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Benutzername: 
dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 199 Bewertungen
Bewertung vom 24.04.2025
Dorf im Himmel
Ramuz, Charles Ferdinand

Dorf im Himmel


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:
„Da standen diejenigen, die gerufen wurden, aus ihren Gräbern auf“.
Mit diesem Satz voller Pathos, voller Rhythmus und alttestamentarischem Anklang wird der Leser eingestimmt auf diesen Roman aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. „Dreihundert von den Tausenden, die gewesen waren“ werden zurückgeführt in ein neues Leben, in dem es keine Krankheiten, keine Armut, keine Not, keinen Streit und keine Sorgen mehr gibt. Der Kriegsversehrte hat sein Bein wieder, die Großmutter ihre geliebte Enkelin, die Kindsmörderin wieder ihr Kind. Auch das Bergdorf, in das sie wieder einziehen, ist ihres und doch nicht ihres: die Häuser sind wie neu, sie verfallen nicht im Unterschied zum alten Leben, „in dem nichts Bestand hatte“. Der Tag besteht nicht mehr aus Arbeit und Plackerei, sondern jeder kann seinen Vorlieben nachgehen.
Das alte Leben sei gegen die Natur gewesen, erkennen die Menschen: „Gegen die Tiere, gegen die Menschen, alle einander feind, neidisch aufeinander und ständig im Krieg gegeneinander, sodass man ... sich ständig verteidigen musste, und man war nur damit beschäftigt, nicht selbst zerstört zu werden.» Auch die Zeit gibt es nicht mehr, was der Autor durch eine eigenwillige Verwendung der Erzählzeiten deutlich macht.
Ein paradiesischer Zustand! So sieht das Glück aus. Aber was ist, wenn man sich an das Glück gewöhnt? Die Vollkommenheit zum Normalen wird? Wenn die Freude der Überraschung fehlt? Wenn das Paradies langweilig wird?
In apokalyptischen und sprachgewaltigen Bildern zeigt der Autor die Bedrohung einer vermeintlichen Idylle. Und an diesem Punkt erhält die Handlung Gleichnischarakter und Aktualität. Was ist Glück? Und was ist mit denjenigen, an „die man nicht mehr dachte?“
Ein Buch, das seine Leser beeindruckt und nachdenklich zurücklässt.

Bewertung vom 23.04.2025
Regen
Beyer, Claire

Regen


gut

„Ein Krimi der nicht so blutrünstigen Art“, das verspricht Elke Heidenreich auf dem Aufkleber. Wer also Verfolgungsjagden, Grausamkeiten, Leichenberge und einen spannenden Show-down mag, wird nicht zu diesem Krimi greifen. Wobei man sich darüber streiten kann, ob der Roman zum Genre Krimi gehört.
Elisabeth, die Protagonistin, ist eine Versicherungsangestellte und wohnt mit ihrem Mann im kleinen Haus ihrer verstorbenen Großmutter. Und dieses kleinbürgerliche Leben ändert sich schlagartig durch zwei Ereignisse. Das eine ist der Regen, der in einen heftigen Starkregen umschlägt und Elisabeth in ihrem PKW auf dem Parkplatz festhält. Hier beobachtet sie, dass ein Mann vor ihrem Wagen zwei Taschen abstellt und dann wegfährt. Elisabeth entscheidet sich, die Taschen an sich zu nehmen. Das zweite Ereignis ist die Tatsache, dass der Starkregen eine Überschwemmung ausgelöst hat, die ihr Häuschen zur Hälfte mitgerissen hat. Mit ihrem Mann darin? Elisabeth ist es egal. Inzwischen weiß sie, dass die Taschen voller Geld und Diebesgut stecken. Sie entschließt sich, ihrem Leben eine radikale Wendung zu geben: sie fährt in den Süden und will sich neu erfinden.
Jeder Romananfang ist natürlich ein Konstrukt, aber hier fragt man sich doch, wieso der ominöse Mann zwei Taschen mit so kostbarem Inhalt im Regen stehen lässt? Vertrieb ihn das Martinshorn, das in weiter Ferne zu hören ist? Und Elisabeth wird nun selber zur Diebin?
In der Tradition eines Schelmenromans wird Elisabeths Flucht in ein anderes Leben erzählt. Da reihen sich einige Merkwürdigkeiten aneinander. Ein roter Kater wird ihr Begleiter und freundet sich innig mit der Kuh Emma an, während Elisabeth Magddienste auf einer idyllischen Alm verrichtet. Immer wieder wird sie verfolgt von zwei Männern in schwarzen Anzügen und handgenähten Schuhen aus Italien, eine neue Liebe bahnt sich an, der Weg führt zusammen weiter in den Süden Italiens, und dazwischen erscheint ihr immer wieder ein alter Mann, dessen Gesicht die „Falten einer Wüstenrose“ hat und von einer „geheimnisvollen Tiefe“ und von „exotischer Schönheit“ ist, „männlich und sinnlich“. Was mag es mit diesem Mann auf sich haben?
Die Sprache der Autorin hat durchaus poetische Züge, aber schrammt immer wieder an der Trivialität vorbei, was mir den Zugang zur Handlung zusätzlich erschwerte. Dennoch: der Roman wird seine Liebhaber finden, die Freude an schön erzählten Situationen haben und Elisabeths Weg in ein neues Leben gerne verfolgen.
3

Bewertung vom 22.04.2025
Am Meer
Strout, Elizabeth

Am Meer


ausgezeichnet

Mein Hör-Eindruck:

Lucy Barton, eine erfolgreiche Schriftstellerin, und ihr Ex-Mann William fliehen vor der Corona-Pandemie aufs Land, nach Maine, ans Meer. Dort sind sie zwar in Sicherheit, aber die Auswirkungen der Pandemie erreichen sie über das Leben ihrer beiden Töchter dennoch. Elizabeth Strout erzählt jedoch keinen Roman über Corona. Streng genommen hat ihr Roman keinen Plot. Die Ich-Erzählerin Lucy erzählt über das tägliche Leben in ihrem gemieteten Haus am Meer. Trotzdem ist der Roman keine Sekunde langweilig.
Lucy wirkt in ihrer negativen Haltung nicht unbedingt sympathisch. Das Meer ist zu grau, die Algen zu glitschig, der Strand zu eintönig, das Leben in Maine zu provinziell und so fort – Lucy findet an allem etwas auszusetzen. Aber das zurückgezogene Leben setzt in ihr andere Fähigkeiten frei. Sie entdeckt das Kleine und Unspektakuläre für sich, aber sie verliert nicht den Blick aufs Große, ganz im Gegenteil: aus der Distanz erkennt sie sehr genau die Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft, die sich auch in ihrer eigenen Familie spiegelt. Der Rückzug in die Stille am Meer lässt Kindheitserinnerungen in ihr hochkommen, ungute Erinnerungen an ihre Mutter und an die Armut ihrer Familie, die sie und ihre Geschwister von Geburt an auf die Verliererseite der Gesellschaft gestellt hätten.
Auch wenn sich Lucys Erzählungen dem Alltag widmen, ist er Roman alles andere als banal. Es geht um die allgemeinen Themen, denen sich ältere Menschen stellen müssen: z. B. um lebensbedrohliche Erkrankungen, die Einschränkungen des Alters, um Tod, um Verzicht und Verlassenheit und immer wieder um Verluste. Lucy entdeckt aber auch das Glück des Augenblicks durch Beobachtungen der Natur oder das Glück von freundschaftlichen Begegnungen. Lucy erzählt von familiären Krisen und Unglücksfällen und vor allem von ihrer langsam wachsenden Erkenntnis, welchen Wert das Vertraute in ihrem Leben hat.
Der Roman ist ein einziger großer Monolog, der im Plauderton vorgetragen wird, hier perfekt umgesetzt von Barbara Stoll. Immer wieder aber merkt man die menschenfreundliche und lebenskluge Haltung der Autorin, die durch den Monolog ihrer Protagonistin durchleuchtet. Was den Roman zu einem ganz besonderen Hör-Erlebnis macht. Ich freue mich auf den nächsten Roman von Elizabeth Strout.

Bewertung vom 14.04.2025
Der Gott des Waldes (eBook, ePUB)
Moore, Liz

Der Gott des Waldes (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein Feriencamp in den Adirondacks, und ein junges Mädchen verschwindet spurlos. Die Suche weckt Erinnerungen an ihren kleinen Bruder, der ebenfalls vor Jahren plötzlich verschwand und es zeigt sich, dass beide Fälle miteinander verzahnt sind.
Damit hat sich die Autorin einen spannenden und sehr ergiebigen Plot einfallen lassen, den sie von Anfang an betont langsam entwickelt. Die Verzahnung der Vergangenheit mit der Gegenwart zeigt die Autorin durch ständig wechselnde Perspektiven, durch Zeitsprünge und chronologische Verwürfelungen, die die Handlung gelegentlich unnötig zerhackstücken und das Erzähltempo zusätzlich drosseln.
Liz Moore nimmt sich viel Zeit für die Ausgestaltung ihrer Szenen und für die Profilierung ihrer Charaktere. Sehr schnell wird deutlich, dass ihr die weiblichen Charaktere eher am Herzen liegen, und hier weitet sich der Krimi zu einem Emanzipations- und Gesellschaftsroman aus. Die gesellschaftlichen Einschränkungen der Frauen und allgemeine Klassenunterschiede in den 60er und 70er Jahren werden deutlich und geschickt mit der Darstellung der Polizeiarbeit verbunden. Die Darstellung der Upper Class, vor allem der Männer, ist aber nicht frei von Klischees; hier zeigt die Autorin deutlich ihre Sympathien für die Ärmeren und damit (ihrer Meinung nach) Rechtlosen und verzichtet auf einen differenzierenden Blick. Schade auch, dass nicht alle Erzählstränge zu einem Ende geführt werden und manche Handlungen recht gewollt konstruiert sind. Und schade auch, dass die Protagonistin Barbara keine kräftigeren Konturen bekommen hat.
Trotz dieser Einschränkungen: Liz Moore bietet einen spannenden und breit gelagerten Roman, leicht zu lesen, unterhaltsam bis zum Schluss!

Bewertung vom 11.04.2025
Mord auf Westwater Manor
Hamilton, Henrietta

Mord auf Westwater Manor


sehr gut

Dieser Krimi ist, wie sein Vorgängerband, nichts für Leser, die rasante Verfolgungsjagden und dramatische Show-downs lieben. Wir befinden uns wieder im Nachkriegsengland. Das Duo Sally und John ist inzwischen verheiratet und wird auf ein Landgut gebeten, um eine Bibliothek zu katalogisieren. Die Autorin entführt ihre Leser damit wieder in eine Umgebung, die man als typisch britisch empfindet: ein prächtiges Landhaus in einer malerischen Landschaft, umgeben von einem weitläufigen Park, der von mehreren Gärtnern in Ordnung gehalten wird. Und natürlich gibt es einen Butler und mehrere Bedienstete, damit sich die Bewohner nicht mit so trivialen Beschäftigungen wie Kochen, Bettenmachen und Staubwischen aufhalten müssen.
In diesem Ambiente einer untergegangenen Zeit geschieht unverhofft ein Mord: der Hausherr wird tot aufgefunden. Das Ermittlerduo arbeitet nun mit der örtlichen Polizei zusammen, und zwar konstruktiv; Hamilton verzichtet auf die beliebte Charakterisierung der Polizei als unfähig und beschränkt. Sally und John ermitteln allein mit Logik, und so muss man als Leser durchaus aufpassen, wenn man ihren teils recht verzwickten Gedankengängen folgen will. Hier zeigt Hamilton ihre Erzählkunst, wenn sie den Austausch der beiden in abwechslungsreichen und zugleich humorvollen Dialogen schildert. Die Ermittlung wird komplizierter durch ungeahnte familiäre Probleme, und unverhoffte Wendungen halten die Spannung aufrecht.
Ein liebenswertes Ermittlerpaar, eine verzwickte Handlung, ein schönes Setting – all das garantiert einen ungetrübten Lesegenuss für einen Leser, der ein Herz für klassische Kriminalgeschichten hat!

Bewertung vom 08.04.2025
Wildwuchs
Bialik, Chaim Nachman

Wildwuchs


ausgezeichnet

Eine schöne Auswahl!
Bialik war mir bisher kein Begriff; und inzwischen weiß ich, dass er die hebräische Sprache aus der religiösen Ecke herausnahm, sie für die Literatur öffnete und damit wieder lebendig machte, was ihn zum israelischen Nationaldichter machte. In diesem Buch geht es um sein Herkunftsland: Wolhynien, ehemals Sowjetunion, heute Teil der Ukraine.
Bialik erzählt von einer untergegangenen Welt: der Welt des osteuropäischen Judentums. Dabei malt er ein durchaus ambivalentes Bild seiner jüdischen Dorfgemeinschaft. Die Juden müssen zwar Gewalt und Willkür ertragen, aber umgekehrt üben auch sie Gewalt aus. Sie werden ausgegrenzt, aber grenzen selber auch aus. Das Verhältnis zur Tradition wird besonders deutlich in der Erzählung „Hinter dem Zaun“. Noah, der Protagonist, ist ein rebellischer junger Mann, der gegen die traditionsverhafteten Eltern aufbegehrt und sich mit dem nicht-jüdischen Nachbarsmädchen anfreundet. Das Schlussbild zeigt ihn jedoch als feige: er verleugnet das gemeinsame Kind, das ihn nun „hinter dem Zaun“ nur durch ein Astloch sehen kann, und fügt sich in die von seinen Eltern arrangierte Ehe. Die Rebellion gegen die Tradition ist beendet, und an ihre Stelle ist das Bewusstsein der Verwurzelung in diese Traditionen getreten, womit er allerdings Schuld auf sich lädt. In „Wildwuchs“, der Titelerzählung, erzählt Bialik ebenfalls von einem jungen Menschen, dessen Lebensauffassung der seines tätigen Vaters diametral widerspricht. Der Vater arbeitet und sorgt für die Familie, während der Sohn gedankenversunken auf der Wiese liegt und in die umgebende Natur das Heilige Land und die Geschichten des Alten Testaments hineinträumt. Immer gelingen Bialik poetische, leicht melancholische Naturbeschreibungen seiner Heimat, die wie zart hingetupfte Bilder wirken.
Ganz anders klingt das abschließende Langgedicht „In der Stadt des Tötens“, eine Totenklage, die die Schrecken eines Pogroms in grellen Bildern deutlich macht. Auch hier zeigt sich Bialiks ambivalente Haltung. Das Gedicht ist nicht nur eine Totenklage, sondern auch eine sehr kritische Anklage an die jüdischen Männer, die der Massenvergewaltigung und -abschlachtung der Frauen wie verängstigte Mäuse aus einem Mauseloch zusehen statt sich zu wehren. Damit hat das Gedicht einen deutlich appellativen Charakter und weist auf die Schaffung eines jüdischen wehrbereiten Staats hin.
Verschiedene Nachworte informieren den Leser über die Biografie Bialiks, die Übersetzungsproblematik und die biografischen Anteile an den Erzählungen.

Eine lohnende Lektüre!

Bewertung vom 06.04.2025
Vaterländer
Tambrea, Sabin

Vaterländer


sehr gut

Mein Hör-Eindruck:
Menschen verlassen ihre Heimat, aus unterschiedlichen Gründen. Migration ist historisch gesehen kein typisches Phänomen unserer Zeit, aber das Wort wird momentan politisch genutzt, um die Gesellschaft zu polarisieren. Daher haben Migrationsgeschichten, wie Sabin Tambrea sie vorliegt, ihren Sinn. Und sollten vor allem von den Geschichtsvergessenen unserer Gesellschaft gelesen werden.
Der Autor erzählt die Geschichte seiner Familie in drei Teilen, über drei Generationen und in mehreren Perspektiven. Er beginnt mit seiner Ankunft in Deutschland und erzählt von seiner Kindheit, vor allem von den Ferien bei den geliebten Großeltern in Rumänien. Hier erfährt der Leser auch von den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Rumänen und Ungarn, die sich auch im Exil zeigen. Seine Kindheit ist behütet, allerdings leicht umschattet von dem Ehrgeiz seiner Eltern. Beide Eltern sind Geiger, und sie können sich ein Leben außerhalb der Musik nicht vorstellen. Im Unterschied zu ihrem Sohn, der sich zunächst fügt, aber dann seine Liebe zur Oper und zum Theater entdeckt.
Der 2. Teil besteht aus den Erinnerungen des Großvaters Horea, der Verhaftung, Folter und Zwangsarbeit zu ertragen hatte und auch nach seiner Entlassung unter dem Stigma des politischen Gefangenen Entbehrungen ertragen musste. Hier wird der ganze Schrecken eines Unrechtsystems deutlich.
Der 3. Teil nimmt die Liebesgeschichte der Eltern ins Visier und endet mit der Flucht des Vaters. Damit schließt sich dieser 3. Teil direkt an den 1. Teil an. Die private Geschichte unterbricht der Autor immer wieder mit allgemeinen Darstellungen zur politischen Geschichte Rumäniens. Hier hätte der direkte Zusammenhang zum privaten Leben der Familie durchaus deutlicher erzählt werden können! Damit wäre auch der Fluchtgrund vielschichtiger geworden.
Tambrea erzählt die Geschichte eines starken Familienzusammenhalts in schweren Zeiten. Dadurch, dass er sein Buch selber eingelesen hat – was er als Schauspieler perfekt macht - wird die Geschichte authentischer. Dennoch: einige Episoden hätten deutlich gestrafft werden können. Das gilt auch für das Erinnerungsbuch seines Großvaters. Diese Aufzeichnungen haben als Zeitdokument unbestritten ihren Wert, vor allem deshalb, weil der Großvater Ross und Reiter beim Namen nennt.
Auch die Sprache hätte einige Korrekturen seitens des Lektorats vertragen können; manche Wendungen sind sehr abgehoben und wirken daher nicht lyrisch, sondern sehr gewollt.
Insgesamt aber eine lohnende Lektüre und ein sehr privater Beitrag zum Thema Migration.

Bewertung vom 01.04.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


sehr gut

Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit kam in Deutschland nur zögerlich in Gang. Kaum zu glauben, dass erst jetzt eine Dissertation den Umgang des bayerischen Justizministeriums mit seinen belasteten Juristen ins Visier nimmt und ihn als „vergangenheitspolitische Fehlleistung“ und „Versagen“ bezeichnet.
Arno Frank geht einen anderen Weg. Er wirft drei grelle Schlaglichter auf eine fiktive Kleinstadt und einige ihrer ausgewählten Bewohner, und zwar zu geschickt ausgewählten Zeitpunkten. Einmal 1935, das Jahr, in dem die Herrschaft der Nationalsozialisten gesichert war und die Nürnberger Rassegesetze erlassen wurden – dann 1940: Deutschland befindet sich im Krieg, die Luftschlacht um England beginnt – und schließlich 1945: der Zusammenbruch.
Arno Frank beschränkt sich auf die Erzählung des Alltäglichen. Somit wird beklemmend deutlich, wie sich der braune Sumpf schleichend und fast unmerklich ausbreitet, wie er den Alltag erobert und zur Normalität wird. Der Autor verzichtet auf einen moralischen Zeigefinger oder eine Schuldzuweisung, sondern zeigt an seinen Figuren die unterschiedlichen Motive auf. Da sind die Karrieristen und Opportunisten, die in den neuen Verhältnissen Möglichkeiten zum Aufstieg sehen. Dazu kommen die Mitläufer, die nicht gegen den Strom schwimmen wollen oder können und sich anbiedern. Andere wiederum genießen die neu gewonnene Machtposition und damit auch die Chance zur Brutalität, und wieder andere nutzen die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Krieges aus. Fast alle aber nehmen die Opfer der Zeit – - jüdische Mitbürger, Kommunisten, Sinti/Roma – zwar wahr, aber sie sind sich einig darin, dass Ausgrenzungen und Säuberungen das eigene Gemeinwesen nur stärken können. Schleichend und eher leise als laut werden sie alle vom braunen Sumpf umspült, in dem sie schließlich untergehen werden. Und man ahnt es: keiner wird schuld gewesen sein.
Das alles erzählt Arno Frank in einer wunderbar flüssigen und sehr eingängigen Sprache, bildstark und unterstützt von zeitgenössischen Dokumenten. Er baut historische Personen in seinen Roman ein wie z. B. Erich Bachem oder Lothar Sieber; da wäre ein kurzes Nachwort sicher interessant gewesen. Einige Ungenauigkeiten haben mich gestört, u. a. scheinen Autor und Korrektor auf Kriegsfuß mit römischen Zahlen zu stehen. Gemessen am Gesamt sind das jedoch Petitessen, die zwar unschön sind, aber verblassen gegenüber der eigentlichen Aussage: Wehret den Anfängen. Da wir in einer Zeit leben, in der auch in unserem Land demokratische Institutionen ausgehöhlt werden, kommt dem Buch eine beklemmende Aktualität zu.

Bewertung vom 27.03.2025
Drei Tage im Juni
Tyler, Anne

Drei Tage im Juni


ausgezeichnet

Anne Tylers Romane spielen immer im Alltäglichen. Sie nimmt nicht die großen Dinge der Welt ins Visier, sondern es sind die kleinen, alltäglichen Dinge und damit auch die eher alltäglichen Durchschnittsmenschen, die sie betrachtet. So ist es auch in diesem Roman.
Gail, die Protagonistin, ist schon etwas älter und liebt sich selber nicht. Sie ist der Typ der Grauen Maus, die sich keinen Friseur und keine Extravaganzen gönnt und die in ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus ein ebenso kleinbürgerliches Leben führt. Ihr Leben wird jedoch in mehrfacher Hinsicht aufgemischt. Sie muss eine berufliche Schlappe erleben und sich neu orientieren. Dazu steht die Hochzeit der einzigen Tochter an, die aber durch einen Seitensprung des Bräutigams in Frage gerät – und ihr geschiedener Mann steht mit einer alten Katze vor der Tür und bittet um Aufnahme.
Diese Situation nimmt Anne Tyler zum Anlass, hinter die Fassaden zu schauen. Vordergründig werden uns die Diskussionen um eine eventuelle Absage der Hochzeit, um den Anzug des Brautvaters, die Proben für die Hochzeitszeremonie und so fort erzählt, aber dahinter kommt immer das Menschliche zum Vorschein. Es ist vor allen Gails Fassade, hinter die die Autorin uns blicken lässt. Das unverhoffte Zusammensein mit ihrem geschiedenen Mann lässt Erinnerungen in ihr hochkommen, und sie reflektiert ihr eigenes Verhalten. Allmählich wächst in ihr die Überzeugung, dass das Zusammensein mit einem vertrauten Menschen – und sei er noch so übergriffig und chaotisch – doch seine Vorzüge hat.
Damit schlägt Anne Tyler eigentlich große Themen an, aber sie beschränkt sich auf den Alltag ihrer Personen. Mir hat die menschenfreundliche Art, mit der sie ihre Figuren betrachtet, sehr gut gefallen. Anne Tyler urteilt nicht und hebt niemals den Zeigefinger. Aber sie betrachtet genau die Gefühle ihrer Figuren, wie sie sich in alltäglichen kleinen Dingen zeigen. Diese alltäglichen Dinge fand ich z. B. bei den Hochzeitsproben zu kleinteilig dargestellt, aber auf der anderen Seite gelingt ihr mit dem Bild der alten Katze eine wunderbar treffende Symbolik.

Bewertung vom 22.03.2025
Stumme Knochen
White, Loreth Anne

Stumme Knochen


sehr gut

Mein Lese-Eindruck:

Ein routiniert erzählter und spannender Krimi!
Wenn man sich in die Personenfülle einmal eingelesen hat, verfolgt man gespannt die Entwicklung der Ereignisse rund um einen fast 50 Jahre alten Mordfall. Die Ermittlungsarbeit wird realistisch beschrieben und mit einigen Sachinformationen angereichert, die in der Regel aber gut in der Handlung verankert sind. Bei der Protagonistin Jane verfolgt die Autorin das bewährte Prinzip einer guten Mischung aus Beruflichem und Privatem, sodass Jane mit ihrem besonderen, nicht leichten Schicksal dem Leser naherückt.
Die Handlung läuft in mehreren Strängen ab, sodass der Leser teilweise mehr Informationen als die Ermittlerin und ihr Team hat, was die Spannung zusätzlich steigert. Gelegentliche unglaublichen Zufälle habe ich gerne in Kauf genommen. Immer wieder andere Personen rücken in den Fokus, und sehr geschickt legt die Autorin eine falsche Spur nach der anderen aus. Besonders verdächtig ist die ehemalige Freundesclique um das Mordopfer, die sich gegenseitig voller Misstrauen umkreisen und von denen letztlich jeder nur seine eigene Haut retten will. Die Gerechtigkeit kommt dann nach einigen überraschenden Wendungen zum siegreichen Zug, und auch diejenigen, die unbewiesenen Dreck am Stecken haben, lässt die Autorin eine Strafe erleiden. Damit verlässt die Autorin zwar den Boden der Realität, aber sie bedient das Gerechtigkeitsbedürfnis ihrer Leser.