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Bücherbummler

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Insgesamt 113 Bewertungen
Bewertung vom 15.06.2025
Gundar-Goshen, Ayelet

Ungebetene Gäste


ausgezeichnet

Es ist nur ein kurzer Moment, in dem Naomi nicht auf ihren kleinen Sohn Uri aufpasst, doch er reicht, um zu einer Katastrophe zu führen. Uri stößt einen Hammer vom Balkon, der einen Teenager unten auf der Straße tödlich trifft. In Verdacht gerät aber nicht das israelische Kind, sondern der arabische Handwerker, der bei Naomi tätig war, und sofort als Attentäter verhaftet wird. Und Naomi schweigt …

So die Ausgangssituation in Ayelet Gundar-Goshens neuem Roman „Ungebetene Gäste“, und mehr möchte ich eigentlich auch nicht verraten. Ich hatte von dieser Autorin bisher noch nichts gelesen, aber sie hat mich sofort in ihre Geschichte hineingezogen. Besonders hat mich dabei die Vielschichtigkeit ihres Romans gefesselt, die Tragik, die gleich drei Familien betrifft: Naomis, die des Handwerkers und die des erschlagenen Jungen. Die Komplexität durch den politischen Hintergrund, den seit Ewigkeiten verfestigten Alltagsrassismus, das Misstrauen und die Vorurteile. Dabei wird uns Lesern die Thematik trotz aller Dramatik eher subtil vermittelt, jede Partei ist auf ihre Weise im Recht und im Unrecht, die moralische Antwort wird uns nicht unmittelbar serviert.

Ein kleiner Schwachpunkt war für mich der mittlere Teil. Er ist für sich genommen durchaus auch interessant und lesenswert, aber ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, vom eigentlichen Weg abgekommen zu sein. Ich habe den dunklen Verdacht, dass Gundar-Goshen hier einen neuen Aspekt einbringen und die Positionen verschieben wollte, aber für mich hat der Vergleich – so der denn einer sein sollte – gehinkt.

Aber dieser gefühlte kleine Schönheitsfehler hatte auf meinen Gesamteindruck nur wenig Einfluss. „Ungebetene Gäste“ ist ein Roman, der sich am Ende rund anfühlt, den ich sehr gerne gelesen habe, von einer Autorin, von der ich nun noch mehr lesen möchte. Eine ganz eindeutige Leseempfehlung.

Bewertung vom 13.06.2025
Kennedy, Louise

Das Ende der Welt ist eine Sackgasse


gut

Vor zwei Jahren habe ich mit ziemlicher Begeisterung Louise Kennedys „Trespasses“ gelesen, damals im Rahmen des BookTube Preises, bei dem ihr Erstlingswerk (neben diversen anderen Preisen und Nominierungen) die Bronze-Medaille erhalten hat. Ich war ziemlich beeindruckt von dem Talent Kennedys, Atmosphäre zu schaffen. Aber nicht die übliche (und von mir sehr geliebte), durch die man von irischem Grün, rauen Küsten und urig-originellen Einwohnern träumt, sondern eine dunkle, trostlose, die einen spüren lässt, wie sehr die politischen Spannungen des Landes den Alltag durchdringen, ohne je Alltag sein zu können.

Und genau diese Stimmung erschafft sie in der Kurzgeschichtensammlung „Das Ende der Welt ist eine Einbahnstraße“ wieder. Die Frauen, die Kennedy in den Mittelpunkt ihrer 15 Erzählungen stellt, wirken allesamt in ihren oft von Männern dominierten Situationen festgefahren, scheinen keinen Ausweg zu sehen oder gehen zu können/wollen. Für diese greifbare Dichte der Atmosphäre kann ich Kennedy nur gratulieren.

Aber davon abgesehen blieb das Buch für mich unbefriedigend. Das Abrupte, mit dem Kennedy jedes Kapitel beendet, gibt einem mehr den Eindruck, Auszüge aus 15 Manuskripten zu lesen, die mittendrin aufhören. Auszüge, die das Zeug hätten, spannende Romane zu werden, aber die mir persönlich so wenig mitgeteilt haben und mich auch nicht animieren konnten, mir selbst vorzustellen, wie es weitergehen könnte. Genau genommen hätte ich schon zwei Tage später keine einzige von ihnen nacherzählen können.

Was mich, nebenbei, auch verwundert hat, ist die Anordnung der einzelnen Erzählungen. Ich habe jetzt schon öfter gehört, dass Leser nach den ersten zwei oder drei aufgegeben und das Buch abgebrochen haben. Mir wäre es fast ebenso gegangen, aber so kann ich sagen: Sie werden besser. Je weiter man sich nach hinten vorarbeitet, umso interessanter die Geschichten. Zumindest daran erinnere ich mich noch.

Fazit: Kennedy kann schreiben, und zwar auf ihre ganz eigene, unverkennbare Weise. Und das ist recht selten und großartig. Aber ich werde mich in Zukunft auf ihre Romane beschränken.

Bewertung vom 05.04.2025
Rooney, Sally

Schöne Welt, wo bist du


gut

Vier jungen Menschen begegnen wir in Sally Rooneys Roman „Schöne Welt, wo bist du“. Da ist Alice, berühmte Schriftstellerin, die von ihrem Ruhm eigentlich die Nase voll hat. Sie verliebt sich in Simon, der in einem Lager arbeitet und damit aus einem ganz anderen Milieu kommt. Dann treffen wir noch Eileen, eine Freundin von Alice, die gerade eine Trennung hinter sich hat, und sich daraufhin auf ihre alte Jugendliebe Simon besinnt.
So die Konstellation und mehr kann man eigentlich auch nicht zur Handlung sagen, denn es gibt keine. 11 Stunden und 39 Minuten kreisen die vier um sich selbst, erläutern, erörtern, interpretieren, hinterfragen und nehmen sich wichtiger, als sie sind. Und ja, natürlich ist das, wie im richtigen Leben, aber lesen oder hören muss ich darüber nicht unbedingt.

Der geschätzte Leser hat es vielleicht schon vermutet: Ich bin kein großer Sally Rooney Fan. Ich habe mittlerweile drei ihrer Romane gelesen, zugegebener Maßen auch ohne vor Langeweile in ein Koma zu fallen, aber im Prinzip hätte einer gereicht. Eigentlich schreibt sie immer dasselbe. Leicht frustrierend ist dabei, dass man immer mal wieder auf interessante Gedanken und gute Szenen trifft, aber mich verlässt nie das Gefühl, dass Rooney ohne Ende konstruiert. Dass sie nicht in der Lage ist, sich einmal einfach fallen zu lassen, ohne ihre Leser, deren Wünsche und vielleicht auch die Verkaufszahlen im Blick zu haben.

Was nun das Einlesen von Julia Nachtmann betrifft – auch da hat mich nichts geflasht oder gefesselt. Für mich eine Stimme gleich vielen, von der ich nicht sagen könnte, ob ich sie schon mal gehört habe, oder nicht. Den Roman aufwerten oder retten kann sie leider auch nicht.

So bleibt „Schöne Welt, wo bist du“ ein mittelmäßiges Hörerlebnis, auf das ich auch durchaus hätte verzichten können. Zum Glück hat Frau Rooney ja genug begeisterte Leser, sodass meine Abwesenheit nicht weiter ins Gewicht fällt, aber für mich war es wohl mein letzter Versuch, mich mit ihrem Werk anzufreunden.

Bewertung vom 29.09.2024
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


sehr gut

Juno ist 50 und Performancekünstlerin. Ihre Tage verbringt sie bei Proben und Vorstellungen, dazwischen pflegt sie seit über 15 Jahren ihren Mann Jupiter (es wird nicht explizit erwähnt, aber von der Medikation ausgehend würde ich vermuten, dass er MS hat). Nachts kann sie nicht schlafen und chattet daher im Internet mit Love-Scammern. Es macht ihr Spaß, diese zu verwirren und auflaufen zu lassen. Doch dann lernt sie eines Nachts Beno kennen und dieses Mal entwickelt sich das Gespräch anders.

Ich hatte eigentlich nicht vor, „Hey guten Morgen, wie geht es dir“ von Martina Hefter zu lesen. Eine Frau mittleren Alters, die nachts mit Love-Scammern chattet, während ihr pflegebedürftiger Mann nebenan schläft, kam mir wenig reizvoll vor. Aber dann landete der Roman auf der Long- und schließlich auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024, die positiven Stimmen wurden mehr und schließlich wurde ich doch neugierig.

Eigentlich habe ich das Buch auch wirklich gerne gelesen, ich fand es unterhaltsam, an einigen Stellen hat es mich zum Nachdenken gebracht, an anderen habe ich mich an pointierte Beobachtungen Junos erfreut. Genug, um spontan die vollen fünf Sterne zu vergeben.

Aber dann habe ich mich nicht sofort an die Rezension gesetzt, ein paar Tage verstreichen lassen, und es ist das passiert, was einem wirklich guten Buch nicht passieren sollte: Es hat sich in nur wenigen Tagen fast komplett aus meinem Gedächtnis gelöscht.

Woran das gelegen hat? Ich mochte Juno als Protagonistin, ihre trockene Art, mit der sie, fast schon selbstgerecht, Scammer (oder sagen wir: potenzielle, Juno macht sich nicht wirklich die Mühe, erstmal herauszukriegen, ob ihr Verdacht berechtigt ist) auflaufen lässt. Ich fand ihre Lebensbetrachtungen nicht uninteressant. Ich fand, dass sie einige gute Themen angestoßen hat.

Aber da ist vielleicht schon einer der Knackpunkte: „angestoßen“. Denn im Rückblick weiß ich nicht so wirklich, worum es in dieser Geschichte gehen sollte. Love-Scamming? Vorurteile/Rassismus? Frauen mittleren Alters (oder auch hohen Alters, wenn man sich in der Tanzwelt bewegt)? Pflegende Angehörige? Problematik einer Beziehung mit einem schwerkranken Partner? Es ist natürlich völlig legal, mehrere Themen in einem Roman unterzubringen, aber es hilft, wenn man sie dann auch greifbar macht. Hier blieb mir alles etwas zu wabernd in der Schwebe, hatte etwas zu wenig Substanz.

(Kann mir mal bitte jemand diesen ausufernden Gebrauch an Götter-/Planetennamen erklären Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den nicht ein wenig zu platt fand).

Das mag eine etwas dürftige Analyse sein, aber mehr präsentiert sich mir leider nicht mehr. Und trotzdem bleibt „Hey guten Morgen, wie geht es dir“ ein Buch, das ich gerne und schnell gelesen habe. Hätte ich nicht den Fehler gemacht, meine Meinung nicht sofort zu Papier zu bringen, wäre mir das Körnchen innerer Unzufriedenheit vielleicht nie aufgefallen. Es ist auf jeden Fall ein Roman, der bedeutend besser ist, als sein Cover-Text vermuten lässt und ich würde Interessierte durchaus ermutigen, ihm eine Chance zu geben.

6 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2024
Kames, Maren

Hasenprosa


sehr gut

Es tut mir furchtbar leid, aber ich kann diesen Roman nicht rezensieren. Ich habe keine Ahnung, was mich da gerade überrollt hat. Es sah von weitem aus wie Kunst … Poetisch, chaotisch, fantastisch-fantasierend, amüsant, schwer zugänglich, tief berührend, pointiert, ausschweifend, wirr, klar, wunderschön und nervtötend. Genauer konnte ich es nicht erkennen.

Der ungeduldige Leser kann jetzt einwerfen, dass ich mir halt mehr Zeit hätte nehmen müssen, genauer hinschauen. Und das ist richtig, das hätte ich. Habe ich aber nicht, denn – und auch dafür möchte ich mich entschuldigen – dazu fehlt es mir an Geduld. Ich bin kein Leser für Tiefe und Reflexion, auch wenn es nett wäre, zu dieser Sorte zu gehören. Ich stürme durch Bücher und möchte, dass sie sich sofort deutlich vor mir entfalten, möglichst ohne mir das Gefühl zu geben, genau das zu tun. Ich möchte festen Boden unter den Füßen und den hat man bei „Hasenprosa“ von Maren Kames nicht. „Kippbild“, wie es im Untertitel heißt, trifft es ganz gut.

Aber eines möchte ich allen mir ähnlichen Lesern mit auf den Weg geben: Als ich mit dem Buch angefangen habe, habe ich es in kürzester Zeit gehasst. Ab spätestens Paragraf zwei hätte ich es am liebsten in die Ecke geworfen, nach drei Seiten wollte ich es abbrechen und einen erbosten Verriss schreiben. Folgt diesem Impuls nicht! Es dauert, aber mit der Zeit werdet ihr merken, wie sich erst ein kleines Lächeln auf euer Gesicht stiehlt, sich langsam ein warmes Gefühl in euch ausbreitet und eure Augen sich immer weiter in Erstaunen weiten. Denn ja, das Buch ist eine wirkliche Zumutung. Aber es ist gleichzeitig auch wunderbar und diese Mischung ist großartig.

Und so sitze ich hier, bin tief berührt, weiß nicht, warum und verweigere daher eine Rezension. Dem Buch aber, das es heute auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 geschafft hat, wünsche ich Leser, die sich mehr Zeit nehmen, als ich es getan habe. Die analysieren und nachspüren, die sich die ausgiebigen Soundtracks anhören, die Bilder betrachten und reflektieren. Aber auch solche, wie mich, die sich einfach überrollen lassen. Warum auch nicht.
Leseempfehlung mit Warnung, dafür ohne Haftung.

Bewertung vom 16.09.2024
Kaleyta, Timon Karl

Heilung


gut

Gut geht es ihm nicht, unserem Ich-Erzähler. Seit drei Jahren leidet er unter einer bleiernen Müdigkeit, die sich mit keiner Menge an Schlaf abschütteln lässt. Er verliert an Gewicht, alles droht ihm zu entgleiten, seine Ehe, der Alltag, das Leben. Schließlich schickt ihn seine Frau in das Luxus-Gesundheitsresort San Vita in den Dolomiten. Es fällt ihm nicht einfach, sich auf die zugegebener Maßen etwas unorthodoxen Methoden des Professor Trinkels einzulassen. Doch eine Diagnose des Professors dringt zu ihm durch: Er hätte ein „Unbehagen“, das aus seinen Kindertagen herrühren würde und das es auszumerzen gelte.

Kurzerhand macht sich der Erzähler auf den Weg zu seinem besten Freund jener frühen Jahre und für kurze Zeit scheint es, als würde er dort in der Abgeschiedenheit und mithilfe der körperlichen Arbeit seinen Frieden finden. Aber dieser Zustand hält nicht lange an …

„Heilung“ von Timon Karl Kaleyta war eines der Bücher, die mich am meisten angesprochen haben, als ich die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 las. Umso mehr bedauere ich es, jetzt keine allzu begeisterte Rezension schreiben zu können. Ja, im Prinzip generell nicht viel schreiben zu können, weil mir einfach nichts dazu einfällt, außer ein ziemlich großes Fragezeichen.

Mein erstes Gefühl ist, dass der Autor hier vielversprechendes gewollt, sich dann aber zu sehr verkopft und verzettelt hat. Mir fällt dazu eine Theaterprobe ein, der ich vor vielen Jahren beigewohnt habe, in der die Schauspieler so viel improvisiert und weitergesponnen haben, dass am Ende keiner, der nicht dieser Probe beigewohnt hatte, hätte verstehen können, worum es eigentlich ging.

In einem zweiten Erklärungsansatz fühle ich mich versucht, das Wort „kafkaesk“ einzustreuen, allerdings nur mit dem Hinweis, dass ich grundsätzlich alles als „kafkaesk“ bezeichne, bei dem mir nicht ganz klar ist, ob es Realität, Wahn oder Traum ist.

Parallelen zu Thomas Manns Zauberberg zu ziehen, läge jetzt natürlich auf der Hand, aber diesen von mir nur stümperhaft ausführbaren Vergleich erspare ich uns.

Insgesamt bleibt mir aber in erster Linie Bedauern. Bedauern, weil ich so wenig mit einem Roman anfangen konnte, bei dem mir sowohl der grundlegende Plot als auch der Protagonist eigentlich gut gefallen haben. Ich wünsche mir, dass dieser Roman seine Connaisseure findet. Denis Scheck gehört übrigens dazu. Ich leider nicht.

Bewertung vom 15.09.2024
Del Buono, Zora

Seinetwegen


ausgezeichnet

Zora del Buono ist erst acht Monate alt, als ihr Vater bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben kommt. Jetzt, über 60 Jahre später, muss sie sich auch von ihrer Mutter verabschieden, zumindest von der, die sie gekannt hat, denn ihre Mutter leidet an Demenz. Es mag dieser neue Abschied sein oder vielleicht auch die Freiheit, der Mutter nicht mehr Rechenschaft über ihr Tun geben zu müssen, die del Buono nun dazu veranlasst, sich auf die Spuren des „Töters“ zu machen, des Mannes, der den Autounfall ihres Vaters verursacht und selbst überlebt hat und von dem sie nur die Initialen „E.T.“ kennt. Wer ist dieser Mann und wie ist er all die Jahre mit seiner Schuld umgegangen?

Ich bin eigentlich nicht der größte Fan von Autofiktionen. Zum einen geben sie mir das Gefühl, meine Nase in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen, frage ich mich, ob alle Beteiligten damit einverstanden sind, auf diese Weise an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Zum anderen finde ich die unklare Abgrenzung von Fiktion und Realität unbefriedigend. Bei „Seinetwegen“ von Zora del Buono war das anders. Dieses Buch hat sich von vorne bis hinten durch seine ruhige, unaufgeregte Sprache und den respektvollen Umgang mit Thema und Personen rund und richtig angefühlt.

Was mich sehr beeindruckt hat, ist, wie del Buono ihr Anliegen von allen Seiten angeht, unterstützt von Fotos, Zeitungsartikeln, Einträgen aus den Duden, Aktenunterlagen, geschichtlichen Exkursion … und nie wird es zu viel, zu spröde, zu ausschweifend. Dieses sich nicht auf ihren Verlust oder die Schuld des Täters Beschränken, das Betrachten aller Facetten eines solchen Ereignisses, fand ich ungemein bereichernd. Am spannendsten war für mich dabei zu beobachten, wie die Vorstellungen, die del Buono 60 Jahre mit sich herumgetragen und entwickelt hat, durch die Konfrontation mit den Ergebnissen ihrer Nachforschungen neue Formen annehmen. Annehmen müssen. Ungreifbar bleibt die Thematik dennoch, und das ist am Ende nur konsequent.

Wer allerdings erwartet, ein hautnahes Bild davon zu bekommen, wie Täter mit ihrer Schuld tatsächlich umgehen, könnte enttäuscht werden. Del Buono ist in dieser Konstellation Opfer bzw. Opfer-Tochter, und bei allen Spekulationen weiß sie das und bleibt in dieser Position. Eine Psychoanalyse des Täters hätte ich weder als angemessen noch als autorisiert empfunden.

Ein intelligenter Schachzug waren für mich auch die neun „Kaffeehausgespräche“, in denen del Buono die unterschiedlichen Aspekte ihres Themas mit erst zwei, später drei Freunden diskutiert. Was erst etwas konstruiert anmuten mag, geht wunderbar auf, gibt der Autorin nicht nur die Möglichkeit, tiefer in die Materie einzutauchen, ohne in endlose Monologe zu verfallen, sondern auch andere Sichtweisen und Facetten mit einfließen zu lassen.

Zusammengefasst: Ich habe „Seinetwegen“ geliebt. Und wenn man den Enthusiasmus nicht direkt aus meinen etwas sperrigen Zeilen herauslesen kann, dann liegt das daran, dass ich immer noch von den Eindrücken geflasht bin und eigentlich mit ihnen allein gelassen werden möchte. Ein Lesehighlight dieses Jahres, eine große Leseempfehlung und mein derzeitiger absoluter Favorit für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis 2024.

Bewertung vom 14.09.2024
Oravin, Max

Toni & Toni


gut

Als Toni und Toni sich kennenlernen, ist sie Tänzerin, er arbeitet an der Pforte der Einrichtung, in der sie probt. Es dauert nicht lange, bis sie ihn überredet hat, mit ihr ein Tanzprojekt umzusetzen, ein wenig länger, bis sie sich durch diese Proben näherkommen und ein Paar werden. Doch als Toni (weiblich) kurz nach der Generalprobe zu ihrem Stück einen „Unfall“ hat, bricht das gemeinsam aufgebaute Luftschloss in sich zusammen. Toni (weiblich) verfällt in Depressionen, greift zu alten Mustern der Selbstverletzung, verlässt kaum noch das Bett. Toni (männlich) hingegen fällt es schwer, sich den Aufgaben des Alltags zu stellen. Er flüchtet sich in den Zen-Buddhismus und das Erlernen der japanischen Sprache. Die Beziehung steht vor der Zerreißprobe.

Als ich mir die Longlist des Deutschen Buchpreises angesehen habe, ist mir das schmale Bändchen „Toni & Toni“ von Max Oravin nicht sofort ins Auge gefallen. Erst als ich „Tanz“, „Japanisch“ und „Buddhismus“ las, drei Dinge, die auch in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, war mein Interesse geweckt. Und auf den ersten Seiten war ich auch durchaus angetan davon, wie schnell Oravin eine Stimmung aufgebaut hat, die körperlich fast greifbar war. Ich habe mich wirklich auf die weitere Lektüre gefreut.

Die Begeisterung begann aber recht zügig im Sande zu verlaufen. In erster Linie lag das daran, dass der Roman jenseits der fühlbaren Atmosphäre mir nicht viel zu bieten hatte. Die Geschichte/Entwicklung kam nicht so wirklich in Gang, die Charaktere blieben hölzern und farblos, obwohl Toni (männlich) als Erzähler durchaus in die analytische Tiefe geht. Aber vielleicht lag es genau daran, vielleicht blieb alles zu verkopft, zu choreografiert, um im metaphorischen Bild zu bleiben. Die Gefühlsebene blieb für mich künstlich und hat im Gegenzug bei mir auch keine Emotionen ausgelöst. Mein Interesse schwand dann auch von Seite zu Seite mehr, weitergelesen habe ich in erster Linie, weil ich erwartet und erhofft habe, dass noch irgendetwas Weltbewegendes passieren würde.

Darüber hinaus hatte ich noch mehrere kleinere Probleme mit diesem Buch. Inwieweit es realistisch ist, dass eine professionelle Tänzerin mit einem absoluten Laien eine brauchbare Vorstellung aufziehen kann, sei mal dahingestellt. Auch, ob es möglich ist, in so kurzer Zeit ein so tiefes Verständnis für die japanischen Kanjis und die Lehren des Zen-Buddhismus zu entwickeln (vielleicht spricht da aus mir auch nur der Neid). Befremdlich fand ich eher, dass selbstverletzendes Verhalten überhaupt kein Anlass zur Beunruhigung zu sein schien, sondern eher eine Art künstlerisch-kreativen Hobbys, wenn nicht sogar normale Alltagshandlung. Und es fiel mir zunehmend schwerer, den Zeitsprüngen zu folgen – was aber durchaus auch am stetigen Sinken meines Aufmerksamkeitslevels gelegen haben kann.

Ich bin mir bewusst, dass meine Kritikpunkte vielleicht ein wenig forciert und haltlos erscheinen mögen, aber eigentlich spiegelt das genau das, was ich beim Lesen empfunden habe. Viel Konstrukt, dazwischen viel Luft und wenig Substanz.

„Toni & Toni“ ist ein dünnes Buch, und einer der wenigen Fälle, in denen das auch gut so ist. Oravin kann schreiben, das möchte ich ihm überhaupt nicht absprechen, und ich kann auch nicht behaupten, mich während der Lektüre ernsthaft gelangweilt zu haben. Es gibt bestimmt viele, die dieser Roman ansprechen wird, die viel daraus mitnehmen können, aber für mich hat es nicht gepasst und ich sehe ihn auch nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024. Darum von mir leider keine Leseempfehlung.

Bewertung vom 05.09.2024
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


sehr gut

1907. In der Heilanstalt Beelitz begegnen sich Anna und Johanna. Erstere – Patientin aus einfachen Verhältnissen – gilt als Medium, erfährt als solches gleichzeitig Anbiederung und tiefe Ablehnung. Letztere – wohlsituierte Gattin eines Arztes und ambitionierte Schriftstellerin – ist nur zu Besuch. Die Differenz dieser Frauen auf allen Ebenen ist offensichtlich, aber etwas scheint beide zu verbinden. Nach ihrer Entlassung wird Anna einige Zeit bei Johanna leben und der Einfluss sein, der es Johanna erlaubt, den wichtigsten Roman ihres Lebens zu schreiben. Und doch scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die aus dem Ungleichgewicht entstehenden Spannungen sich zu entladen drohen.

2020. Johannas Urenkelin Vanessa verschlägt es auf ihrer Wohnungssuche ausgerechnet in die Heilanstalt Beelitz, wo ihr unerwartet durch den Makler unbekannte Aufzeichnungen ihrer Großmutter in die Hände fallen …

Ich sage es gleich vorneweg: Ich habe „Das Wohlbefinden“ von Ulla Lenze sehr gerne gelesen. Der Stil, der Aufbau, die Charaktere … alles hat eine wunderbar homogene Einheit ergeben, die einfach Freude gemacht hat.
Ganz besonders hat mir die Schilderung der Beziehung zwischen Anna und Johanna gefallen. Erstaunlich, wie Lenze es schafft, hier ohne viele explizite Worte eine Atmosphäre zu schaffen, die das aus den Diskrepanzen entstandene Ungleichgewicht zwischen den beiden so unglaublich fühlbar macht.
Ebenfalls besonders gut gelungen fand ich die Ebene, auf der wir 1967 der nun gealterten Johanna begegnen. Großartig, wie Lenze hier eine Frau schildert, deren Gedächtnis und Körper sie langsam im Stich lassen, die an ihrer Identität festzuhalten sucht und der doch alles zu entgleiten droht. Eine ergreifende Schilderung, die dabei ganz ohne Dramatik auskommt.

Wenn ich dann aber doch zögere, in komplett uneingeschränkte Begeisterungsstürme zu verfallen, dann hat das vor allem zwei Gründe:
Der wesentlichere ist, dass mich der Roman irgendwie leicht unbefriedigt zurückgelassen hat. Das liegt zum einen daran, dass sich mir nicht komplett erschlossen hat, worum es Lenze bei der Erzählung dieser Geschichte ging, für mein Gefühl haben am Ende ein oder zwei Puzzle-Steine gefehlt. Es ist ein wenig, als wäre das große Potenzial dieser Geschichte nicht vollständig ausgeschöpft worden.
Mein zweiter Grund liegt in dem Erzählstrang um Vanessa. In letzter Zeit lese ich häufiger Romane, die zu diesem erzählerischen Stilmittel greifen, zwischen den Zeiten und Generationen zu springen. Für mich funktioniert das nur sehr selten. Fast immer finde ich den Teil, der in der Gegenwart spielt, überflüssig. So ging es mir auch hier, für mein Empfinden hätte es Vanessa nicht gebraucht, die Geschichte wäre ohne sie genauso gut, wenn nicht noch besser gewesen.

Aber diese Kritikpunkte fallen nicht allzu sehr ins Gewicht. Vermutlich bin ich gerade, weil „Das Wohlbefinden“ so gut ist, besonders pikiert über jeden kleinen Flusen. Flusen des persönlichen Geschmacks noch dazu. Darum geht für diesen Roman auch eine ganz klare Leseempfehlung raus.

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 und meine Daumen sind auf jeden Fall schon einmal für das Erreichen der Shortlist gedrückt.

Bewertung vom 16.07.2024
Mortimer, Maddie

Atlas unserer spektakulären Körper


sehr gut

Da ist Lia. Künstlerin, Mutter, Ehefrau, Tochter, Suchende, Lebende…

Und da ist der Krebs, der sich, nicht zum ersten Mal, kreativ in Lias Körper austobt.

Mehr muss man eigentlich nicht wissen.

“Atlas unserer spektakulären Körper” von Maddie Mortimer hat es mir nicht leicht gemacht. Und das hatte mehrere Gründe. Zum einen hatte ich etwas ganz anderes erwartet. Der Klappentext hatte mich dazu verleitet, davon auszugehen, dass ich in diesem Buch wirklich etwas über die physischen Beschaffenheiten des Körpers erfahren würde. Anatomie in einen Roman verpackt sozusagen. Und darauf hatte ich mich gefreut.

Was mich aber vor allem kalt erwischt hat, war der Stil. Ich kann mit… ich nenne es mal experimentelles Schreiben… nichts anfangen. Absolut gar nichts. Man muss mir nicht unbedingt jeden Hintergedanken vorbuchstabieren, aber analysieren, interpretieren, Vermutungen anstellen… das interessiert mich einfach nicht.

Und dann wäre da noch die Stimmung. Besonders über den ersten zwei Dritteln der Geschichte hing eine Atmosphäre (und Atmosphäre schaffen kann Mortimer, das steht außer Frage), die ziemlich unerträglich war. Nun mag man sagen, dass das der Geschichte ja durchaus angemessen ist, aber genau diese Stimmigkeit hat sich für mich nicht ergeben. Im Gegenteil, für mein Empfinden hat beides so schlecht zusammen gepasst, dass das eigentliche Thema unangemessen aus dem Rampenlicht gedrängt wurde.

Dass mir auch die Darstellung des Krebses als sadistischer Halb-Psychopath nicht gepasst hat, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber. Mir ist durchaus bewusst, dass Mortimers Lebensaufgabe nicht darin besteht, ihre Bücher nach meinen Vorstellungen zu schreiben.

Jedenfalls haben all diese Gründe den Roman für mich auf langen, seeeehr langen Strecken zu einer Qual gemacht, die ich mehr als einmal abbrechen wollte. Dass ich das nicht getan habe, hat sich am Ende aber doch noch gelohnt. Am Ende des Tages hatte ich ein Erlebnis, das aus dem üblichen Leseeinerlei weit heraus stach. Ein Roman-Projekt, das mich, bei aller Gegenwehr, doch nicht kalt lassen konnte und mich nach und nach immer mehr gefesselt hat. Und so - und ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte - habe ich mich am Ende mit der Vergabe von vier von fünf Sternen komplett selbst überrascht. Eines jener Bücher, die so persönlich funktionieren, dass man keine Empfehlung aussprechen kann. Da muss jeder selbst durch.