut ist, oder die allmächtige Chefsekretärin, über deren Schreibtisch alles läuft im Konzern, und alle diese Figuren sind auf ihre Art komische, manchmal skurrile Typen. Für Georg völlig überraschend ist die Tatsache, dass sein Vater eine Suite im Dom-Hotel gemietet und dort offensichtlich ein nächtliches Zweitleben geführt hat. Bei dem war auch eine Dame im Spiel, die aber niemand kennt und die den mutmaßlichen Lover erstaunlicher Weise auch nicht in der Klinik besucht. Die plötzliche Zäsur bedeutet für Georg auch die Chance, endlich aus dem Schatten seines übermächtigen Vater herauszutreten. Er wächst über sich selbst hinaus, entdeckt plötzlich völlig neue Seiten an sich. Und er erkennt auch, dass er bisher wohl ziemlich am Leben vorbei gelebt hat als braver Familienvater, treuer Ehemann und karriere-orientierter Manager.

Der klug konstruierte, spannende Plot wird, kenntnisreich und mit scharfem Blick für Details, in angenehm lesbarer, konventioneller Sprache schwungvoll erzählt. Dabei ist stets Ironie im Spiel, aber auch handfeste Gesellschaftskritik ist geboten, vor allem die gehobene Gastronomie und Hotellerie wird als total überkandidelt mit Häme überzogen. Störend bei alledem ist die fehlende, psychologische Tiefe, die Figuren bleiben oberflächlich in dem, was sie tun und sagen, alles erscheint irgendwie flapsig. Auch dass es hier um eine Branche geht, die Literatur als ein wichtiges Kulturgut erzeugt, wird im Roman an keiner Stelle gewürdigt. Stattdessen gibt es reichlich Tratsch, hart an der Grenze zur Kolportage. Völlig misslungen aber ist die schon im Titel anklingende Liebesgeschichte, deren Clou sich der überkreative Autor bis zum kitschigen Happy End effektheischend aufhebt.

Bewertung vom 06.01.2022
Herscht 07769
Krasznahorkai, László

Herscht 07769


gut

Inverse Heiligen-Legende

Der ungarische Schriftsteller László Krasnahorkai hat mit «Herscht 07769» einen hochaktuellen deutschen Gegenwartsroman geschrieben, und das in einem einzigen Satz, der Punkt kommt erst nach mehr als 400 Seiten. «Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brand-Straße 1, 10557 Berlin» schreibt Florian, der titelgebende Held, ins Adressfeld, und als Absender «Herscht 07769». Das reicht völlig, in der thüringischen Kleinstadt Kana nahe Jena, kennt ihn ja jeder. Und was er der Physikerin Merkel brieflich mitzuteilen hat, ist der wissenschaftliche Beweis der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse, das endgültige Verschwinden aller Materie.

Ein nur ‹Boss› genannter Gebäudereiniger und Neonazi hat den gutmütigen und von allen geliebten, bärenstarken, aber einfältigen Florian als billige Hilfskraft aus einem Heim geholt. Es gibt viel zu tun für sie beide, denn immer öfter werden in ihrer Gegend Graffitis mit einem Wolfskopf und verschiedenen Parolen auf Wände gesprüht, die sie dann als Spezialisten mühsam entfernen müssen. Alle haben die Neonazis in Verdacht, die sich in letzter Zeit zahlreich in Kana angesiedelt haben. Deren wütender Boss setzt schließlich seine ihm treu ergebene ‹Einheit› aus gescheiterten Existenzen und schrägen Vögeln darauf an, den wahren Täter nachts auf frischer Tat zu ertappen. weil die Polizei offensichtlich unfähig ist. Die Unruhe in der Bevölkerung steigt ins Maßlose, als ein Ehepaar beim Picknick von einem Wolf angegriffen und schwer verletzt wird.

Florians Geschichte, eine Art inverse Heiligen-Legende, wird bildstark und spannend erzählt, wobei ein stimmig beschriebenes Figuren-Ensemble dem Geschehen einen authentischen Anstrich verleiht. Ausgerechnet der zwielichtige, brutale ‹Boss› ist ein begeisterter Bach-Anhänger, der die ‹Kanaer Symphoniker› gegründet hat, die er zur Konzert-Reife führen will. Seine Bach-Euphorie steckt auch Florian an, der in dem Komponisten das Gute in Reinform verkörpert sieht. In der Volkshochschule führt ein ehemaliger Physiklehrer den inselbegabten Florian in die Quanten-Physik ein, und der setzt sich immer wieder hin und schreibt an Angela Merkel, um ihr die Dramatik der Situation nahe zu bringen, - eine Anspielung auf das dramatische Geschehen im Ort, bei dem der Wolfsangriff als Allegorie auf das Böse im Menschen fungiert. Die örtliche Tankstelle samt Imbiss, beliebter Treffpunkt im Ort, wird in die Luft gesprengt, das ausländische Pächterpaar kommt dabei um. Bald darauf werden der ‹Boss› und anschließend alle Mitglieder der Neonazi-Gruppe brutal ermordet, und wieder tappt die Polizei im Dunkeln. Im Ort herrscht heillose Panik, man traut sich kaum noch auf die Strasse, es gibt Selbstmorde, einige werden verrückt, andere wie Florian sind plötzlich verschwunden, keiner weiß, wohin.

Dieser Roman in einem Satz entwickelt nicht zuletzt aus seinem unkonventionellen Schreibstil heraus einen starken Lesesog, wobei sich erstaunlicher Weise zeigt, dass man schon nach wenigen Seiten die Trennung durch Punkte nicht mehr vermisst. Das oft aus Sicht seines einfältigen Helden beschriebene, absurde Geschehen wird so geschildert, wie es sich als Gedankenstrom in seinem Kopf abspielen könnte, und auch die Bewohner des Ortes werden auf diese Art stimmig charakterisiert in ihrer provinziellen Lebens- und Denkweise. «Dieses Buch enthält hunderte Monologe», hat der Autor zu seinem eigenwilligen Stil angemerkt. Geradezu parodistisch wird es, wenn die ständigen Flüche des leicht erregbaren Bosses fast ohne Vokale auskommen müssen, was der Verständlichkeit aber keinerlei Abbruch tut, Schße oder gttvrdmmmich versteht man auch so. Am Ende kommt eine «Krawattenversion der Nazis» sogar in den Stadtrat von Kana, ein mystischer Steinadler wird Florians wehrhafter Verteidiger, und aus Berlin trifft ein Brief mit dem Absender Angela Merkel ein, wird aber als unzustellbar behandelt, denn wo Florian abgeblieben ist, weiß ja keiner, auch die Post nicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.12.2021
Weiberroman
Politycki, Matthias

Weiberroman


gut

Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau

Der «Weiberroman» von Matthias Politycki weist bereits mit seinem ironischen Untertitel «Historisch-kritische Gesamtausgabe» auf ein wissenschaftliche Texte persiflierendes Prosa-Konstrukt hin. Im Jahre 1997 als Kultroman über die 78er-Generation gefeiert, gilt der damalige Bestseller als wichtiges Werk der literarischen Postmoderne. Sein Figuren-Ensemble verkörpert die erste, ohne Krieg aufgewachsene Generation des Jahrhunderts. Als Yuppies oder Dinks sind sie einerseits karrieregeil, fühlen sich andererseits aber auch der Political Correctness verpflichtet. Und wie der freche Romantitel verkündet, geht es thematisch hier um Frauen, die ja, einer uralten Erkenntnis zufolge, einfach nicht mit Männern zusammen passen.

Genau diese These wird im «Weiberroman» am Beispiel des 1956 geborenen Gregor verifiziert, dessen Probleme mit dem anderen Geschlecht hier aus seiner Sicht geschildert werden. Das in den Jahren 1974 bis 1990 geschriebene Material zu dessen Autobiografie, bestehend aus einem Konvolut von 3481 ungeordnet zurückgelassenen Textschnipseln bis hin zu mehrseitigen Abschnitten, habe Matthias Politycki als Herausgeber «entschlüsselt, katalogisiert und entsprechenden Handlungssträngen zugeordnet», wird im Anhang in einer editorischen Notiz erklärt. Diese mühevolle Arbeit habe Schwärzungen freizügiger «Stellen» unabdingbar gemacht, und aus Verständnis-Gründen sei auch ein dreißigseitiger Anmerkungs-Apparat dringend erforderlich gewesen. Hinter dieser Herausgeber-Fiktion versteckt berichtet Matthias Politycki in den drei mit «Kristina», «Tania» und «Katarina» betitelten Abschnitten des Romans von der schwierigen Mannwerdung seines Helden.

Als Schüler in der westfälischen Stadt Lengerich hat sich Gregor in die überirdisch schöne Kristina verguckt, hinter der alle her sind. Aber ungeschickt, wie er nun mal ist, kommt er bei ihr nicht weiter, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Nach dem Abitur beginnt er in Wien ein Germanistik-Studium und lernt die Zahnarzthelferin Tania kennen, eine kesses Vollweib aus einfachen Verhältnissen, die breiten Dialekt spricht und intellektuell so gar nicht zu ihm passt. Er findet schließlich heraus, dass sie bereits seit zwei Jahren als Model arbeitet und freizügige Bilder von ihr kursieren. Als 23Jähriger geht er dann nach Stuttgart, wo er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter antritt. Dort trifft er auf Katarina, eine elegante Traumfrau, die bei der Lufthansa als Chefstewardess für interkontinentale Flüge arbeitet. Aber auch diese Beziehung geht in die Brüche. Gregor kann sich einfach nicht in die Psyche der Frauen hineinversetzen, die geliebt werden wollen und ständig auf noch so kleine Zeichen warten, die das immer wieder auch beweisen. Als Hintergrund zu den schwierigen Paarbeziehungen blendet Politycki ständig aktuelle politische und kulturelle Geschehnisse in die Handlung ein. Die Entwicklung in der DDR wird da ebenso angesprochen und im Anmerkungsteil näher erläutert wie die jeweils gerade angesagte Musik, sei es die berühmter Pop-Gruppen oder aber die jener Schlagersänger, deren Schnulzen, aus der Wohnung des Hausmeisters schallend, an Gregors Nerven zerren.

In Wahrheit erzählt der Studienabbrecher nur permanent von sich, die Frauen bleiben in diesem Roman letztendlich Beiwerk, immer nach dem Motto: «Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau». Meistens wird da von seinen ständigen Sauftouren, Feten und allerlei Schabernack berichtet, mit auffallend oft auch olfaktorischen Details. Die durchaus harsche Gesellschafts-Kritik dieses virtuos erzählten Romans wird gemildert durch den köstlichen Humor, in den das alles unterschwellig verpackt ist. Dazu tragen zuweilen eingestreute Passagen mit Wiener oder schwäbischem Dialekt einiges bei. Es empfiehlt sich übrigens, den Anhang dieses geistreich unterhaltenden Buches zuerst zu lesen, dann aber auch jeweils die Fußnoten, weil sie oft weit mehr beinhalten als reine Anmerkungen.

Bewertung vom 23.12.2021
Die Liebesblödigkeit
Genazino, Wilhelm

Die Liebesblödigkeit


sehr gut

Liebe in einer verhunzten Welt

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino hat mit seinem Roman «Die Liebesblödigkeit» einen Buchtitel kreiert, der geradezu typisch ist für seine überwiegend resignativ geprägten Romane, in denen es immer auch um die Liebe geht als schier unerschöpflicher Erzähl-Fundus. Das vorliegende Buch handelt von der Beziehung seines Ich-Erzählers zu zwei Frauen, deren Ansprüchen er sich als alternder Liebhaber auf Dauer nicht gewachsen fühlt. Von einer sollte er sich trennen, aber von welcher?

Als freiberuflicher Apokalypse-Spezialist unterhält der 52jährige Protagonist schon jahrelang intime Beziehungen zu Judith, einer gleichaltrigen Pianistin, die recht und schlecht von Klavierunterricht und Nachhilfestunden lebt, aber gleichzeitig auch zu der neun Jahre jüngeren Chef-Sekretärin Sandra. Bisher lief alles bestens in dieser Ménage-à-trois, in der die Frauen natürlich nichts voneinander wissen und ihr Geliebter es sich gut gehen lässt. Warum, lautet sein Credo, soll man als Kind Vater und Mutter gleichermaßen lieben können, zwei Frauen gleichzeitig aber nicht! Als Hypochonder entdeckt er ständig neue, altersbedingte Veränderungen an seinem Körper, zu denen zum Beispiel auch Krampfadern gehören. Als der Arzt ihm neben einem Medikament auch Stützstrümpfe verschreibt, passt das so gar nicht zu seinem Selbstverständnis. Die sexuell sehr aktive Sandra, die ihn zu diesem Arzt geschickt hat, überrascht ihn mit einer kühnen Konstruktion an ihrer Schafzimmertür. Rechts und links hat sie je einen Getränkekasten hingestellt, auf die sie sich optimal zum Beischlaf draufstellen kann, während er sie in einer Krampfader schonenden Stellung beglückt. Aber seine erkennbar nachlassende Libido führt auch zu sexuellen Versagensängsten, die ihn permanent umtreiben. Andererseits kann er sich beim besten Willen jedoch nicht vorstellen, auf eine der liebevollen Damen zu verzichten, er hat sich sein Leben mit den beiden sehr kommod eingerichtet. Als ihm Sandra einen Heiratsantrag macht und auf die finanziellen Vorteile hinweist, die er als Freiberufler ohne eigene Rentenansprüche durch die Witwenrente später hätte, stellt er resigniert fest, dass eine Ehe für ihn absolut undenkbar wäre.

Die Figuren des Romans sind unauffällige Alltagstypen aus der Mittelklasse. Der namenlose Romanheld ist als Seminarleiter mit seinen Apokalypse-Vorträgen sehr beliebt und hat einen guten Kontakt zu den meist älteren Teilnehmern. Wie auch in anderen Romanen von Wilhelm Genazino sind hier immer wieder Passagen eingebaut, in denen der Held durch die Stadt streift und alltägliche, banale Szenen beobachtet, die er in schnellem Wechsel detailgenau beschreibt. Es ist das «signifikant Insignifikante», wie James Wood es genannt hat, das hier zu stets neuen, überraschenden Einsichten führt, als Flaneur erkennt der intellektuelle Erzähler scharfsichtig das Besondere im Allgemeinen. Gesellschaftskritisch konstatiert er einen zunehmenden «Freizeit-Faschismus», der die Köpfe bewusst vernebelt und zu einem ungebremsten Konsum-Fetischismus hinführt. Äußerst skeptisch sieht er auch die «frei schwebenden Intellektuellen», die im Roman auftreten, von ihm spöttisch Panikberater, Ekelreferenten oder Schockforscher genannt. Ihm erscheint die moderne Welt mit ihren absurden Automatisierungs-Zwängen schlicht als «verhunzt», seine in dieser irrealen Welt herumirrenden Figuren seien einer «zynische Inszenierung» ausgesetzt. Der Held selbst aber registriert all dies mit stoischer Gelassenheit.

Es wird chronologisch aus der Ich-Perspektive und im Präsens erzählt, wobei die Sprache mit allerlei Redewendungen und Bonmots angenehm aufgelockert ist. Sehr viele der kontemplativen Erkenntnisse des ständig sinnierenden, selbstkritischen Protagonisten sind erkennbar ironisch gemeint, andere wiederum regen zum eigenen Nachdenken an. Als Satire über die Liebe in einer verhunzten Welt ist dieser Roman eine amüsante Lektüre, die auch einiges an Tiefgang bietet.

Bewertung vom 22.12.2021
Die Haushälterin
Petersen, Jens

Die Haushälterin


schlecht

Oberflächliche Vater/Sohn-Geschichte

Das Romandebüt von Jens Petersen mit dem Titel «Die Haushälterin» wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis 2005 nominiert. Es blieb bis dato der einzige Roman dieses Schriftstellers und Arztes, dessen Erzählungen hingegen in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden. In seinem preisgekrönten Roman beschreibe er, wie die Aspekte-Jury des ZDF befand, «unsentimental, geradlinig und doch vielschichtig die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung auf Messers Schneide».

Dieser Generationen-Roman ist auch die Geschichte einer ersten Liebe. Der sechszehnjährige Ich-Erzähler Philipp, der früh seine Mutter verloren hat, muss nun auch noch erleben, dass sein Vater, der Kernkraftwerke gewartet hat, arbeitslos wird und zu trinken anfängt. Der Haushalt der Beiden in einer ehemals prächtigen Jugendstilvilla verwahrlost zusehends. Immer öfter kommen nun auch fremde Frauen ins Haus und stehen plötzlich morgens in der Küche, was den Jungen ziemlich verstört. Sein Vater benutze seine diversen Liebschaften offensichtlich nur «wie eine Arznei gegen das Sterben», stellt er ernüchtert fest. Als der alkoholisierte Vater bei einem Sturz die Kellertreppe herunterfällt und einen komplizierten Beinbruch erleidet, engagiert Philipp kurz entschlossen eine Haushälterin. Die 23jährige Ada ist eine Studentin aus Polen, die auch als Übersetzerin arbeitet. Sie kümmert sich nun zweimal die Woche um den Haushalt und bringt ihn sehr schnell wieder ‹auf Vordermann›. Außerdem erweist sie sich auch als hervorragende Köchin, ein Glücksfall für die beiden eher stümperhaften Selbstversorger, und mit ihr kommt nun wieder Leben ins Haus. Die burschikose Ada kümmert sich auch um den Garten und springt für den durch seine Verletzung gehandicapten Vater als Chauffeur ein. Für den mitten in der Adoleszenz steckenden, eher verschlossenen Philipp ist sie der allererste Kontakt zum weiblichen Geschlecht. Sie geht ganz ungezwungen mit ihm um, lässt sich von ihm duzen, geht mit ihm schwimmen, sie besuchen zusammen eine Party, und einmal küsst sie ihn sogar. Aber wie er schon bald merkt, hat sie ganz offensichtlich einen Freund in Polen. Und was ihn noch viel mehr trifft, auch sein Vater macht ihr völlig ungeniert den Hof und überschüttet sie mit Geschenken, bietet ihr schließlich sogar ein Zimmer im Haus an. Als Nebenbuhler seines Vaters um die Gunst der lebenslustigen Ada hat Philipp keinerlei Chance, das wird ihm bald klar.

Die führwahr nicht seltene Thematik dieses Romans von der Rivalität zwischen Vater und Sohn um die gleiche Frau wird hier kühl und nüchtern in einer dem jugendlichen Erzähler angepassten Sprache geschildert. Die Figuren sind glaubwürdig charakterisiert, wobei besonders Ada sehr sympathisch wirkt, was daran liegen mag, dass man nicht alles über sie weiß. Es wird nämlich nicht alles auserzählt in diesem melancholischen Roman, manches ist nur vage angedeutet oder bleibt völlig offen. Thematisiert wird hier auch die generationsbedingt schwierige Kommunikation zwischen dem dominant auftretendem Vater und seinem eher unbedarften Sohn, die den Heranwachsenden immer wieder vor neue Probleme stellt und ihn sogar zu einigen Kurzschluss-Handlungen verleitet.

Es liegt ein Anflug von Tristesse über diesem Adoleszenz-Roman, der geradezu beiläufig von den Schwierigkeiten und Fallstricken beim Erwachsenwerden erzählt. Dabei ist jedoch immer auch ein hintergründiger Humor zu erkennen, der diesen Debütroman zu einer eher amüsanten Lektüre macht. Leider jedoch bleiben die psychologischen Hintergründe der Figuren-Konstellation völlig im Dunkeln, obwohl ja gerade darin die eigentliche Problematik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den drei Protagonisten liegt. Durch diesen Mangel an gedanklicher Tiefe bekommt die flockig leicht erzählte Geschichte den eher trivialen Charakter eines oberflächlichen Unterhaltungs-Romans, der von der grenzenlosen Naivität seines jugendlichen Helden lebt.

Bewertung vom 21.12.2021
Die schwangere Madonna (eBook, ePUB)
Henisch, Peter

Die schwangere Madonna (eBook, ePUB)


gut

Pikareske Road Novel

Der Roman «Die schwangere Madonna» des österreichischen Schriftstellers Peter Henisch ist eine geradezu klassische Road Novel, was allein schon durch die vorab eingefügte Landkarte Italiens mit der Reiseroute der Protagonisten verdeutlicht wird. Genretypisch läuft der Plot auf ein herbeigesehntes Ende hin, eine kopflose Flucht aus dem unerträglich gewordenen Leben. Dabei sind hier die pikaresken Einflüsse dominant und lassen die deprimierende Ausgangslage in einem freundlicheren Licht erscheinen. Mit der Nominierung dieses Romans für den Deutschen Buchpreis wurde der bis dato nur in Österreich prämierte Autor 2005 erstmals auch einem größeren deutschen Leserpublikum bekannt.

Der beim Rundfunk tätige Josef ist durch sein blackoutartiges Versagen bei der Fertigstellung eines Radio-Features als freier Mitarbeiter prompt gekündigt worden. An der Schule seines Sohnes, den er dort turnusgemäß abholen will, stellt er fest, dass er sich zeitlich um eine ganze Woche vertan hat, was Ex-Frau und Sohn nur mit verächtlichem Grinsen quittieren. Auf dem Schulhof sieht er zufällig einen VW-Golf stehen, bei dem der Schlüssel in der Tür steckt. Düpiert wie er ist, steigt er in einer Kurzschluss-Reaktion in das Auto, startet den fremden Wagen und fährt davon, obwohl er gar keinen Führerschein besitzt. Weil er zweimal durch die Prüfung gefallen war, hat er seither immer ohne Auto gelebt. Er merkt aber, dass er trotz fehlender Fahrpraxis ganz gut zurechtkommt im Verkehr. Ziellos dahinfahrend entdeckt er nach einigen Kilometern, dass er nicht allein ist im Auto. Auf der Rückbank regt sich unter einem dicken Wintermantel plötzlich ein Mädchen, das dort geschlafen hat. Als er anhält, um sie aussteigen zu lassen, will sie nicht. Das Auto gehöre ihrem Religionslehrer, der sie geschwängert habe, der nun aber nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Auch die kurz vor der Matura stehende, knapp 18jährige Maria will nun nur noch weg. Schon bald überqueren die beiden Gleichgesinnten die italienische Grenze und setzen ihre spontane, fluchtartige ‹Fahrt ins Blaue› Richtung Süden fort.

Aus dieser Konstellation heraus deutet Peter Henisch eine von dem fürsorglichen Mann erträumte, allmählich obsessiv werdende Beziehung der anfänglich reinen Zweck-Gemeinschaft an. Wobei Maria ihren doppelt so alten Begleiter immer wieder auch düpiert, indem sie plötzlich spurlos verschwindet, was dann jedes Mal seine Beschützer-Instinkte herausfordert. Eine zweite thematische Ebene bildet die Religion, deren berühmte Bauten und Kunstwerke das ungleiche Paar bei seiner Reise kreuz und quer durch Italien gleichermaßen begeistert. Eines davon wartet am Ende der Reise, die titelgebende Madonna del Parto auf dem berühmten Fresko, das heute als Touristenattraktion im Museum von Monterchi zu sehen ist und als Abbildung das Buchcover ziert. Durchaus ironisch hat der Autor nicht nur seinen Helden ‹Josef› genannt, auch der Protagonistin hat er mit ‹Maria› einen religiös konnotierten Namen zugedacht, und die Schülerin schließlich hat über ihr Interesse an christlichen Themen letztendlich ja auch ‹in Sünde› zu ihrem Religions-Lehrer gefunden.

Auf dieser Reise kreuz und quer durch fast ganz Italien erleben die beiden ungleichen Aussteiger und Sinnsucher allerlei abenteuerliche Begegnungen. Italophile Leser werden ihre helle Freude haben an den bunten, durchweg stimmigen Bildern, in denen der ortskundige Autor davon zu berichten weiß. Auch seine Figuren sind mit Blick für Details und feine Nuancen überzeugend charakterisiert. Trotz der oft komischen, aber manchmal arg profanen Begebenheiten hat dieser Roman auch seine kontemplativen, zum Weiterdenken anregenden Momente, und kulturell erweist sich Josef als idealer Reiseführer nicht nur für Maria, sondern auch für den Leser. Neben der angedeuteten Lolita-Thematik wird durch die ständige Furcht der Autodiebe vor Entdeckung ein Spannungs-Bogen erzeugt, der bis zum kitschfreien, gut durchdachten Ende anhält.

Bewertung vom 16.12.2021
Das Geschäftsjahr 1968/69
Cailloux, Bernd

Das Geschäftsjahr 1968/69


gut

Die Mär der 68er-Generation

Der Debütroman mit dem ironischen Titel «Das Geschäftsjahr 1968/69» war für den Schriftsteller Bernd Cailloux gleich der große Erfolg, er wurde vom Feuilleton als literarische Entdeckung gefeiert. Mit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2005 stellte sich für den damals bereits über sechzigjährigen und bis dato weitgehend unbekannten Suhrkamp-Autor auch ein erfreulicher Anstieg der Auflagen ein. Sein Roman wurde als hochwillkommene, nüchterne Schilderung dieser im Buchtitel genannten, historisch völlig überschätzten und ideologisch überhöhten Epoche der deutschen Nachkriegsgeschichte, von der Kritik äußerst positiv kommentiert.

Auf einem Fortbildungs-Lehrgang für Journalisten lernen sich 1965 zwei junge Männer kennen, die beide der Wunsch vereint, Großes zu vollbringen und nicht im profanen bürgerlichen Alltag zu versauern. Nach dem Wehrdienst des namenlosen Ich-Erzählers ziehen sie voller Tatendrang nach Düsseldorf und beginnen, zusammen mit einem begnadeten Tüftler als Entwickler, in einer Gartenlaube ein Stroboskop zu entwickeln. Ihre Idee, die von dem Gerät erzeugten Lichtblitze als die Musik ergänzende Stimulanz für ein tanzwütiges Publikum in Clubs und Diskotheken einzusetzen, erweist sich als Glücksfall. Bereits das erste Gerät der «Muße-Gesellschaft», wie sie sich nennen, installiert in einer neuen Location auf der Hamburger Reeperbahn, ist ein sensationeller Erfolg, der sich schnell herumspricht. Fortan reißen sich die Kunden geradezu um diese Geräte und zahlen umstandslos fast jeden Preis, wenn sie ihr eigenes Stroboskop nur möglichst bald bekommen. Naiv und ökonomisch unbedarft träumen die Gründer davon, in erster Linie mit ihrer Idee die Welt zu beglücken. Sie wollen sich und ihre Mitstreiter ohne Profitstreben, geradezu familiär, solidarisch aus der gemeinsamen Kasse entlohnen, also eine Art ökonomische Hippie-Kommune selbstloser, gleichberechtigter Idealisten bilden. Um in Stimmung zu kommen wird natürlich Rauschgift in verschiedenster Form konsumiert, auch darin sind sich alle gleich in der schnell wachsenden Belegschaft. Irgendwann fordert die Realität ihr Recht, der Mitbegründer meldet die bis dahin nicht im Handelsregister eingetragene Firma auf seinen Namen an, ganz ohne Formalitäten geht es halt doch nicht. Enttäuscht zieht der Romanheld sich zurück, lässt sich dann aber doch überreden, wenigstens die Hamburger Filiale zu übernehmen. Bis ihn dort schließlich eine Hepatitis-Infektion bös erwischt.

Ohne Larmoyanz wird in diesem Roman das Zeitgefühl der berühmten 68er weitgehend klischeefrei geschildert. Dabei entwickeln sich die Gründer, die sich als «Enthemmungs-Assistenten» definieren und auch reichlich Dope dafür einsetzen, als Antipoden ihrer Geschäftsidee. Während der Ich-Erzähler als Alt-Hippie seinen geplatzten Träumen von der Bedürfnislosigkeit nachtrauert, ist sein Kompagnon schon in der ökonomischen Realität angekommen und nutzt die sprudelnde Geldquelle zu seinem eigenen Vorteil. Bernd Cailloux erzählt seine Geschichte lakonisch mit viel Sinn für Details, auch wenn sowohl technisch als auch ökonomisch manches daran dann doch ins Spekulative, Märchenhafte abgleitet. Dazu zählen vor allem die viel zu lang geratenen Passagen über den unbekümmerten Rauschgift-Konsum der psychedelischen Stroboskop-Truppe. Das wird in unzähligen Details immer wieder neu beschrieben, dürfte aber allenfalls die Junkies in der Leserschaft erfreuen, die große Mehrheit jedoch erbarmungslos langweilen.

Erzählt wird diese desillusionierende Geschichte der ungleichen «Hippie-Businessmen», wie die Freundin des Protagonisten sie spöttisch bezeichnet, in einer angenehm lesbaren, dem Alltag entsprechenden Diktion, nüchtern und völlig unprätentiös. Dass ihre «Suche nach besseren Lebenszwecken» scheitern muss, ist von vornherein klar. Aber wie kläglich sie scheitert, das ist durchaus vergnüglich zu lesen, vor allem, weil es gnadenlos einen scheinbar unausrottbaren Mythos entlarvt.

Bewertung vom 14.12.2021
Böse Schafe
Lange-Müller, Katja

Böse Schafe


sehr gut

Brief an einen Toten

Als einer ihrer wichtigsten Romane wurde «Böse Schafe» von Katja Lange-Müller vom Feuilleton einhellig positiv aufgenommen, sein Thema ist das komplizierte Beziehungsgeflecht von gesellschaftlichen Außenseitern. Die in der Vorwendezeit in West-Berlin angesiedelte Liebesgeschichte zweier kaputter Typen überzeugt nicht nur durch die völlig unsentimentale, sprachlich nüchterne Umsetzung des Stoffs, sondern auch durch die intime Nähe zu den Figuren. Diese besonders intensive Wirkung wird vor allem durch die sehr spezielle Erzählform als fiktiver Brief an einen Toten erzeugt.

Die vierzigjährige Schriftsetzerin Soja, Republikflüchtling aus der DDR, die sich in Berlin mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, trifft 1987 am U-Bahnhof Nollendorfplatz auf Harry, der als schöner Mann, «blauäugig, bleich, aschblond», eine geradezu unwiderstehliche, spontane Anziehungskraft auf sie ausübt. In dem posthumen Brief, den sie ihm vier Jahre später schreibt und den wir als Roman lesen, sieht sie einen Film ablaufen und fragt selbstkritisch: «Hätte ich mich, als unser Film in Echtzeit lief, als wir zu fotografieren gewesen wären, nach deinen Empfindungen erkundigen sollen?» Denn wie sie merkt, gibt der schweigsame Traummann wenig preis von sich und bleibt ihr gegenüber sogar als Liebhaber merkwürdig zurückhaltend. Trotzdem ignoriert sie zunächst alle Indizien, bis dann nach und nach aber heraus kommt, dass er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er eine zehnjährige Strafe wegen Raubüberfalls abzubüßen hat. Außerdem hat er auch gegen Bewährungs-Auflagen verstoßen, weil er seine Drogentherapie abgebrochen hat. Soja kämpft um eine neue Therapie für ihn, setzt sich selbstlos für ihn ein und unterstützt ihn sogar finanziell, obwohl sie selbst in eher prekären Verhältnissen lebt. Es dauert nicht lange, bis die nächste, bisher verschwiegene Hiobsbotschaft sie erreicht, die sie dann sehr direkt plötzlich auch selbst betrifft.

«Mein Lebensthema sind, glaube ich, die Widersprüche» hat die Autorin im Interview bekannt. Das wird hier verkörpert durch die große Liebe einer unbeirrbaren, starken Frau aus dem Osten zu dem kriminellen Junkie aus dem Westen, der ihre Gefühle in keiner Weise erwidert hat, wie sie ihm in ihrem Brief posthum vorwirft. Die Autorin lotet nüchtern aus, wie weit Hingabe tatsächlich gehen kann, ohne jedoch pathetisch zu werden, was in diesem Genre ja eher selten anzutreffen ist. In ihrem Rückblick auf den vierjährigen Abschnitt ihres Lebens mit Harry stellt Soja ihm existentielle Fragen, um zu verstehen, was für ein Mensch er wirklich war. Und trotz der durch sein Verhalten ihr gegenüber ausgedrückten, emotionalen Defizite wirkt dieser schräge Vogel nie unsympathisch, er strahlt auch in verstörenden Momenten immer noch einen gewissen Charme aus, und zwar nicht nur auf Soja, sondern erstaunlicher Weise auch auf den Leser. Der lange, quälende Sterbeprozess von Harry schließlich, der am Ende einsam stirbt und Soja mit seinen Habseligkeiten auch ein Schulheft mit Aufzeichnungen hinterlässt, ruft Mitgefühl beim Lesen hervor, er ist im Grunde eigentlich nur ‹ein armer Hund›. Harrys undatierte Notizen über seine Zeit mit ihr sind, kursiv abgesetzt und in kurzen Abschnitten über den gesamten Text verteilt, in den fiktiven Brief eingefügt. Es sind geradezu schreckliche Aufzeichnungen, die Soja da ahnungslos liest, denn in seinen insgesamt neunundachtzig Sätzen kommt sie mit keinem einzigen Wort vor, so als hätte es sie nie gegeben.

Eine derartige, nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Amour fou wirft natürlich allerlei interessante Fragen auf. Kann man Sojas demütige Hingabe überhaupt noch Liebe nennen? Kann denn die nicht wiedergeliebte Liebende jemals glücklich gewesen sein? Neben seiner Liebesthematik ist «Böse Schafe» auch ein typischer Berlin-Roman mit stimmigen Milieu-Schilderungen. Dieser stilistisch ungewöhnliche, komplexe Roman ist eine unterhaltsame, bereichernde Lektüre.