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Deutscher Buchpreis 2021
Adina wuchs als letzter Teenager ihres Dorfs im tschechischen Riesengebirge auf und sehnte sich schon als Kind in die Ferne. Bei einem Sprachkurs in Berlin lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum in einem neu entstehenden Kulturhaus in der Uckermark vermittelt. Unsichtbar gemacht von einem sexuellen Übergriff, den keiner ernst nimmt, strandet Adina nach einer Irrfahrt in Helsinki. Im Hotel, in dem sie schwarzarbeitet, begegnet sie dem estnischen Professor Leonides, Abgeordneter der EU, der sich in sie verliebt. Während er sich für die…mehr

Produktbeschreibung
Deutscher Buchpreis 2021

Adina wuchs als letzter Teenager ihres Dorfs im tschechischen Riesengebirge auf und sehnte sich schon als Kind in die Ferne. Bei einem Sprachkurs in Berlin lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum in einem neu entstehenden Kulturhaus in der Uckermark vermittelt. Unsichtbar gemacht von einem sexuellen Übergriff, den keiner ernst nimmt, strandet Adina nach einer Irrfahrt in Helsinki. Im Hotel, in dem sie schwarzarbeitet, begegnet sie dem estnischen Professor Leonides, Abgeordneter der EU, der sich in sie verliebt. Während er sich für die Menschenrechte stark macht, sucht Adina einen Ausweg aus dem inneren Exil.

»Blaue Frau« erzählt aufwühlend von den ungleichen Voraussetzungen der Liebe, den Abgründen Europas und davon, wie wir das Ungeheuerliche zur Normalität machen.
Autorenporträt
Antje Rávik Strubel veröffentlichte u.a. die Romane 'Unter Schnee' (2001), 'Fremd Gehen. Ein Nachtstück' (2002), 'Tupolew 134' (2004) sowie den Episodenroman 'In den Wäldern des menschlichen Herzens' (2016). Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, ihr Roman 'Kältere Schichten der Luft' (2007) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wurde mit dem Rheingau-Literatur-Preis sowie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, der Roman 'Sturz der Tage in die Nacht' (2011) stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Antje Rávik Strubel wurde mit einem Stipendium in die Villa Aurora in Los Angeles eingeladen sowie als Writer in residence 2012 an das Helsinki Collegium for Advanced Studies. 2019 erhielt sie den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman 'Blaue Frau' wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Im Juli 2022 erschien der Essay-Band 'Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss'. Sie übersetzt aus dem Englischen und Schwedischen u.a. Joan Didion, Lena Andersson, Lucia Berlin und Virginia Woolf.  Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam. (www.antjestrubel.de)
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Paul Jandl scheint begeistert von Antje Ravik Strubels Roman. Die #MeToo-Geschichte um eine junge Frau aus Osteuropa, die in Berlin und Helsinki ihr Glück sucht, aber nur dunkle Ohnmacht und scheiternde Kommunikation findet, überzeugt Jandl als "Geschichte der Räume", die in die "Herzkammern der Angst" führt. Strubels einfühlender "Hyperrealismus" macht Jandl die Kälte und das "Feinstoffliche der Kommunikation" hinter #MeToo erfahrbar.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.08.2021

Begegnungen im Unerkundbaren
Antje Rávik Strubel ist eine Meisterin der inneren Zustände.
In ihrem Roman „Blaue Frau“ erzählt sie eindrucksvoll eine Harvey-Weinstein-Geschichte
VON MAIKE ALBATH
Adina tastet sich über Sinneswahrnehmungen an sich selbst heran. Ihr Ohr erfasst die Geräusche in der fremden Umgebung, ihr Auge sieht das Licht der Straßenlaternen und fokussiert die spärlichen Einrichtungsgegenstände der Wohnung, in die sie sich geflüchtet hat, irgendwo am Rand von Helsinki. Sie ist allein, und niemand scheint zu wissen, wo sie sich versteckt.
Dass sie unter Schock steht, wird von der ersten Zeile an spürbar. Nur ganz allmählich kann sie sich an das annähern, was ihre Panik ausgelöst hat. Es ist etwas Düsteres, Gewaltvolles, Verschüttetes, und es trieb sie von Deutschland bis nach Finnland, wo sie zuerst in einem Hotel am Tresen jobbte und dann eine Zeit lang bei ihrem Geliebten Leonides in einem Holzhaus lebte. Zu ihrer Mutter in das kleine tschechische Dorf im Riesengebirge kann sie nicht zurückkehren.
Bereits auf den ersten Seiten von Antje Rávik Strubels gleißendem Roman „Blaue Frau“ setzt ein charakteristischer Sog ein. Die Autorin versteht es meisterhaft, den inneren Zustand ihrer Heldin auszuloten, sie zu umkreisen und zu umspielen, ohne ihr je zu nahe zu treten. Dabei entsteht eine reizvolle Parallele zwischen den Selbstvergewisserungsversuchen ihrer Hauptfigur und Rávik Strubels erzählerischen Verfahren, denn sie pendelt zwischen äußerster Präzision – die Straßenlaternen sind Peitschenlampen mit metallenen Schirmen, das Rauschen der Blätter stammt von einem Vogelbeerbaum, der Espressokanne entweicht durch eine Düse ein Zischen – und einer beunruhigenden Unschärfe, etwas Diffusem, das sich im Umgang mit den erlittenen Erfahrungen ihrer Heldin einstellt.
Dazu passt, dass die junge Frau mehrere Namen trägt: Nina, Sala, Adina. Und „der letzte Mohikaner“, wie sie sich in einem Chatroom ihrer einsamen tschechischen Jugend nannte. Dieser Krieger aus James Fenimore Coopers berühmtem Roman scheint ihre ureigene Bastion zu sein, ihr geheimes Kraftreservoir. Wenn sie ihn in sich spürt, weiß sie, was sie zu tun hat. Vor allem der Geschlechterwechsel verleiht ihr Stärke.
Es gibt aber noch einen weiteren Handlungsstrang. Groß gedruckte Anfangsbuchstaben kennzeichnen diese Ebene, die zunächst nur wenige Sätze umfasst und fast wie ein eingestreutes Gedicht wirkt, im Verlauf des Romans dann aber an Raum gewinnt und den Rhythmus antreibt. Eine Ich-Figur, die einige Eigenschaften mit der Autorin teilt, von Beruf Schriftstellerin ist und gerade einer Geschichte auf der Spur ist, lernt am Hafen von Helsinki die „blaue Frau“ kennen. Eine ebenso geheimnisvolle wie anziehende Person. „Du darfst alles, aber rechne nicht mit mir“, lässt sie einmal verlauten.
Diese „blaue Frau“, bei deren Namen man unweigerlich Gemälde von Gabriele Münter wie das „Porträt einer jungen Frau“ vor Augen hat, wirkt einerseits wie eine Verkörperung von Dichtung überhaupt. Sie scheint die kreativen Kräfte der Ich-Erzählerin anzufachen und den Raum der Fiktion zu markieren. Dazu passt das Motto der Dichterin Inger Christensen, mit dem der erste Teil des Romans überschrieben ist: „Ich habe gehört, dass ich die Frau bin, der er schon auf Seite sechzehn begegnet.“ Gleichzeitig deutet sich nach und nach eine immer größere Ähnlichkeit mit Adina an. Ob es sich um ein und dieselbe Person handelt, bleibt aber im Ungefähren, und auch das macht das Schillernde von Rávik Strubels Prosa aus. Effektvoll lässt sie die verschiedenen Sphären miteinander verschmelzen: Plötzlich sieht die Wohnung, in der sich die Schriftstellerin aufhält, genauso aus wie Adinas Zufluchtsstätte. Dass sich diese Rätsel nicht endgültig klären, bildet den Fluchtpunkt des Erzählens, und nur über die Fiktion scheint Adinas grausame Wahrheit einholbar. „Im Unerkundbaren kommen wir einander nah“, zitiert die blaue Frau Ilse Aichinger.
Die Geschichte der jungen Tschechin, die 1984 geboren wurde, erstreckt sich über alle vier Teile des Romans. Sie kommt in Bruchstücken zum Vorschein, muss mühsam freigelegt werden, und ein Teil der Geschehnisse lässt sich nur indirekt vermitteln. Umso deutlicher teilt sich die Gewalt mit, die Adina erlitten hat. Kindheitsszenen aus dem schneereichen Dorf, wo das Mädchen nach der Schule für Touristen Drinks mixte, durchlöchern die Liebesgeschichte mit dem estnischen Diplomaten und Universitätsprofessor Leonides, die ihr, wie es heißt, eine „Atempause“ verschafft. In Leonides verbinden sich Osten und Westen, er ist ein Feingeist und kämpft für eine neue Erinnerungskultur, um die „Dunkelstellen“ des Stalinismus ans Licht zu befördern. Für die Not seiner Freundin fehlt ihm dennoch das Sensorium. Nach dem Tod ihres Großvaters, eines Partisanen, der den Tischbeinen die Löwenköpfe absägte, um sie von ihrem bourgeoisen Ballast zu befreien, wuchs Adina in einem Frauenhaushalt auf. Andere Jugendliche gab es in ihrem Umfeld nicht.
Auch deshalb fühlte sie sich als „der letzte Mohikaner“. Durch diese Einsamkeit schien sie den auftrumpfenden Gepflogenheiten im wiedervereinigten Deutschland, wo sie 2006 landet, nicht gewachsen zu sein. In Berlin-Lichtenberg absolviert die schüchterne Tschechin einen Sprachkurs, navigiert im Umfeld einer lesbischen Bohème und bekommt dann eine Praktikumsstelle auf einem Gut in der Uckermark bei einem selbstherrlichen Impresario namens Razlav Stein.
Stein ist davon besessen, mitten in der Einöde einen Umschlagplatz für Kultur aufzubauen, eine Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa, und dafür braucht er einen potenten Multiplikator, jemanden, der problemlos an Geldtöpfe kommt. Dieser treffend gezeichnete Johann Manfred Bengel, alt, aber unverdrossen in Turnschuhen und immer ein sanftes „so schön, so schön“ auf den Lippen, hat offenkundig seine Triebe nicht im Griff. Als Adina in Finnland auf einem Empfang, zu dem sie Leonides begleitet, sein Räuspern hört, gerät etwas ins Rutschen.
Das zeitliche Gefüge von „Blaue Frau“ ist bestechend. Geschickt setzt Rávik Strubel das epische Stilmittel der Vorausdeutung ein. Nie verliert man den Überblick, die Linearität ist dennoch aufgebrochen, statt langatmiger Rückblenden gibt es kurze, abrupte Abstürze in die Vergangenheit. Oft scheinen die Erinnerungen ihre Heldin eher zu überfallen, als dass sie sich ihre Erfahrungen ins Gedächtnis rufen kann. Die vier Teile sind an unterschiedliche Hauptschauplätze gebunden, und jedes Mal deutet ein Motto auf die Stimmung hin.
Auch die Motivik ist durchkomponiert: Adina wird von einem pathologischen Durst gequält, Helsinki ist von Wasser umgeben, die Leitfarbe ist blau, Messer spielen eine wichtige Rolle, und eine Unterführung, durch die man zum Hafen gelangt, bildet die Schranke zwischen den verschiedenen fiktionalen Bezirken. Das Netz aus literarischen Bezügen ist ebenso sorgfältig gewoben – Cooper, Aichinger, Inger Christensen und Joan Didion klingen an, Adina spiegelt sich in Carson McCullers’ hinreißender Heldin Frankie aus ihrem Entwicklungsroman „The Member of the Wedding“.
Und schließlich liefert Antje Rávik Strubel Einblicke in ein eigenwilliges Land zwischen den Welten, „slawische Seele, skandinavisches Design“, wie es Leonides einmal beschreibt. Am eindrucksvollsten wird Rávik Strubels erzählerische Kunst, wenn sie mit Überblendungen und Doppelbelichtungen arbeitet, Konturen verschwimmen lässt und sich die Raum-Zeit-Koordinaten auflösen.
„Blaue Frau“ erzählt eine Harvey-Weinstein-Geschichte und bietet eine nüchterne Bestandsaufnahme der Machtverhältnisse, wie sie bis vor wenigen Jahren unantastbar waren. Übergriffe wurden bagatellisiert, selbst Frauen – bei Rávik Strubel eine elegante Schweizerin – reagieren mit fatalen Bemäntelungen: „Was immer vorgefallen ist; ich kann nur anregen, das möglichst schnell aus der Welt zu schaffen“, lautet ihr Ratschlag. Am Ende wehrt sich Adina mit dem, was sie in sich trägt. Sie ist der letzte Mohikaner.
Am Hafen von Helsinki
taucht sie auf, die
geheimnisvolle Gestalt
Statt langatmiger Rückblenden
gibt es abrupte
Abstürze in die Vergangenheit
Antje Rávik Strubel: Blaue Frau. Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2021.
429 Seiten, 24 Euro.
Slawische Seele, skandinavisches Design: Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“ ist eine poetische Selbsterkundung, ein gesellschaftspolitischer Kommentar und nebenbei ein Porträts Finnlands, hier eine Szene aus der Innenstadt von Helsinki.
Foto: mauritius images / age fotostock / Ton Koene
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.09.2021

Der Fall ins Bodenlose

Macht löst Ohnmacht aus: Antje Rávik Strubels neuer Roman "Blaue Frau" erzählt von sexualisierter Gewalt.

Am 18. September 2006 verlässt die einundzwanzigjährige Tschechin Adina mit einer Gürteltasche gesparter Euro, einem 50-Liter-Rucksack und jeder Menge Hoffnung auf Zukunft den Busbahnhof von Liberec. Ihr Bus fährt "in die richtige Richtung", nach Deutschland, wo mit Angela Merkel zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Regierung steht. Gleichsam aus dem Off schaltet Antje Rávik Strubel einige Sätze aus der Regierungserklärung in die Szene, die Merkel bereits im November 2005 abgegeben hat: "Lassen Sie uns verzichten auf die eingeübten Rituale, auf die reflexhaften Aufschreie, wenn wir etwas verändern wollen. Niemand kann uns daran hindern, neue Wege zu gehen." Adina, der man bereits vor zwanzig Jahren in Rávik Strubels Episodenroman "Unter Schnee" als "letztem Teenager von Harrachov", dem kleinen Skiort dreißig Kilometer südöstlich von Bautzen, begegnen konnte, kennt diese Rede nicht. Sie kennt nur Merkels Stimme aus dem Radio. Doch sie, die in Berlin einen Sprachkurs belegen, später studieren will und all das Neue mit der Unerschrockenheit einer Naturforscherin in den Blick nimmt, mutig wie bei ihren halsbrecherischen Tiefschneeabfahrten mit blinkender Stirnlampe daheim im Riesengebirge, würde jeden Satz leidenschaftlich bejahen: eine starke Frau am Anfang des neuen Jahrtausends.

Keine zwei Jahre später wird sich Adina, schwer traumatisiert, in einem Plattenbau in Helsinki einigeln, nach der brutalen Vergewaltigung durch einen hochrangigen deutschen Kulturmanager und einer atemlosen Flucht, bei der sie drei Grenzen, drei Sprachen hinter sich gelassen hat. "Sie ist in einem Land, das sie nicht kennt, in einem Land im Norden, wo die Bäume andere sind und die Menschen eine andere Sprache sprechen, wo das Wasser anders schmeckt und der Horizont keine Farbe hat."

An ihrem der 2017 verstorbenen Freundin und Mentorin Silvia Bovenschen gewidmeten Roman, der das Psychogramm einer um die eigene Identität ringenden Frau und zugleich ein breit angelegtes europäisches Gesellschaftspanorama zu MeToo-Zeiten ist, hat Antje Rávik Strubel, wie sie im Nachwort festhält, mehr als acht Jahre gearbeitet. Es ist ihr wohl kühnster erzählerischer Wurf, seit sie 2001 in Klagenfurt für einen Auszug aus ihrem Debüt "Offene Blende" den Ernst-Willner-Preis erhalten hat.

Adinas Geschichte wird, in jeweils geänderter Tonalität, über vier Romanteile entwickelt, an unterschiedlichen Hauptschauplätzen zwischen Helsinki, Berlin und der östlichen Uckermark sowie mit wechselndem Personal im Vordergrund. Erzählt wird nicht linear, sondern in einem raffinierten Wechsel von Vorausdeutungen und assoziativen Erinnerungssplittern. In der finnischen Hauptstadt, wo der Roman einsetzt, muss der Leser die Protagonistin zunächst ganz nach unten begleiten. Wie in Nebel stochernd, müht sich eine zutiefst verletzte Frau, "die Handgelenke lose, wie aus der Verankerung gerissen", um Zugriff auf ihr in Scherben liegendes Lebens. Was bleibt, neben Albträumen, Rachephantasien und Viru Valge, dem eiskalten finnischen Seelentröster?

Da sind Short Cuts der eher tristen Nachwende-Kindheit eines Mädchens am Fuß des Krkonose, das zur Samtenen Revolution gerade fünf ist. Nach dem Tod des Partisanen-Großvaters wächst Adina unter Frauen auf und wird nur vom digitalen Lagerfeuer eines Chatrooms gewärmt, in dem sie sich "der letzte Mohikaner" nennt. Wenn sie den Krieger aus Coopers Klassiker in sich spürt, fühlt sie sich frei und ohne Angst, jenseits jeder geschlechtlichen Determination. Und schließlich ist da noch der estnische EU-Diplomat Leonides Siilmann, der sich in der Hotelbar, in der Adina schwarzarbeitet, in sie verliebt. Die Begegnung mit dem feingeistigen Professor, der statt Virginia Woolf eher Zygmunt Baumann oder Umberto Eco liest und die "Dunkelstellen" des Stalinismus freilegen möchte, ist für Adina ein Durchatmen, ein Luftholen - mehr nicht. Denn für die existenzielle Not seiner Geliebten hat Leonides kein Gespür: "Bei seinem Einfühlungsvermögen, das für ganz Europa reicht, hätte ihm auffallen müssen, dass etwas nicht stimmte mit ihrer Haut, mit ihrem Zurückzucken im Bett, etwas, das in Ordnung gebracht werden musste."

Schritt für Schritt steigt der Leser mit Adina zurück ins Herz des Schreckens: Als ihr die lesbische Fotografin Rickie, für die sie in Berlin nach den Deutschkursen Modell steht und die in ihren Bildern "den letzten Mohikaner zum Vorschein" gebracht hat, einen Praktikumsplatz auf einem Gut in der Uckermark vermittelt, ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem hemdsärmeligen Selfmademan Razlav Stein, einem Ex-NVA-Offizier, der in der uckermärkischen Pampa ein Kulturzentrum als Ost-West-Drehscheibe ausbauen will, und dem westdeutschen "Multiplikator" Johann Manfred Bengel, einem "uralten Mann in Turnschuhen", der dafür die nötigen Fördertöpfe anzapfen und Kontakte herstellen soll, gerät für Adina zur Falle. Als sie, anderthalb Jahre später, auf einem Kulturempfang in Helsinki, zu dem sie Leonides begleitet, hinter sich Bengels Räuspern hört - "ein Geräusch, das vom Tod kam" -, fällt sie ins Bodenlose.

Mit der Aktivistin Kristiina, die sich Adinas annimmt und den vierten Teil des Buchs dominiert, rücken sexualisierte Gewalt und der Umgang mit ihr nicht mehr nur als individuelle Leidensgeschichte, sondern als strukturelles gesellschaftliches Problem in den Blick. Die akribisch aufgebotenen Fakten, unter deren Last das kunstvolle Romangebäude gegen Ende hin ächzt, sind erschreckend genug: "Sexualisierte Gewalt gilt überall als sicheres Verbrechen."

Was aber hat es mit der titelgebenden "blauen Frau" auf sich? Eine weitere Erzählebene dieses an Spiegelungen und literarischen Verweisen von Ilse Aichinger bis Joan Didion nicht eben armen Romans verfolgt deren Begegnungen mit einer eng an die Autorin gebundenen Ich-Erzählerin, die in Helsinki für ein Romanprojekt recherchiert. In den anfangs wie kleine Prosagedichte eingestreuten, später weiter ausgreifenden Passagen gibt die blaue Frau, als eine Art Katalysatorin des Erzählens, die poetischen Obertöne des Romans vor; sie bestimmt, wer spricht, sprechen darf: "Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten." In Rávik Strubels Roman werden immer wieder Machtverhältnisse durchdekliniert: Meist sind es die zwischen Männern und Frauen, hin und wieder, wie in Rickies Berliner Bohème-Clique oder im Fall von Bengels Schweizer Begleiterin, die die Augen vor der Vergewaltigung verschließt, jene zwischen Frauen. Aber auch die (Macht-)Strukturen zwischen Ost- und Westeuropa, Ost- und Westdeutschland werden seziert, in der Figur des tatenarmen, doch gedankenvollen Leonides oder im Fall des bitterböse überzeichneten Herr-und-Knecht-Duos aus Bengel und Stein.

Auch die der Autorin sehr ähnliche Ich-Erzählerin, die bei Erscheinen ihres vierten Romans ("Tupolew 134", 2004) genauso lang in der Bundesrepublik gelebt hat wie in der DDR, weiß um all diese Antagonismen. Als ostdeutsche Schriftstellerin zu gelten, schien ihr damals fad. "Nach entsprechender Zeit war ich selbst westdeutsch geworden, als wäre Sozialisation eine Art Smog, der einen ihm ausgesetzten Körper durchdringt. Erst im Brodeln von Paris, New York und Helsinki, in der Salzluft des Pazifiks und den eisigen Weiten Lapplands löste er sich auf." Finnland erscheint ihr fast ideal, als "Gehirn mit zwei Gedächtnissen". Eine Insel der Seligen ist das Land, in dem der von Kristiina spöttisch "Saunapräsident" genannte Urho Kekkonen 25 Jahre lang Politik nach Männerart machte, keineswegs. Doch vielleicht können die bisher übersehenen Geschichten hier besser geschrieben werden? NILS KAHLEFENDT.

Antje Rávik Strubel: "Blaue Frau". Roman.

Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 430 S., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Antje Ra_vik Strubel zeichnet im Roman «Blaue Frau» ein tiefenscharfes Porträt einer unheroischen Heldin Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20211127