Yasmina Reza
Audio-CD
Serge
5 CDs. 325 Min.. CD Standard Audio Format. Lesung. Ungekürzte Ausgabe
Übersetzung: Heibert, Frank; Schmidt-Henkel, Hinrich;Gesprochen: Jordan, Peter
Nicht lieferbar
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Was bedeutet Familie? Was heißt jüdisch sein? Wie umgehen mit Alter, Krankheit, Tod? Yasmina Rezas neuer Roman kreist um große Fragen.Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichg...
Was bedeutet Familie? Was heißt jüdisch sein? Wie umgehen mit Alter, Krankheit, Tod? Yasmina Rezas neuer Roman kreist um große Fragen.
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existenzielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
Bissig, zärtlich und herzzerreißend komisch interpretiert von Sprecher Peter Jordan.
Die Geschwister Popper: Serge, verkrachtes Genie und homme à femmes, Jean, der Vermittler und Ich-Erzähler, und Nana, die verwöhnte Jüngste mit dem unpassenden spanischen Mann. Eine jüdische Familie. Nach dem Tod der Mutter entfremdet man sich immer mehr. Zu ihren Lebzeiten hat keiner die alte Frau nach der Shoah und ihren ungarischen Vorfahren gefragt. Jetzt schlägt Serges Tochter Joséphine einen Besuch in Auschwitz vor. Virtuos hält Reza das Gleichgewicht zwischen Komik und Tragik, wenn bei der touristischen Besichtigung die Temperamente aufeinanderprallen. Hinter den messerscharfen Dialogen ist es gerade die existenzielle Hilflosigkeit dieser Menschen, die berührt.
Bissig, zärtlich und herzzerreißend komisch interpretiert von Sprecher Peter Jordan.
Yasmina Reza, 1957 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin. Insbesondere durch ihre Stücke »Kunst«, »Drei Mal Leben« und »Der Gott des Gemetzels« wurde sie zur meistgespielten zeitgenössischen Theaterautorin. 2011 kam Roman Polanskis Verfilmung von Rezas Stück »Der Gott des Gemetzels« in die Kinos. Für ihr Werk wurde sie zuletzt mit dem Jonathan-Swift-Preis 2020 und dem Premio Malaparte 2021 ausgezeichnet.
Peter Jordan ist erfolgreicher Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und regelmäßig auf der Bühne des Thalia Theaters zu sehen. Dem TV-Publikum ist er unter anderem durch die Rolle des Kommissars im Hamburger »Tatort« bekannt.
Peter Jordan ist erfolgreicher Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und regelmäßig auf der Bühne des Thalia Theaters zu sehen. Dem TV-Publikum ist er unter anderem durch die Rolle des Kommissars im Hamburger »Tatort« bekannt.
Produktdetails
- Verlag: Hörbuch Hamburg
- Gesamtlaufzeit: 325 Min.
- Erscheinungstermin: 21. Januar 2022
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 9783957132703
- Artikelnr.: 62939764
Herstellerkennzeichnung
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Das finale Lachen am Abgrund
Erinnern, eine leere Hülle? Yasmina Rezas Roman "Serge" beschreibt die Lebenslügen einer Familie
Alles beginnt mit dem Tod der Mutter, Marta Popper. Man hatte für sie gerade ein funktionales Pflegebett angeschafft, da stirbt sie, vor dem Fernseher, wo die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt läuft. Von "Andacht" redet die Kommentatorin ständig und sagt dann, das Leben komme wieder zu seinem Recht, auch wenn natürlich nichts so sein werde wie früher. Serge, der älteste Sohn, hat seinen ersten Auftritt: "Doch, du dumme Kuh, sagte Serge, alles wird so sein wie zuvor. Binnen vierundzwanzig Stunden."
Damit ist schon das Feld abgesteckt, auf das sich
Erinnern, eine leere Hülle? Yasmina Rezas Roman "Serge" beschreibt die Lebenslügen einer Familie
Alles beginnt mit dem Tod der Mutter, Marta Popper. Man hatte für sie gerade ein funktionales Pflegebett angeschafft, da stirbt sie, vor dem Fernseher, wo die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt läuft. Von "Andacht" redet die Kommentatorin ständig und sagt dann, das Leben komme wieder zu seinem Recht, auch wenn natürlich nichts so sein werde wie früher. Serge, der älteste Sohn, hat seinen ersten Auftritt: "Doch, du dumme Kuh, sagte Serge, alles wird so sein wie zuvor. Binnen vierundzwanzig Stunden."
Damit ist schon das Feld abgesteckt, auf das sich
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Yasmina Rezas aktueller Roman begibt, der gerade auf Deutsch erschienen ist. Es geht um den ständig beschworenen Kult eines Erinnerns, das sich nicht aus eigener Erfahrung speisen kann, eines Gedenkens als Forderung, ohne die Fähigkeit eigener Einfühlung. Die Poppers sind eine bürgerliche jüdische Familie in Paris, väterlicherseits aus Wien kommend, die Mutter hat ungarische Vorfahren, die in Auschwitz ermordet wurden. Der Vater, der schon gestorben ist, war glühender Anhänger des Staates Israel. Die Mutter, die seine Meinung nicht teilte, schmähte er als "Antisemitin". Aber geredet wurde in der Familie nie über das Schicksal ihrer Mitglieder.
Yasmina Rezas Buch begleitet die verbliebenen Angehörigen über ein Stück ihres Lebens, auch auf ihrer Reise nach Auschwitz-Birkenau. Serge ist der älteste Sohn, nennt sich Berater, ist eine verkrachte Existenz, ein Versager und Großmaul, das zu viel isst und trinkt. Seine aktuelle Partnerin Valentina hat ihn aus ihrer Wohnung geschmissen, weil er sie betrog. Serges Tochter Joséphine, Anfang zwanzig, die sich als Kosmetikerin erprobt, stammt aus seiner früheren Ehe. Sein jüngerer Bruder Jean hat die Funktion des Icherzählers. Er hat keine Kinder, ist ein ewiger Zögerer, dafür beruflich gesichert, "Experte für Materialleitfähigkeit" erfährt man irgendwann. Die Schwester Anne, genannt Nana, hat den aus Spanien stammenden Arbeiter Ramos Ochoa geheiratet, ein ständiges Ziel des Spotts für die Brüder, was Nana zur Weißglut bringt. Sie hat zwei Kinder, Victor, der Koch gelernt hat, und die noch junge Margot.
Die Geschwister sind alle um die sechzig, ihre Leben sind im Großen und Ganzen gelaufen, festgefahren in Mustern, die ständig aufeinanderprallen. In die Erinnerungslosigkeit der Nachgeborenen bricht bei der Einäscherung der Mutter - ",Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt.' - ,Sie wollte es.'" - Serges Tochter Joséphine mit ihrer Ankündigung ein, sie werde nach "Osvitz" fahren. So kommt es zu dieser Pilgerfahrt, auf der sie Serge, Jean und Nana begleiten. Sie wollen an der Gedenkstätte des Menschheitsverbrechens die Spuren ihrer ermordeten Vorfahren suchen. Doch "Auschwitz, oder nett gesagt, Oswiecim, ist das blumenreichste Städtchen, das ich jemals gesehen habe. Jemals", erläutert Jean seinen ersten Eindruck. Das ehemalige Konzentrationslager in seinem perfekt konservierten Zustand erweist sich als Touristenattraktion, Männer und Frauen in Shorts und ärmellosen T-Shirts, "die fast schon Strandkleidung tragen", "Ausdünstungen von Sonnencreme" im Gedränge.
Am makaber stillgestellten Ort mit gepflegtem Rasen ist es zu heiß für April. Um das schreckliche Gelände herum ist eine Art Jahrmarkt drapiert. Unter dem Druck der angespannten Situation implodiert die ganze Fatalität des Verhältnisses der Geschwister untereinander. Und während Joséphine ständig alles mit ihrem Handy fotografiert, ergeht sich ihr Vater in zynischen Bemerkungen und rabiater Verweigerung, seine Schwester wird wütend: "Du wolltest nicht in die Gaskammern, du hast die Judenrampe nicht sehen wollen, es war Ehrensache für dich, die ungarische Ausstellung zu boykottieren, jetzt noch die Sauna! Es wäre wirklich nett, Serge, wenn du hin und wieder im Leben über dein kleines Ich hinwegsehen und dich einer Gruppe anpassen könntest, und sei es auch nur für einen Tag, deiner Tochter zuliebe!"
Serges Boykott gilt zugleich der gesamten Geschichte seiner Familie, bis in die Gegenwart, er verweigert diese versuchte Gemeinschaft im Gedenken. Das Erinnern wird als eine leere Hülle demaskiert. Die melancholischen Einlassungen des Erzählers Jean registrieren das ohne Sentimentalität. Dahinter ist vielleicht Rezas eigene Stimme zu vernehmen: "Erneutes Herumirren draußen, über die Wege des Lagers. Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein." Reza macht sich mit keinem Wort über Auschwitz lustig. Der souveräne Umgang mit Sprache, das Gefühl für den Rhythmus des Erzählens erlauben ihr die Balance zwischen - manchmal boshafter - Komik und feinem Taktgefühl.
Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels", ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung. Als "Serge" vor einem Jahr in Frankreich erschien, sagte Reza im Interview mit "Le Monde", das Lachen über die Katastrophe sei immer perfekt, es sei das "finale Lachen". Es ist das Lachen, um leerem Pathos zu entkommen, angesichts der Trostlosigkeit der menschlichen Kondition.
Reza hat in "Serge" über die Zeit und den Tod geschrieben. Der Tod ist der Abgrund, in den sie auch die alternden "Popper-Kinder" blicken lässt - und uns mit ihnen. Reza operiert mit "Serge" einmal mehr hart an der Wirklichkeit. Und sie weiß, worüber sie schreibt in dieser Familiengeschichte. Das autobiographische Moment ist ihre eigene verstreute jüdische Herkunft, ihr Vater war Iraner, ihre Mutter Ungarin, sie selbst wuchs in Paris auf. Doch die Poppers, so befremdlich, manchmal erschreckend sie erscheinen mögen, muten zugleich so vertraut an, in ihren mehr oder weniger bourgeoisen Verhältnissen, mit ihrem notorischen Abweichler. Serge, dessen Name dem Buch seinen Titel gibt, steht im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn er nicht auf der Szene ist. Denn in seiner grotesk verkommenen Existenz, mit seinem unangemessenen Benehmen verkörpert er das unauflösbare Dilemma, seine Wehleidigkeit markiert die völlige Ausweglosigkeit. Um ihn herum brechen die Lebenslügen der anderen auf wie giftige Früchte. Dank Rezas hoher Schreibkunst wird er trotzdem sympathisch, wenigstens beinah.
Am Ende sitzen die drei Geschwister im Warteraum eines Hospitals, sie begleiten Serge zur Computertomographie seiner Lunge. "Nana sagt, zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen, und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen." Dann wird Serge ins Untersuchungszimmer gerufen: "Er hinterlässt zwischen uns eine bläuliche Lücke." Dieser großartige Roman öffnet die Tür einen Spalt breit, eine Trauer könnte beginnen, vielleicht sogar ein Gedenken. ROSE-MARIA GROPP
Yasmina Reza: "Serge". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2022. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Yasmina Rezas Buch begleitet die verbliebenen Angehörigen über ein Stück ihres Lebens, auch auf ihrer Reise nach Auschwitz-Birkenau. Serge ist der älteste Sohn, nennt sich Berater, ist eine verkrachte Existenz, ein Versager und Großmaul, das zu viel isst und trinkt. Seine aktuelle Partnerin Valentina hat ihn aus ihrer Wohnung geschmissen, weil er sie betrog. Serges Tochter Joséphine, Anfang zwanzig, die sich als Kosmetikerin erprobt, stammt aus seiner früheren Ehe. Sein jüngerer Bruder Jean hat die Funktion des Icherzählers. Er hat keine Kinder, ist ein ewiger Zögerer, dafür beruflich gesichert, "Experte für Materialleitfähigkeit" erfährt man irgendwann. Die Schwester Anne, genannt Nana, hat den aus Spanien stammenden Arbeiter Ramos Ochoa geheiratet, ein ständiges Ziel des Spotts für die Brüder, was Nana zur Weißglut bringt. Sie hat zwei Kinder, Victor, der Koch gelernt hat, und die noch junge Margot.
Die Geschwister sind alle um die sechzig, ihre Leben sind im Großen und Ganzen gelaufen, festgefahren in Mustern, die ständig aufeinanderprallen. In die Erinnerungslosigkeit der Nachgeborenen bricht bei der Einäscherung der Mutter - ",Ist doch verrückt, dass sich eine Jüdin einäschern lässt.' - ,Sie wollte es.'" - Serges Tochter Joséphine mit ihrer Ankündigung ein, sie werde nach "Osvitz" fahren. So kommt es zu dieser Pilgerfahrt, auf der sie Serge, Jean und Nana begleiten. Sie wollen an der Gedenkstätte des Menschheitsverbrechens die Spuren ihrer ermordeten Vorfahren suchen. Doch "Auschwitz, oder nett gesagt, Oswiecim, ist das blumenreichste Städtchen, das ich jemals gesehen habe. Jemals", erläutert Jean seinen ersten Eindruck. Das ehemalige Konzentrationslager in seinem perfekt konservierten Zustand erweist sich als Touristenattraktion, Männer und Frauen in Shorts und ärmellosen T-Shirts, "die fast schon Strandkleidung tragen", "Ausdünstungen von Sonnencreme" im Gedränge.
Am makaber stillgestellten Ort mit gepflegtem Rasen ist es zu heiß für April. Um das schreckliche Gelände herum ist eine Art Jahrmarkt drapiert. Unter dem Druck der angespannten Situation implodiert die ganze Fatalität des Verhältnisses der Geschwister untereinander. Und während Joséphine ständig alles mit ihrem Handy fotografiert, ergeht sich ihr Vater in zynischen Bemerkungen und rabiater Verweigerung, seine Schwester wird wütend: "Du wolltest nicht in die Gaskammern, du hast die Judenrampe nicht sehen wollen, es war Ehrensache für dich, die ungarische Ausstellung zu boykottieren, jetzt noch die Sauna! Es wäre wirklich nett, Serge, wenn du hin und wieder im Leben über dein kleines Ich hinwegsehen und dich einer Gruppe anpassen könntest, und sei es auch nur für einen Tag, deiner Tochter zuliebe!"
Serges Boykott gilt zugleich der gesamten Geschichte seiner Familie, bis in die Gegenwart, er verweigert diese versuchte Gemeinschaft im Gedenken. Das Erinnern wird als eine leere Hülle demaskiert. Die melancholischen Einlassungen des Erzählers Jean registrieren das ohne Sentimentalität. Dahinter ist vielleicht Rezas eigene Stimme zu vernehmen: "Erneutes Herumirren draußen, über die Wege des Lagers. Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein." Reza macht sich mit keinem Wort über Auschwitz lustig. Der souveräne Umgang mit Sprache, das Gefühl für den Rhythmus des Erzählens erlauben ihr die Balance zwischen - manchmal boshafter - Komik und feinem Taktgefühl.
Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in "Kunst" oder "Der Gott des Gemetzels", ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung. Als "Serge" vor einem Jahr in Frankreich erschien, sagte Reza im Interview mit "Le Monde", das Lachen über die Katastrophe sei immer perfekt, es sei das "finale Lachen". Es ist das Lachen, um leerem Pathos zu entkommen, angesichts der Trostlosigkeit der menschlichen Kondition.
Reza hat in "Serge" über die Zeit und den Tod geschrieben. Der Tod ist der Abgrund, in den sie auch die alternden "Popper-Kinder" blicken lässt - und uns mit ihnen. Reza operiert mit "Serge" einmal mehr hart an der Wirklichkeit. Und sie weiß, worüber sie schreibt in dieser Familiengeschichte. Das autobiographische Moment ist ihre eigene verstreute jüdische Herkunft, ihr Vater war Iraner, ihre Mutter Ungarin, sie selbst wuchs in Paris auf. Doch die Poppers, so befremdlich, manchmal erschreckend sie erscheinen mögen, muten zugleich so vertraut an, in ihren mehr oder weniger bourgeoisen Verhältnissen, mit ihrem notorischen Abweichler. Serge, dessen Name dem Buch seinen Titel gibt, steht im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn er nicht auf der Szene ist. Denn in seiner grotesk verkommenen Existenz, mit seinem unangemessenen Benehmen verkörpert er das unauflösbare Dilemma, seine Wehleidigkeit markiert die völlige Ausweglosigkeit. Um ihn herum brechen die Lebenslügen der anderen auf wie giftige Früchte. Dank Rezas hoher Schreibkunst wird er trotzdem sympathisch, wenigstens beinah.
Am Ende sitzen die drei Geschwister im Warteraum eines Hospitals, sie begleiten Serge zur Computertomographie seiner Lunge. "Nana sagt, zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen, und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen." Dann wird Serge ins Untersuchungszimmer gerufen: "Er hinterlässt zwischen uns eine bläuliche Lücke." Dieser großartige Roman öffnet die Tür einen Spalt breit, eine Trauer könnte beginnen, vielleicht sogar ein Gedenken. ROSE-MARIA GROPP
Yasmina Reza: "Serge". Roman.
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser Verlag, München 2022. 208 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Katharina Granzin fühlt sich beim Lesen bestimmter Passagen im Roman "Serge" von Yasmina Reza nicht immer wohl, wenn sie lachen muss. Denn die französische Autorin erzählt darin sowohl ironisch und sarkastisch als auch beklemmend von einer nach der Beerdigung der alten Mutter nach Auschwitz reisenden jüdischen Familie, bestehend aus drei Geschwistern und ihrem Anhang - da wären der mittlere Bruder Jean, in der Rolle des ausgleichenden und unkritischen Ich-Erzählers, der ältere Kotzbrocken-Bruder Serge und deren jüngste Schwester Nana, die als einzige glücklich verheiratet ist, erklärt Granzin. Zunächst scheint Auschwitz das Hauptthema des Buches zu sein, meint die Rezensentin, aber bald erkennt sie, dass es sich hier um eine Erzählung über Familienkonstrukte und die familiäre und jüdische Identitätsfrage handelt. Die Figuren lernt Granzin vor allem durch ihre andeutungsreichen Dialoge kennen. Ein "geistreiches Konversationsdrama in Prosaform", schließt sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Klug, witzig und erstaunlich leicht." Novina Göhlsdorf, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.07.22 "Ein heiterer Roman über den Besuch einer jüdischen Familie in Auschwitz: das gelingt in unserer Gegenwartsliteratur niemand so stilsicher wie Yasmina Reza. Innerfamiliäre Konflikte und welthistorische Bruchlinien ambivalent, komplex und doch unterhaltend darzustellen: Das schafft große Literatur. Bravo!" Denis Scheck, Tagesspiegel, 27.03.22 "Dieser melancholische Roman ist ein vor Lebensweisheit schimmernder Edelstein, der sich in ein ruppig ironisches Gewand gehüllt hat, und in dieser Verkleidung nur umso ergreifender. Die fabelhafte Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert geht jeden von Yasmina Rezas Schritten mit,
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aus dem Leichten ins Schwere, aus dem Groben ins Zarte und wieder retour, und macht ein bezwingendes, idiomatisches Deutsch daraus." Eva Menasse, Der Spiegel, 12.02.22 "Ein tragikomischer, tief berührender Roman. ... Was Jasmina Reza wagt - und kann -, muss man in deutscher Sprache lange und vergeblich suchen. Einzigartig ist unter anderem ihre Fähigkeit, Sarkasmus an der Oberfläche mit tiefer Zuneigung zu ihren Figuren zu verbinden." Marin Ebel, Tages-Anzeiger, 01.02.22 "Ein prächtig abschnurrender, kompakter Gesellschaftsroman rund um eine temperamentvolle bürgerliche Familie und ihre illustren Freunde, darunter neunundneunzigjährige sterbensbereite Spaßvögel und Charakterköpfe. ... Ein defitges, zugleich leichtes und vor allem befreiendes Buch." Margarete Affenzeller, Der Standard, 27.01.22 "Wie in ihren berühmten Sprechstücken, in 'Kunst' oder 'Der Gott des Gemetzels', ist es die Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge, der abgebrochenen und sprunghaften Rede und Gegenrede, in denen die Tragikomödie liegt. Es sind Fragmente einer Sprache der gegenseitigen Missbilligung, des Unverständnisses und der Verachtung, gefangen in der familiären Verstrickung ... ein großartiger Roman ..." Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.01.22 "Ein grandioser Roman ... Falls man sich generell mal nicht sicher sein sollte, ob die Bücher, die man liest, gut sind, dann kann man einfach diesen neuen Roman danebenlegen, um den Unterschied zu erkennen. 'Serge' zeigt, was einen Roman ausmacht. Ist auf eine so elegante Weise böse und witzig zugleich, hält die Balance zwischen den Wünschen und den Fehlern seiner Figuren, ohne sie für eine Pointe oder eine billige Erkenntnis zu verraten." Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.22 "Ein großartiger, tragikomischer Roman, der von der Unmöglichkeit des Erinnerns handelt ... Ihr vielleicht bester Roman." Iris Radisch, Die Zeit, 20.01.22
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Die Geschwister Popper in der Gedenkstätte Auschwitz/Birkenau. Mit eher gemäßigtem Enthusiasmus. Serge, der Älteste, ist eigentlich nur da, weil er dazu verdonnert wurde, seine erwachsene Tochter Joséphine zu begleiten, die sich nach dem Tod ihrer Großmutter …
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Die Geschwister Popper in der Gedenkstätte Auschwitz/Birkenau. Mit eher gemäßigtem Enthusiasmus. Serge, der Älteste, ist eigentlich nur da, weil er dazu verdonnert wurde, seine erwachsene Tochter Joséphine zu begleiten, die sich nach dem Tod ihrer Großmutter für ihre jüdischen Wurzeln und den Ort, an dem Vorfahren von ihr umgebracht wurden, interessiert – ein Thema, das die Popper-Geschwister nie weiter beschäftigt hat. Weswegen Nana, die jüngste, beschließt, dass sie auch mitfahren sollte, jetzt, wo es zu spät ist, die Mutter zu befragen. Und wo Serge und Nana zusammen sind, da ist es besser, wenn auch Jean, der Ich-Erzähler, dabei ist, ein ausgleichender Puffer zwischen den beiden. Aber die Reise entwickelt sich schnell zu einem Desaster. Vor der Kulisse Auschwitz’ wo eine der schlimmsten Tragödien der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat, kollidieren die ungleichen Wesen der Drei derart, dass eine Kluft entsteht, die nur von einem Ereignis wieder überbrückt werden kann, das auf gewisse Weise den Kreis zu Auschwitz schließt.
Ich kannte Yasmina Reza bisher nur durch zwei oder drei ihrer Theaterstücke, allem voran „Kunst“ (unvergessen die großartige Inszenierung mit Ulrich Tukur, Christian Redl und Dominique Horwitz), in dem drei Freunde über den Kauf eines weißen Bildes existentiell aneinander geraten. „Serge“ ist in gewisser Weise eine Variation von „Kunst“ auf einer fortgeschritteneren Ebene. Denn es ist nun mal ein Unterschied, ob sich eine Krise an einem Bild oder an einem Vernichtungslager entzündet. Die Absurdität der Situation ist eine ganz andere, denn über ein Gemälde können wir lachen, über Gaskammern nicht. Und so sind wir als Leser/Zuhörer bei „Serge“ in der Klemme. Wo wir uns bei „Kunst“ über den Streit der Freunde und den Spiegel, den sie uns vorhalten, ungeniert amüsieren können, sind wir bei „Serge“ der Unangemessenheit der Situation ausgeliefert. Die ständige Ambivalenz des Menschen zwischen den eigenen Sorgen und Nöten in der Relation zu all dem, was viel schlimmer und grausamer ist, wird hier auf die Spitze getrieben. Und das ist genial.
Genial ist auch Rezas Stil. Besonders die Dialoge sind einfach nur eine Freude, sie kann nicht verheimlichen, dass sie vom Schauspiel kommt. Was ich auch sehr an ihr schätze ist, dass sie nie vorhersehbar ist. Mann kann die Reaktion ihrer Figuren nicht vorhersagen, wird immer wieder von der Absurdität überrascht.
Gelesen wird die Hörbuchversion von „Serge“ von Peter Jordan. Er macht seine Sache sehr gut, gibt den Charakteren Form und Individualismus, jedem seine ganz klare, eigene Stimme, die viel vom Wesen offen legt. Aber er tut das - und deswegen kommt mein Lob ein wenig zögerlich - eben in seiner Auslegung. Und das liegt ja auch in der Natur der Sache, ein guter Vorleser bringt seine eigene Lesart immer mit ein. Nur war für mich seine Interpretation nicht immer stimmig. Besonders bei Nana, die Jordan sehr weinerlich anlegt, habe ich in meinem Kopf die Sätze öfter in einem anderen Tonfall wiederholt, weil es dann für mich passender wurde. Jordans Serge habe ich nicht richtig zu fassen bekommen, immer wieder hat sich mein Bild von ihm umgeformt. Doch trotz dieser Kritik ist Jordan ein Vorleser, zu dessen Einspielungen ich immer wieder greifen würde.
Die Bewertungen für „Serge“, die ich mir angesehen habe, waren nicht durchgehend positiv und ich kann einige der Kritiken durchaus nachvollziehen. Wer erwartet, dass der Roman tief in die Problematik des Jüdischseins eintaucht und sich ein ausgefeiltes Psychogramm der Protagonisten wünscht, wird nicht auf seine Kosten kommen. Für mich war das Buch weniger eine Geschichte über Nachfahren von Holocaustüberlebenden, als eine Reflexion des Lesers/Zuhörers in seiner ewigen Unfähigkeit zu kommunizieren, und nicht immer in erster Linie um sich selbst zu kreisen. Über den Menschen an sich in der Balance zwischen dem Recht, eigene Sorgen und Nöte auch als solche zu erleben, und der moralischen Forderung, die Relati
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Yasmina Reza ist eine vielbeachtete Theaterautorin, daher sind auch bei ihren Romanen die Figuren das wichtigste. Hier sind es 3 erwachsene Geschwister einer französisch-jüdischen Familie.
Das ungekürzte Hörbuch geht 5 Stunden, 25 Minuten und wird von dem Film-und …
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Yasmina Reza ist eine vielbeachtete Theaterautorin, daher sind auch bei ihren Romanen die Figuren das wichtigste. Hier sind es 3 erwachsene Geschwister einer französisch-jüdischen Familie.
Das ungekürzte Hörbuch geht 5 Stunden, 25 Minuten und wird von dem Film-und Theaterschauspieler Peter Jordan gesprochen. Und seine Stimme passt gut zum lakonischen Icherzähler.
Der dialogbetonte Text hat eine Leichtigkeit, aber thematisch auch eine Schwere. Das mündet in eine Reise nach Auschwitz.Mit den Beschreibungen hatte ich so meine Probleme. Es wird eine andauernde Kakophonie von Streitgesprächen zwischen den Geschwistern.
Das Hörbuch hat mir etwas besser gefallen als Rezas früheres Buch Glücklich die Glücklichen.
Aber mehr als 3 von 5 Sterne kann ich nicht geben.
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Gebundenes Buch
Was bedeutet Familie heute?
„Ich weiß gar nicht, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am …
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Was bedeutet Familie heute?
„Ich weiß gar nicht, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am seidenen Faden von Sentimentalität oder Konvention.“ (Zitat Seite 23)
Inhalt
Bis zuletzt hält Marta Popper die chaotische Familie zusammen, zum sonntäglichen Mittagessen haben sich alle einzufinden, ihre Kinder und Enkelkinder. Serge, sechzig Jahre alt und der älteste Sohn, Jean, immer noch das mittlere Kind und Nana, die Tochter und jüngste der drei Geschwister. Nun ist Marta tot und nach dem Begräbnis teilt Joséphine, Serges Tochter, ihrem Vater mit, dass sie nach Auschwitz fahren will, auf der Suche nach der Geschichte der ungarischen Verwandten, über die Marta nie gesprochen hatte. Serge soll seine Tochter begleiten, Nana will ebenfalls mitfahren und so kommt auch Jean mit. Doch statt die Geschwister zu einen, brechen auf dieser Reise lang unterdrückte Konflikte auf.
Thema und Genre
In diesem Generationen- und Familienroman geht es um moderne Beziehungsgefüge, Alltagskonflikte unserer Zeit und Kritik an der touristischen Gedenkkultur am Beispiel Auschwitz. Kernthemen sind familiäre Bindungen, Patchworkstrukturen, Alter, Krankheit, Tod.
Charaktere
Jean, Experte für Materialleitfähigkeit, ist das typische mittlere Kind und der Vermittler zwischen Serge und Nana, denn Familie ist für ihn wichtig, obwohl oder gerade weil er keine eigene Familie will. Serge ist der kreative Lebenskünstler und Frauenheld und beide, Serge und Jean, pflegen seit Jahren ihre Vorurteile gegenüber Ramos, Franzose mit spanischen Wurzeln, Nanas Ehemann. Es ist eine weit verzweigte Großfamilie mit eigenwilligen Charakteren, die alle Facetten der menschlichen Eigenheiten zeigen.
Handlung und Schreibstil
Dieser Roman besteht aus Momentaufnahmen, kurzen Episoden in der Gegenwart, unterbrochen von Erinnerungen und Fragmenten. Es sind die Dialoge, welche die Geschichte tragen, denn hier treten die Konflikte auf, zeigt sich die Problematik, die Suche der einzelnen Figuren, ihre Alltag zu bewältigen. Man diskutiert heftig, wirft Sätze, Meinungen und Themen durcheinander und Jean, der Ich-Erzähler, ergänzt mit vielen eigenen Gedanken, Überlegungen und auch Schilderungen des Umfeldes. Die Sprache ist leicht, flüssig zu lesen, die „herzzerreißende Komik“, von der der Klappentext spricht, blieb mir mit Ausnahme einiger skurril-witziger Szenen allerdings verborgen.
Fazit
Eine Mischung aus Familien-, Generationen- und Beziehungsroman, in dem es um Alltagsprobleme und Konflikte unserer Zeit geht.
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Gebundenes Buch
Ein leichtes Stück über Auschwitz? Und dann noch Imre Kertesz gewidmet, dem einsamen Unbehausten, der sein Leben lang unter dem Trauma seines KZ-Aufenthalts litt?
Das hat mich irritiert, aber weil das Buch nun einmal da war, habe ich es auch gelesen.
Und siehe da: Yasmina Reza gelingt …
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Ein leichtes Stück über Auschwitz? Und dann noch Imre Kertesz gewidmet, dem einsamen Unbehausten, der sein Leben lang unter dem Trauma seines KZ-Aufenthalts litt?
Das hat mich irritiert, aber weil das Buch nun einmal da war, habe ich es auch gelesen.
Und siehe da: Yasmina Reza gelingt wirklich ein unglaublicher Spagat.
Im Mittelpunkt steht eine jüdische Familie in Paris: drei Geschwister, und der mittlere Bruder Jean ist der Ich-Erzähler. In treffsicheren Dialogen nimmt der Leser teil an ihren Kabbeleien, an ihren Streitereien, aber auch an ihren beruflichen Problemen und ihrem wirklich komplizierten Beziehungsalltag. Die Elterngeneration, die die Geschwister früher als kraftvolle Vorbilder erlebt hat, siecht dahin, wird zunehmend unselbständiger, die Alten müssen betreut und betüttelt werden – kein Gedanke mehr an frühere Pläne, kraftvoll und selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden! Noch hält die Mutter mit ihren sonntäglichen Mittagessen die Familie zusammen. Aber mit ihrem Tod verlieren die Geschwister nicht nur ihren Bezugspunkt, sondern auch die letzte Zeitzeugin ihrer Familiengeschichte der Shoa. Und so müssen sie sich neu formieren. Dazu beschließen sie, eine Reise nach Auschwitz zu machen, dem Ort, an dem die Familie ihrer Mutter ermordet worden war.
Auschwitz präsentiert sich als touristisch perfekt durchorganisiert. Die Massen pilgern von einem grausigen Anziehungspunkt zum nächsten, angetan mit Sonnenbrille und geblümten Shorts, und eigentlich fehlt – dachte ich – nur noch der Würschtlstand an einer versteckten Ecke. Die bizarre Situation wird gesteigert durch die Erinnerung an eine Klassenreise, bei der die Lehrerin angesichts dieses Massentourismus loslachen musste und nicht mehr aufhören konnte. Auch die Familie wuselt durch die „Sehenswürdigkeiten“, die einen sind interessiert, den anderen ist es zu warm, sie schwitzen, lassen ihrer schlechten Laune freien Lauf und entziehen sich der Betrachtung des Grauens. Dieser Gegensatz zwischen dem großen Vorhaben, der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen, und der Verwirklichung bzw. dem Scheitern dieses Vorhabens hat etwas Groteskes, aber auch etwas Tragisches. Und auch die kommenden Versuche, die Familie zusammenzuhalten, haben etwas Morbides und sind von diesem Gegensatz geprägt.
Wie die Autorin den Bogen spannt zwischen dem Ernst, der diesem Ort (und auch folgenden Ereignissen) zukommen muss, und der Komik, die sich am Miteinander der Familie zeigt – das ist gekonnt. Souverän hält sie die Balance, wenn wir ihre unbeholfene, desorientierte, aber dennoch sympathische Familie auf ihrer Identitätssuche begleiten.
Einer Identitätssuche, die nicht gelingt.
Fazit: Ein kunstvolles, aber sehr unterhaltsames Buch über Identität und ein besonderer Beitrag zur Erinnerungskultur.
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Hörbuch-Download MP3
Yasmina Reza möchte in ihrem Familienroman „Serge“ die Frage beantworten, was jüdisch sein bedeutet.
Die 3 Geschwister der Familie Popper begeben sich auf eine Reise nach Ausschwitz. Dabei wird in vielen Rückblenden und auf Nebenschauplätzen die Geschichte der …
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Yasmina Reza möchte in ihrem Familienroman „Serge“ die Frage beantworten, was jüdisch sein bedeutet.
Die 3 Geschwister der Familie Popper begeben sich auf eine Reise nach Ausschwitz. Dabei wird in vielen Rückblenden und auf Nebenschauplätzen die Geschichte der gesamten Familie beleuchtet. Unterschiedlicher könnten die 3 Protagonisten kaum sein: Während der Ich-Erzähler Jean lethargisch daherkommt, ist Nana sehr emotional, teilweise gar pathetisch und Serge der platte Macho.
Überzeugen konnte mich aufgrund fehlender Authentizität allerdings keiner davon. Ebenso wie die Geschichte, die mir zu unausgegoren ist und an den wichtigen Stellen doch nicht tiefer gräbt. Die großen Fragen beantwortet sie jedenfalls nicht und ich weiß nicht recht, was die Autorin dem Leser mitzuteilen versucht.
Ich habe den Roman als Hörbuch gehört und auch die Interpretation von Peter Jordan hat mich eher irritiert. Gerade die Darstellung von Nana fand ich zu spöttisch, hat sie doch durchaus Grund, Kritik an Serges Verhalten zu üben.
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Was Peter Handke nicht schreiben sollte
Keine zehn Bücher ist es her, dass ich bei der jungen niederländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld sicher war, dass Handke Ärger bekommen, wenn er dasselbe Buch geschrieben hätte.
Gleiches gilt für Serge. Aber zum Glück …
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Was Peter Handke nicht schreiben sollte
Keine zehn Bücher ist es her, dass ich bei der jungen niederländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld sicher war, dass Handke Ärger bekommen, wenn er dasselbe Buch geschrieben hätte.
Gleiches gilt für Serge. Aber zum Glück stammt die französische Autorin aus einer jüdischen Familie und wer ihren Wikipedia-Eintrag liest, wird nicht umhinkommen in den chaotischen Poppers autobiografische Züge zu vermuten.
Auf meine Leseliste kam Serge, weil ich von einer satirischen Darstellung einer Reise nach Auschwitz hörte und mich auf Ähnliches wie in Robert Menasses „Hauptstadt“ freute. In der Tat ist das der Höhepunkt des Buches und nein als Skandal eignet es sich nicht. Mir hat es gefallen wie sie das Erlebnisinteresse der Touristen mit ständigem Handyklingeln und Fotowahnsinn schildert und wie sie das historische Desinteresse auch in der jüdischen Familie veranschaulicht. Aber wenn das Wort Vernichtungslager mit Nichts oder die Desinfektionsräume mit Sauna beschrieben werden kann von Verharmlosung nicht die Rede sein.
Leider sind nur etwa 30 Seiten der Reise gewidmet. Wenn die FAZ von „Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge“ könnte ich dem zustimmen, wenn nicht ausgerechnet diese Meisterschaft das Leseerlebnis schmälern würde. Auf Seite 149 habe ich mich zum Beispiel gefragt, wo die lange wörtliche Rede eigentlich beginnt, die mit Herzchen aufhört. Da ich trotz minutenlanger Suche die Lösung nicht gefunden habe, freue ich mich über Kommentare.
Und wie bei Annie Ernaux fehlt jede Gliederung, allein Ernauxs Bücher sind deutlich kürzer.
Eigentlich schade, dass ich außer den Kindern den Überblick über die Personen verloren habe. Denn ihre Beschreibung des Schachspiels mit dem Schachspruch des Vaters: „Ein König der Spiele, ein Spiel der Könige“ ist meisterlich. „Da wurde Partien von Spassky, Fischer , Capablanca, Steinitz und anderen analysiert, aber sein Held, dessen Noblesse und Unerschrockenheit er unablässig pries, war Mikhail Tal, das Genie des Opferns, der Alexander der vierundsechzig Felder. Die ganzen russischen oder tschechischen Champions sind Juden, erklärte er uns. Und wenn der Typ kein Jude war, war er trotzdem Jude.“ (71f)
Als Schachtrainer werde ich diese Idee des Vaters übernehmen: „Sobald er sich bedroht fühlte, sagte er, oh, interessant, sehr interessante Situation! Analysieren wir die Varianten! Er verwandelte die Partie in eine Übung, sie wurde völlig neutral, und keiner gewann sie mehr.“ (72) Das passt zu der Schlussfolgerung: „Im Schach zu verlieren war bei uns eine niederschmetternde Demütigung.“ (72)
All diese schönen Zitat können nicht verhindern, dass Serge von mir wegen des fehlenden roten Faden, der außer in Auschwitz Familienkomödie mit Längen nur 3 Sterne erhält.
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Schade eigentlich
Wen wundert’s, dass auch «Serge», Yasmina Rezas neuer Roman, eher wie ein Drama in Prosaform wirkt. Er lebt sprachlich von seinen funkelnden Dialogen, mit denen die französische Schriftstellerin in ihren Theaterstücken ja ebenfalls brilliert. Hier nun …
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Schade eigentlich
Wen wundert’s, dass auch «Serge», Yasmina Rezas neuer Roman, eher wie ein Drama in Prosaform wirkt. Er lebt sprachlich von seinen funkelnden Dialogen, mit denen die französische Schriftstellerin in ihren Theaterstücken ja ebenfalls brilliert. Hier nun kreuzen die Mitglieder einer jüdischen Familie verbal die Klingen. Der titelgebende Sohn Serge ist ein nichtsnutziger Aufschneider, der von seinem jüngeren Bruder Jean, dem Ich-Erzähler, maßlos bewundert wird. Jean selbst ist ein unscheinbarer Typ ohne Charisma, ein Leisetreter, der im Hintergrund bleibt und außer seiner Funktion als Protokollant auch kaum in das Geschehen hineinwirkt. Nana, die von allen geliebte Tochter der Poppers, hat einen nach Ansicht der Familie unpassenden Mann geheiratet. Sie ist aber im Beziehungs-Chaos der diversen anderen Familien-Mitglieder als einzige wirklich glücklich. Die nicht praktizierende jüdische Familie ist innerlich gespalten durch den Antisemitismus-Vorwurf, den der verstorbene Vater regelmäßig in die Debatte warf, wenn es um Israel und seine Politik ging. Wer diesen Staat kritisiert, ist gegen die Juden, so seine felsenfeste Überzeugung!
Das verkrachte Genie Serge, ein unsympathischer Kotzbrocken, ist als Sechzigjähriger auf der ganzen Linie gescheitert. Seine ominösen Geschäfte als Berater sind nur noch reine Luftnummern, die er sich aber unverdrossen schönredet, auch wenn er finanziell völlig am Ende ist. Seine Ehen sind ebenfalls gescheitert, um seine Kinder kümmert er sich kaum, sie leben bei den Müttern, Auch seine Beziehungen halten nicht lange, er vermasselt es jedes Mal. Als plötzlich auch die achtzigjährige Mutter stirbt, stellen die Geschwister fest, dass sie von ihren Vorfahren und deren Schicksal so gut wie nichts wissen, zum Fragen ist es nun aber zu spät. Auf Vorschlag der Tochter von Serge starten sie zu einem gemeinsamen Besuch nach Auschwitz. Wie zu erwarten ist auch hier Serge der Störenfried, er weigert sich, die wichtigen Stationen der Gedenkstätte zu betreten, zeigt keinerlei Interesse an dem, wovon doch auch seine eigene Familie betroffen war. Jean protokolliert, ebenfalls wenig beeindruckt, das abstoßende touristische Umfeld. Erstaunt stellt er fest, er habe noch nie eine so mit Blumen herausgeputzte Stadt wie Auschwitz gesehen. Was als Versuch gedacht war, das nach dem Tod der Mutter auseinander zu brechen drohende Familiengefüge zu erhalten, erweist sich als Illusion. «Nach unserer Rückkehr aus Auschwitz haben Nana und Serge übereinstimmend und ohne Absprache beschlossen, nie wieder miteinander zu reden».
Das zentrale Thema der Erinnerung wird hier weitgehend im Desaster einer tragikkomischen Reise behandelt, wobei die eigentlichen Motive der Suche nach familiären Spuren und nach Wahrheit völlig in den Hintergrund geraten. Mit ihrer genauen Beobachtungsgabe und der ungenierten Art, Figuren sezierend kühl zu beschreiben, gleichzeitig aber auch noch warmherzig auf sie zu blicken, bewirkt die Autorin eine zuweilen unfreiwillig komisch wirkende, sprachliche Ambivalenz. Und auch der aus diesem Blickwinkel beschriebene Auschwitz-Besuch erscheint als kühnes Unterfangen und wirft die drängende Frage nach einem angemessenen Umgang mit der unsäglichen historischen Vergangenheit auf.
Hervorzuheben sind die brillanten, oft sarkastischen und zuweilen sogar witzigen Dialoge in diesem Roman. Misslungen ist zweifellos die von Anfang an fragwürdige, nebulöse Erzählerfigur des Jean, der im Text eher selten auftritt und mangels klarem eigenen Profil kaum erkennbar ist. Wenn er als Ich-Erzähler dann aber zuweilen auch noch in die Position eines auktorialen Erzählers rückt, weil er Dinge und Vorgänge beschreibt, die er als Akteur gar nicht wissen kann, ist man als Leser vollends irritiert. Dieser illusionslose Roman, der ohne Moralisieren ein schwieriges Thema behandelt, liefert weder neue Erkenntnisse, noch ist er, abgesehen von den Dialogen, besonders unterhaltsam. Schade eigentlich!
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