Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob ein Thriller noch genug Spannung erzeugen kann, wenn von vornherein feststeht, wer der Mörder ist. Meiner Meinung nach ist es Daniel Annechino auf jeden Fall gelungen, sowohl Spannung aufzubauen, als diese auch bis zum Ende des Buches zu halten. Pluspunkt
ist definitiv die Tatsache, dass man den Mörder zwar mit seinem Vornamen kennt und auch viel über…mehrMan kann geteilter Meinung darüber sein, ob ein Thriller noch genug Spannung erzeugen kann, wenn von vornherein feststeht, wer der Mörder ist. Meiner Meinung nach ist es Daniel Annechino auf jeden Fall gelungen, sowohl Spannung aufzubauen, als diese auch bis zum Ende des Buches zu halten. Pluspunkt ist definitiv die Tatsache, dass man den Mörder zwar mit seinem Vornamen kennt und auch viel über seine Gedanken und seine Sichtweise erfährt, jedoch bis zum Schluss nicht sicher sein kann, um welchen Arzt es sich genau handelt, weil alle anderen Ärzte immer nur beim Nachnamen genannt werden - somit könnte eigentlich jeder von ihnen Julian sein.
Der Autor verwendet die auktoriale Erzählform in seinem Roman, immer mit Blick auf die verschiedenen Charaktere. Interessant sind die Gedanken und Gefühle der Figuren. Die mit Abstand vielfältigste Persönlichkeit ist in diesem Fall eindeutig Julian. Von einem liebenden Familienvater und erfolgreichen Arzt verwandelt er sich in ein grausames Monster. Seine zunächst noch von schlechtem Gewissen geplagten Aktionen werden immer brutaler und bereits nach seinem zweiten Opfer ist das schlechte Gewissen einem unkontrollierbaren Machtgefühl gewichen. Allein die Rechtfertigung für seine Morde bleibt dieselbe - frei nach Aristoteles: "Das Wohl der Allgemeinheit ist wichtiger als das Wohl des Einzelnen". Hier ging mir die Entwicklung vom guten zum bösen Menschen eindeutig zu schnell. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum Julian im Hinblick auf seine eigentlichen Beweggründe nicht weiterhin ein schlechtes Gewissen behält, sondern immer brutaler vorgeht und schlussendlich seine Opfer noch zusätzlich missbraucht und quält. Auch Entwicklung, die seine Familie betrifft, ist mir zu unausgereift. Er liebt seine Familie, aber mit jeder weiteren Tat ist er von der Anwesenheit seiner Frau genervter, die es ihm erschwert, die Opfer mit nach Hause zu bringen.
Samantha Rizzo und Alberto Diaz haben mir als Ermittler sehr zugesagt, allerdings hat es der Autor hier mit den familiären Problemen etwas übertrieben. Ich habe fast mehr über die Bypass-Operation von Samis Mutter und der im Koma liegenden Schwester von Alberto gelesen als über das Vorgehen des Täters. Gut ich gebe zu, das ist etwas übertrieben aber es war definitiv zu viel der Probleme unserer Protagonisten (eines, welches beide betrifft, habe ich jetzt bewusst verschwiegen). Ich wäre nicht böse gewesen, wenn diese Problematik dem "Korrekturstift" zum Opfer gefallen wäre und das Buch um ca. 100 Seiten abgenommen hätte. An seinen Figuren merkt man, dass der Autor ein Faible für Charaktere mit einer schweren Kindheit hat.
Die Beschreibungen zu den Herzoperationen wirkten sehr authentisch auf mich, ebenso wie die Gedanken und Gefühle der Opfer. Daniel Annechino schreibt sehr detailliert, setzt auf das Kopfkino seiner Leser und spielt mit deren Angst. Wer auf blutigen Szenen hofft, wird hier eher enttäuscht werden. Aber mal ehrlich: Wer hat sich nicht schon einmal Gedanken darüber gemacht, wie schlimm es wäre, während einer Operation aufzuwachen und alles bei vollem Bewusstsein zu spüren, aber gelähmt zu sein und sich nicht bemerkbar machen zu können? Genau das ist es, was diesen Thriller ausmacht.
Während des Lesens habe ich oft gedacht, dass ich gerne erst den Vorgängerband gelesen hätte, bevor ich mich dem zweiten Band widme. Aber um potenzielle Leser zu beruhigen: Dieser Band ist auch ohne Vorwissen gut zu lesen, denn es gibt viele Rückblenden zum ersten Fall. Aber gerade diese haben mich nun auch sehr neugierig auf den ersten Teil gemacht.
Trotz einiger Längen gelingt es dem Autor, die Spannung bis zum Schluss aufrecht zu halten und sorgt für das, was einen Thriller ausmacht: Gänsehaut pur. Mit Keine Gnade" kann man nichts falsch machen. Von mir gibt es vier Sterne und eine Empfehlung.