Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
dracoma
Wohnort: 
LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 162 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2024
So gehn wir denn hinab
Ward, Jesmyn

So gehn wir denn hinab


ausgezeichnet

Annis, die Ich-Erzählerin, wird in der Sklaverei geboren. Ihre Mutter hält die Erinnerungen an ihre Herkunft aus einer afrikanischen Kriegerinnen-Familie in Dahomey lebendig, und die Erinnerung v. a. an ihre Großmutter Aza bedeuten für Annis die Sicherung ihrer eigenen Identität, geben ihr Selbstbewusstsein und auch das Vermögen, ihre jetzige Lage zu ertragen. Der Verkauf ihrer Mutter löst bei ihr eine Trauerphase aus, die mit hoher Empathie und in eindrücklichen, fast lyrischen Bildern erzählt wird.

Schließlich wird auch Annis von ihrem Vater, dem weißen Plantagenbesitzer, an Händler verkauft. Annis erzählt von dem langen qualvollen Fußmarsch von South Carolina hinunter zum Sklavenmarkt in New Orleans, und auch hier sind es die bestechend starken und zugleich reduzierten Bilder, die den Leser atemlos weiterlesen lassen. Auf diesem Marsch und auch bei der harten Arbeit bei ihrer neuen Besitzerin helfen ihr die Visionen von ihren Ahnen und die Verbindung zu ihren vertrauten Naturgeistern, ihre Lage zu überstehen. Die Begegnung mit den Geistern nimmt gegen Schluss des Romans allerdings einen derart breiten Raum ein, dass Realität und Fiktion ineinander übergehen.

Jesmyn Ward ist eine begnadete Erzählerin. Ihre kraftvolle Sprache und ihr stets ruhiger Erzählton, ohne Aufgeregtheiten und ohne Larmoyanz, fesseln den Leser und lassen damit eine Zeit wieder lebendig werden, die in ihrer Menschenverachtung und Unmenschlichkeit immer noch präsent ist. Die Übersetzung gibt Jesmyns Ward Sprachgewalt angemessen wieder, allerdings stören mich einige zeitgenössische Wendungen („Narrativ“), die die Wucht des Erzählens mindern.

Annis bewahrt sich ihr Bewusstsein, ein Mensch und keine Ware zu sein. Neben der Verankerung in der Familiengeschichte hilft ihr dabei auch die Literatur. Damit greift Jesmyn Ward eine Facette ihres Romans „Vor dem Sturm“ auf. Annis ist Analphabetin, aber sie belauscht den Unterricht ihrer Halbschwestern und hört Dantes Göttliche Komödie. Sie ist fasziniert, die Verse begleiten sie, und sie sieht Parallelen zu ihrem eigenen Weg.
„So gehen wir denn hinab ins finstre Reich“: Annis geht diesen Weg hinab in die Hölle der Sklaverei. Auch der Leser geht diesen Weg mit ihr, und damit geht er zugleich den Weg zurück in eine Zeit der Willkür und Grausamkeit. Mit dem Hinweis auf Dante ist aber auch Hoffnung verbunden, denn auch Dante steigt aus dem Inferno wieder herauf in das Licht des Paradieses.

Fazit: Eine wuchtige Erzählung, die den Kampf vieler Menschen lebendig erhält.

4,5/5*

Bewertung vom 08.09.2024
Das Schweigen meiner Freundin
Baldelli, Giulia

Das Schweigen meiner Freundin


ausgezeichnet

Mein Lese-Eindruck:

Der Roman beginnt sehr stimmungsvoll: Giulia, 60 Jahre, muss sich mit ihrem baldigen Tod arrangieren und ihre Dinge regeln. Dazu reist sie an einen besonderen Ort ihrer Kindheit, um dort Frieden mit der Liebe ihres Lebens zu schließen – was nicht gelingt. Aber sie erzählt uns ihre Geschichte.

Dazu geht sie 50 Jahre in die Vergangenheit zurück und erzählt von ihrem ersten Zusammentreffen mit Cristi, der Enkelin einer Nachbarin, und der scheuen Liebesbeziehung, die sich entwickelt. Mattia, Sohn einer Aushilfsarbeiterin, kommt dazu, und in dem spannungsvollen Gefüge dieser drei Menschen spielt sich die Handlung ab.

Cristi übt eine merkwürdige, irrationale Faszination auf Giulia aus. Im Unterschied zu Giulia kommt sie aus eher ungeordneten Verhältnissen, sie ist ungepflegt, vernachlässigt, unterernährt, eigensinnig. Sie ist eine Einzelgängerin, die sich vergeblich nach der Liebe ihrer Mutter sehnt, und bis zum Ende der Handlung verweigert sie sich jeder Rücksichtnahme und jeder Bindung. Sie lügt, ist unzuverlässig, sie nutzt Giulias Liebe und andere Menschen aus, verschwindet und taucht plötzlich wieder auf. Giulia beendet trotz dieser belastenden Liebesgeschichte zielstrebig und pragmatisch ihr Jura-Studium, aber sie leidet unter der Dreiecks-Situation. Diese Dreiecks-Beziehung eskaliert durch die Tatsache, dass alle drei aus unterschiedlichen Gründen wieder in das Dorf ihrer Kindheit zurückziehen.

Das dramatische Grundgerüst des Romans besteht aus der lebenslangen Liebe von Giulia und Mattia zu Cristi. Als Leser fragt man sich allerdings, wieso die beiden ihr Leben nicht auch ohne diese irrlichternde Cristi auf die Reihe gebracht haben. Wäre das nicht realistischer gewesen als diese lebenslange Obsession? Wird das Motiv der einzigen großen Liebe nicht etwas überstrapaziert?

Der Roman besticht durch den ruhigen und wohlüberlegten Erzählton, in dem die Handlung dahinfließt. Giulia Badelli erzählt chronologisch und verzichtet auf literarische Experimente. Sie entscheidet sich für eine traditionelle chronologische Erzählweise, wobei sie ihre Namensvetterin Giulia zur Erzählinstanz macht und damit die Handlung sehr nahe an den Leser heranrückt. Der Leser mitempfindet Giulias Zweifel und ihre Ängste, kann ihre widersprüchlichen Gefühle nachvollziehen und er hat teil an ihrer bitteren Erkenntnis, in bester Absicht eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Dazu kommt Baldellis immer klare und unaufgeregte Sprache, die von der Übersetzerin sehr schön ins Deutsche übertragen wurde.

Ein lesenswerter Roman, ein erstaunliches Debut. Ich freue mich auf den nächsten Roman der Autorin!

4,5/5*

Bewertung vom 29.08.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


ausgezeichnet

„In jedem Menschen steckt ein zurückgetretener König.“

1558. Kaiser Karl V., der mächtige Kaiser, in dessen Reich die Sonne niemals unterging, hatte sich nach seiner Resignation in die Einsamkeit der Extremadura zurückgezogen. Dort begegnet ihm nun der Leser, aber von Glanz, Macht und universalem Kaisertum kann keine Rede sein. Karl ist ausgebrannt, hinfällig, von Krankheiten gezeichnet, hilfsbedürftig, vereinsamt, und umgeben von einem Hofstaat, der nur auf seinen Tod wartet.

Karl aber will ergründen, wer er eigentlich ist. Welcher Mensch befindet sich unter der Krone? Wer ist er, wenn er nicht mehr Kaiser ist? Sein Beichtvater empfiehlt ihm Gebete und Kontemplation, aber damit kommt Karl nicht weiter, und so entschließt er sich kurzerhand für einen Ausbruch. Er will nach Laredo, ans Meer, zusammen mit dem kleinen Pagen Geronimo, seinem illegitimen Sohn.

Und so besteigen die Beiden nachts ihre Reittiere und brechen auf. Nein, kein medizinisches Wunder. Dem Leser wird schnell klar, dass diese Reise nicht real ist. Geiger wendet den schönen Kniff der Zeitdehnung an: die Zeit dehnt sich in Karls Visionen, und der Leser erhält Einblick in die Gedankenwelt dieses sterbenden Menschen.

Es ist eine abenteuerliche Reise, die Karl und das Kind unternehmen, und je einsamer und monotoner die äußere Landschaft wird, umso mehr wendet sich Karls Blick in sein Inneres. Der Mensch, der vom König übriggeblieben war, vergisst nun die halsstarrigen Päpste, die Vertragsbrüche Frankreichs, die Reichstage in Deutschland, Luthers Thesen und die ganzen Wirren und Kämpfe seiner Zeit. „Wozu das Ganze?“ Stattdessen wendet er sich den Dingen seiner nahen Umgebung zu.

Hier ist es vor allem das Kind und sein freudiges Staunen, das ihn fasziniert. Das Kind lebt nur im Moment und geht voller Neugier in jeden Tag seines Lebens, und damit ist es ein Gegenbild zu Karl, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Blick haben musste. Karl erlebt auf seiner Reise das Leben mit seinen Freuden, aber auch mit seiner Niedertracht. Und vor allem erlebt er menschliche Zuneigung und kann am Ende seines Lebens feststellen: „Der Tod kann schön sein, wenn man gelebt hat.“

Geiger vermengt die beiden Erzählebenen schlüssig und einfach nur meisterhaft: manchmal hört Karl die Stimme des Priesters, sein schmerzender Körper meldet sich, er empfindet Berührungen, zudem ist er sich ständig der Nähe seines Todes bewusst, und am Schluss werden beide Erzählebenen souverän und erhellend zueinander geführt.

Ein historischer Roman? Geiger vermeidet bewusst historisierende Wendungen, wenn er z. B. das neuzeitliche „Sie“ für die Ansprache benutzt und damit das Thema der Selbstfindung in unsere Zeit rückt. Gelegentliche Wortspielereien wie Chiasmen fand ich zwar gewollt, aber das schmälert der Gesamteindruck nicht: ein lesenswertes Buch!

Bewertung vom 26.08.2024
Marseille 1940
Wittstock, Uwe

Marseille 1940


ausgezeichnet

Man muss sich wundern: Wurde bisher tatsächlich der Fluchthelfer Varian Fry in der deutschen Geschichte so gut wie vergessen? Wittstock ruft mit seinem Buch nicht nur diesen mutigen und engagierten Journalisten in die Erinnerung zurück, sondern auch die unmenschlichen Zustände, denen die Kulturelite Deutschland auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ausgesetzt war. Marseille 1940 ist ein markantes Eckdatum, denn hier sammeln sich die Unerwünschten und „Entarteten“, die zunächst ins sicher geglaubte Frankreich (sehr beliebt: Sanary-sur-Mer) geflohen waren und sich dann von der heranrückenden Wehrmacht in Marseille sammelten in der Hoffnung auf Ausreise.

Wittstocks Buch bedient sich an einer Fülle von Quellen und entscheidet sich für einen Episodenstil, ähnlich wie in „Winter 1933“ und für eine chronologische Darstellung. Seine kurzen Darstellungen schneidet er wie in einem Film mit Statements zur politischen Lage. Wie mit einem Schlaglicht nimmt er Monat für Monat das Schicksal der Flüchtlinge und ihrer Helfer in den Blick. Das wirkt unruhig und erschwert die Konzentration des Lesers, aber auf der anderen Seite wird damit die rasant steigende Bedrohung der Geflüchteten deutlich. Und er erreicht damit diese ganz besondere Mischung eines Sachbuchs mit Protagonisten, die wie Romangestalten wirken, aber keine sind.

Wittstock konzentriert sich auf einige wenige Größen, allen voran Lion Feuchtwanger, erfolgreich und international bekannt, oder den frankophilen Heinrich Mann und seinen Neffen Golo, Hannah Arendt und ihren Ehemann, Max Ernst, Marc Chagall, Andrè Breton, die unbeirrbar stalintreue Anna Seghers und andere. In seinen Episoden sorgt er für Empörung und Mitleid, wenn er z. B. die barbarische Situation in den südfranzösischen Lagern und zugleich die Untätigkeit der französischen Exilregierung schildert. Er sorgt aber auch für Kopfschütteln, wenn er das Schicksal Rudolf Breitscheids und Rudolf Hilferdings erzählt, die sich wider besseres Wissen auf ihren internationalen Ruf und einen französischen Rechtsstaat verlassen. Auch heitere Episoden fehlen nicht, wenn man liest, dass Alma Mahler-Werfel mit 12 Koffern flüchtete und es tatsächlich schaffte, diese 12 Koffer in die USA mitzunehmen.

Im Mittelpunkt steht natürlich Fry, aber Wittstock vermeidet die Zeichnung eines Helden, sondern zeigt ihn in all seiner Widersprüchlichkeit und vor allem immer als Teil einer Gruppe. Deutlich wird auch, wie sehr die Arbeit von Frys Organisation auf Geld angewiesen wird, und ebenso deutlich wird das Problem, dass Fry nicht jeden retten kann, sondern auswählen muss. Die bürokratischen Hürden werden immer höher und die Fluchtwege immer komplizierter, und sehr anschaulich beschreibt Wittstock die mühsame Flucht zu Fuß auf geheimen Pfaden über die Pyrenäen, die die Geistesgrößen durchstehen müssen.

Wittstock vergisst nicht die französischen Kollaborateure der Gestapo, aber vor allem vergisst er nicht die vielen Menschen wie Grenzsoldaten, Verwaltungsbeamte und dörfliche Nachbarn, die mit persönlichem Mut Tragödien verhinderten. Ein wohltuendes Beispiel menschlicher Solidarität.

Dieses spannende und informationsreiche Buch lege ich nicht nur Literaturfreunden ans Herz, sondern vor allem den Unbelehrbaren und Geschichtsvergessenen unserer Tage. Dazu darf ich Magnus Brechtken („Vom Wert der Geschichte“) zitieren: „Wir können, wenn überhaupt, NUR aus der Geschichte lernen. Etwas anderes ist uns ... nicht verfügbar.“

Bewertung vom 21.08.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


sehr gut

Im Mittelpunkt des Romans steht Gudelia, und sie steckt in einer Situation, die dem Hochwasser-Unglück an der Ahr im Jahre 2021 nachgebildet wurde. Aus Gudelias Leben werden drei Jahre herausgegriffen: das Jahr 1984, in dem sie Tod ihres Sohnes Nico hinnehmen muss, dann das Jahr 1998, in dem sie ihren alkoholkranken Mann dazu bewegen kann, ihr das Haus zu überschreiben, und schließlich 2024, das Jahr des Hochwassers. Ihr Haus ist unterspült und einsturzgefährdet, aber sie weigert sich beharrlich, das Haus zu verlassen.
Welches Geheimnis verbirgt sich im Haus?

Der Leser erkennt sehr schnell, dass die Schlaglichter auf diese drei Jahre alle miteinander ursächlich verbunden sind und im Grund zusammen ein gewaltiges Spotlight auf ein menschliches Drama ergeben. Gudelia bleibt die einzige Erzählinstanz, sodass wir alle Ereignisse ausschließlich durch ihre Brille sehen, und daher ist der Roman trotz einiger Krimi-Elemente eher ein Psychogramm Gudelias als ein Krimi.

Im Mittelpunkt steht Gudelias Liebe zu ihrem Sohn Nico. „Nico ist mein Leben“, sagt sie, und sie ordnet ihr gesamtes Leben vollständig ihrem Sohn unter. Sie isoliert sich, ihr Haus wird für sie zu einer Art Trutzburg. Auch die Beziehung zu ihrem Mann leidet unter Sprachlosigkeit. Die Liebe zu ihrem Sohn bestimmt noch über dessen Tod hinaus ihr Leben. Hier entstehen jedoch skurrile und streckenweise sehr makabre Auswüchse, die nicht immer glaubwürdig sind.

Trotzdem liest sich das Buch angenehm. Die Spannung wird durch scheinbar nebensächliche Bemerkungen immer wieder neu aktiviert. Man erkennt zwar recht schnell, worin Gudelias Geheimnis besteht, aber es bleibt bis zum Schluss offen, wie sie es so lange sichern konnte und vor allem: wen es betrifft.

Bewertung vom 18.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


sehr gut

Mein Hör- und Lese-Eindruck:

Ein wunderbarer Romananfang, der Lesefreude verspricht: ein Blick zurück, eine wehmütige Grundstimmung, Konflikte werden angedeutet, und im Mittelpunkt steht Beatrix. Um sie herum gruppieren sich ihre Herkunftsfamilie mit der Mutter Millie im Zentrum und ihre neue Familie in den USA, die aus Nancy und Ethan und ihren beiden Söhnen William und Gerald besteht.

Diesen Personen folgt der Roman chronologisch von 1944 bis 1977, und zwar in Zeitsprüngen. Die Autorin entscheidet sich für einen Episodenstil, der dazu führt, dass der Leser mit Leerstellen klarkommen muss, die er nicht immer eindeutig füllen kann.

Die vielen Episoden bindet die Autorin aber erzählerisch sehr geschickt zusammen. Sie doppelt manche Handlungselemente; so wird z. B. in den USA ein Kleid für Bea gekauft, während die Mutter in London ein Kleid ihrer Tochter weggibt. Zusätzlich setzt die Autorin durchgängige Motive ein wie z. B. das Schachspiel, das sie wirkungsvoll entfaltet, wenn sie die Familien und die Generationen damit zusammenbindet. Sehr aufwändig arbeitet sie mit dem Mittel des Kontrapunkts, wenn sie Personen wie z. B. die beiden Mütter oder die Brüder als Gegensatz gestaltet, wobei der Kontrast aber oft zu scharf, zu pointiert ausfällt.

Darüber hinaus hat mir das Erzählen der Autorin sehr gut gefallen. Sie gestaltet sehr stimmige Szenen, und vor allem bei schmerzlichen Szenen verzichtet sie auf Lamento und Dramatik, sondern erzählt unaufdringlich und empathisch. Jede Einzelszene wirkt gut durchdacht und sorgfältig komponiert. Dasselbe gilt auch für den Roman als Ganzes.

Die Schwächen des Romans liegen im Plot. Das Ziel des Romans ist offensichtlich die allumfassende Harmonie der Familie, die wieder ihren Sehnsuchtsort, den angestammten Sommersitz bewohnt. Diesem Ende wird alles untergeordnet. Die angedeuteten Konflikte werden keiner Klärung zugeführt, sondern sie verpuffen einfach. Auch die Figurengestaltung muss sich dem intendierten Ende unterordnen. Die Autorin vergibt jede Möglichkeit, einen Konflikt und damit auch ihre Figuren zu entwickeln. Ihre Figuren wachsen nicht an den Konflikten, sondern sie machen abrupte Änderungen durch, die nicht motiviert werden und daher unglaubwürdig sind. Und wenn die Figuren von ihrer ursprünglichen Anlage nicht zum Ende passen wollen, werden sie gewaltsam zurechtgebogen und sogar -gebrochen. Und das Ende muss man mögen: alle unter einem Dach, alle Generationen vereint, innere und äußere Ähnlichkeiten werden beschworen, jeder ist nur Teil einer Generationenkette, endlich ist jeder glücklich, keine Konflikte, keine Sorgen, keine finanziellen Probleme.

Schade. Die vielversprechenden Ansätze des Beginns werden nicht genutzt.

Trotzdem bin ich überzeugt, dass der Roman seine Leserinnen finden wird, die wohlig-seufzend damit einverstanden sind, dass der märchenhafte Schluss wenig mit der Realität zu tun hat.

Das Hörbuch wurde eingelesen von Sandrine Mittelstädt. Sie liest in einem angenehmen Tempo, und ihre Stimme hat ein besonderes Timbre, ich habe ihr sehr gerne zugehört. Das Hörbuch ist gekürzt, die Kürzungen sind aber geschickt vorgenommen worden.

Bewertung vom 18.08.2024
Eve (MP3-Download)
Towles, Amor

Eve (MP3-Download)


sehr gut

30er Jahre. Ein Mann und eine Frau im Zug nach Los Angeles: Charlie, eher alt, ein ehemaliger Polizist, und Eve, die durch eine große Narbe im Gesicht auffällt und nicht viel von sich preisgibt. In Los Angeles verlieren sich die Beiden aus den Augen, und auch der Leser muss zunächst auf sie verzichten.

Dafür lässt Towles ihn eintauchen in die Welt Hollywoods. Eine bunte Welt tut sich auf, aber auch eine menschenverachtende. Ein alter Schauspieler, dick geworden und seit langem ohne Rollen, verzweifelte Menschen, junge ehrgeizige Schauspielerinnen, die nach oben kommen wollen, die Macht der Produzenten und ihr Konkurrenzkampf, Verträge, die die Schauspieler knebeln, windige Juristen, Intrigen und skrupellose Agenten – hier zeigt der Autor die Filmindustrie aus verschiedenen Blickwinkeln. Es kommt ihm offensichtlich nicht auf die Handlung an, sondern auf eine Beschreibung der nach außen hin so glanzvollen Welt des Films. Allerdings zerfasert der Roman durch die vielen Perspektiven. Towles kritischer Blick ist unübersehbar, wird aber immer gemildert durch seinen eleganten, humorvollen Erzählton. Und diesen Erzählton trifft der Sprecher Hans Jürgen Stockerl perfekt.

Im 2. Teil mausert sich der Roman unvorhergesehen zu einem Kriminalroman. Nacktfotos von berühmten Schauspielerinnen, Erpressungsversuche und Korruption sind die Zutaten, und mittendrin Eve. Eve hat sich zwischenzeitlich mit Olivia de Havilland angefreundet und übernimmt nun den Schutz ihrer Freundin. Sie erweist sich als starke Frau: willensstark, durchsetzungsstark, nervenstark. Hier mäandert die Erzählung, weil ein- und dieselbe Handlung aus einer jeweils anderen Perspektive erzählt wird und damit Tempo verliert.

Bis zum Schluss fragt sich allerdings der Leser, wer Eve eigentlich ist. Sie gibt nichts von sich preis, und auch der Autor lässt sie als geheimnisvolle Schöne stehen. Sehr schön die Schlusszene: Beim Dreh von „Vom Winde verweht“ wird die Kulisse übermalt, um die Auswirkungen des Krieges zu zeigen. Alles nur Schall und Rauch, wie das Leben.

Bewertung vom 11.08.2024
Gegenlicht
Saisio, Pirkko

Gegenlicht


ausgezeichnet

Pirkko ist 19 Jahre jung und hat Träume. Gerade hat sie ihr Abitur gemacht und will die Welt sehen, v. a. ihr Traumland Schweiz. Und da macht sie ihre ersten Gegenlicht-Erfahrungen: die Schweiz mag durchaus ein Gegenentwurf zu Finnland sein, aber ein Traumland ist sie nicht. Frauen dürfen hier nicht wählen, die Schulbücher erzählen dummes Zeug über die Finnen, und den Nationalstolz der Schweizer empfindet sie als arrogant.

Auch ihr Lebenstraum muss ein scharfes Gegenlicht aushalten. Sehr humorvoll erzählt Pirkko Saisio von ihrem Traum, ein Schweizer Waisenhaus in idyllischer Lage zu leiten, wo sie von den lieben Kindern abgöttisch verehrt wird. Die Wirklichkeit sieht anders aus: das Haus, in dem sie ein Praktikum ableistet, ist alles andere als ein idyllischer Ort, sondern geprägt von Konkurrenzdenken, Egoismus und oft lieblosem Umgang mit den Kindern.

Die radikale Ernüchterung führt dazu, dass sie sich von ihrem romantischen Ideal einer umschwärmten Waisenhausmutter verabschiedet und ihre eigentliche Stärke entdeckt: das Beobachten von Menschen und das Schreiben über Menschen. Und dann fällt ein so wunderbarer Satz über ihre Erkenntnis: „denn ihre Welt, das hat sie noch immer nicht erkannt, besteht aus Menschen, spinnennetzfeinen Fäden: raschen Blicken; […] unausgesprochenen Worten und ausweichenden oder nachgebenden Gesten; endlosem Rätselraten und tastenden Interpretationen.“

Das ist nur ein Beispiel für ein „Gegenlicht“, dem die junge Pirkko ausgesetzt ist. Ihre Jugend wird quasi durchzuckt von Gegenlichtern: ihre Hinwendung zur Religion, ihr Interesse für Literatur und Kunst in einem Elternhaus, in dem lediglich die Werke von Stalin und Lenin im Regal stehen, die zögernde Entdeckung ihrer sexuellen Identität und schließlich der Wunsch, Schriftstellerin zu werden.

Das alles erzählt Pirkko Saisio mit einer Leichtigkeit und Ehrlichkeit, die den Mief der 50er und 60er im kommunistisch orientierten Finnland noch deutlicher hervortreten lassen. Immer wieder springt sie zwischen den Zeitebenen hin und her und wechselt von der Ich-Erzählung zum reflektierten, beobachtenden Sie-Erzählen.

Damit schafft sie eine Distanz zwischen ihren beiden Ichs, dem der Jetzt-Zeit und ihrer Situation als bekannteste Autorin Finnlands, und dem Ich der erzählten Zeit ihrer Jugend. Ein witziger Kunstgriff gelingt ihr, wenn ihre beiden Ichs in einen kurzen Dialog eintreten. Sie betrachtet sich selber und ihre kommunistische kleinbürgerliche Familie mit einem scharfen Blick, aber vor allem einen wunderbar leichten und menschenfreundlichen Humor. Und das alles in assoziativen Splittern, die jede Chronologie aufbricht bzw. erst im Nachhinein deutlich werden lässt.

Großes Lese-Vergnügen!

Bewertung vom 04.08.2024
Anständige Leute
Padura, Leonardo

Anständige Leute


ausgezeichnet

Krimi? Das ist dieser Roman nur vordergründig. Er erzählt vom kubanischen Lebensgefühl, der Geschichte der Insel und der kubanischen Gesellschaft, die durch extreme Gegensätze gespalten wird und die vor allem geprägt ist von der Unterdrückung durch Diktatoren und ihre korrupten Nutznießer. Sehr eingängig zeigt Padura auf, dass man die Gegenwart nur versteht, wenn man die Vergangenheit kennt und wie die Gegenwart immer bestimmt wird von der Vergangenheit.

Dazu erzählt er in zwei Handlungssträngen mehrere Kriminalfälle aus verschiedenen Zeiten. Ein Handlungsstrang befasst sich mit zwei über 100 Jahre zurückliegenden Morden aus dem Rotlicht-Milieu im Umkreis des charismatischen Alberto Yarini, einer in Kuba nach wie vor umglänzten historischen Gestalt. Hier ist es ein junger Polizist, der in der Rückschau erzählt, wie er Schritt für Schritt in die Verkommenheit seiner Zeit hineingezogen wird.

Auch im anderen Handlungsstrang ist ein Polizist der Erzähler: Mario Conde, inzwischen in die Jahre gekommen und aus moralischen Gründen aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Conde hat sämtliche Illusionen und jeden Fortschrittsglauben verloren. Ein einsamer Mensch, der sein kleines Glück täglich neu finden muss. Auch seine Morde sind in einem dekadenten Milieu angesiedelt: im Milieu der Unterdrücker und ihrer Nutznießer.

Padura verbindet beide Handlungsstränge nicht nur durch die Gemeinsamkeiten der Erzähler und das Milieu, sondern auch dadurch, dass er alle Mordfälle ursächlich ineinanderfügt und damit ein sehr deprimierendes Bild seiner Heimat zeichnet: das eines Landes, das schon immer bestimmt wurde von Unterdrückung, Korruption und Verkommenheit auf der einen Seite und Angst, Hass, Verzweiflung und großer Armut auf der anderen Seite.

Padura verklammert darüber hinaus seine Handlungsstränge durch einen ethischen Gesichtspunkt. Wie kann ein Mensch in schwierigen Zeiten seinen Anstand bewahren? Sich nicht korrumpieren zu lassen? Ist ein Mensch, der blutige Rache an einem Richter und Henker nimmt, anständig? Heiligt der Zweck die Mittel?

Die Beantwortung dieser Frage überlässt Padura dem Leser.

Fazit: Das Buch fordert die Konzentration des Lesers, aber entschädigt mit prallen Schilderungen Kubas und einem stets präsenten augenzwinkernden Humor.

Bewertung vom 23.07.2024
Der Totenarzt / Detective Robert Hunter Bd.13 (2 CDs)
Carter, Chris

Der Totenarzt / Detective Robert Hunter Bd.13 (2 CDs)


sehr gut

Ein Mord, der als Selbstmord bzw. als Unfall getarnt wird – das ist vielleicht keine neue Idee für einen Krimi, aber auf alle Fälle ein Ausgangspunkt, der funktioniert. Chris Carter nutzt die Möglichkeiten sehr geschickt aus, wenn er beschreibt, wie sich das Ermittlerduo dem Mörder anhand von kleinsten Indizien und einem glücklichen Zufall annähert. Hier erzählt ein Profi, der weiß, wie man Spannung aufbaut und wie man seine Leser mitnimmt. Seine Erzählung ist immer fokussiert, die Dialoge sind gekonnt ausgebaut, und die meisten Kapitel schließen mit einem effektvollen Cliffhanger. Dazu nutzt er die Möglichkeiten des Perspektivenwechsel, wenn er abwechselnd die Jäger und das Opfer des Gejagten sprechen lässt und damit seinen Leser immer nahe am Geschehen hält.

Die Morde sind sehr grausam, aber dem Leser wird nur das Ergebnis präsentiert und nicht der Vorgang – vielen Dank, Herr Carter. Das Spiel des Bösewichts mit seinen Werkzeugen reichte mir durchaus, um meine Phantasie in Gang zu setzen. Wer also dezidiert Grausamkeiten lesen will, kommt hier nicht ganz auf seine Kosten. Ich wäre auch mit weniger Blut sehr einverstanden gewesen.

Am Schluss folgt Carter dem bekannten Muster: der Jäger wird selber Opfer des Gejagten, und der Letztere nutzt die Gelegenheit, seine Lebensgeschichte zu erzählen und sich selber als Opfer darzustellen. Hier kippt die Geschichte endgültig um ins Unglaubwürdige und maßlos Übertriebene.

Der Sprecher Uve Teschner reißt die Geschichte heraus. Er liest strukturiert und engagiert, einfach perfekt.
3,5/5*