Tove Ditlevsen
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Kindheit / Die Kopenhagen-Trilogie Bd.1 (MP3-Download)
Ungekürzte Lesung. 197 Min.
Sprecher: Manzel, Dagmar / Übersetzer: Allenstein, Ursel
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Wie intensiv kann ein Leben sein? Tove Ditlevsen schreibt über ein Frauenleben, ihr eigenes, so bewegend und universell wie niemand sonst. »KINDHEIT« erzählt vom Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre in einfachsten Verhältnissen. Tove passt dort nicht hinein, ihre Kindheit scheint wie für ein anderes Mädchen gemacht. Die Mutter ist unnahbar, der Vater verliert seinen Job als Heizer. Zusammen mit ihrer Freundin, der wilden Ruth, entdeckt Tove die Stadt. Aber eigentlich interessiert sie sich für die Welt der Bücher und hat den brennenden Wunsch, Schriftstellerin zu werden, und dafü...
Wie intensiv kann ein Leben sein? Tove Ditlevsen schreibt über ein Frauenleben, ihr eigenes, so bewegend und universell wie niemand sonst. »KINDHEIT« erzählt vom Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre in einfachsten Verhältnissen. Tove passt dort nicht hinein, ihre Kindheit scheint wie für ein anderes Mädchen gemacht. Die Mutter ist unnahbar, der Vater verliert seinen Job als Heizer. Zusammen mit ihrer Freundin, der wilden Ruth, entdeckt Tove die Stadt. Aber eigentlich interessiert sie sich für die Welt der Bücher und hat den brennenden Wunsch, Schriftstellerin zu werden, und dafür ist sie bereit, alles hinter sich zu lassen. Tove Ditlevsens Meisterwerk, die Kopenhagen-Trilogie, wird weltweit als große literarische Wiederentdeckung gefeiert.
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Tove Ditlevsen (1917-1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die 'Kopenhagen-Trilogie' mit den drei Bänden 'Kindheit', 'Jugend' und 'Abhängigkeit' ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die entschieden darauf besteht, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Die 'Kopenhagen-Trilogie' erscheint in über dreißig Sprachen und wird international als große literarische Wiederentdeckung gefeiert. Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung. Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a. Christina Hesselholdt, Sara Stridsberg und Johan Harstad. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.
Produktdetails
- Verlag: Der Audio Verlag
- Gesamtlaufzeit: 197 Min.
- Erscheinungstermin: 22. Januar 2021
- Sprache: Deutsch
- ISBN-13: 9783742419965
- Artikelnr.: 60753357
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr zitatreich resümiert Rezensent Peter Urban-Halle die drei Bände von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, um sich dann den dringenden Leseempfehlungen seiner KritikerkollegInnen anzuschließen. Zumindest der dritte Band lag vor 40 Jahren bereits unter dem Titel "Sucht" auf Deutsch vor, aber offenbar war die Zeit noch nicht reif für die Erinnerungen der Dänin, glaubt der Kritiker. Wie Karl Ove Knausgard und Annie Ernaux, als deren Vorläuferin Ditlevsen gilt, seziert sie das eigene Ich, löst sich allerdings nie davon, fährt der Rezensent fort: Ganz gleich, ob die Autorin die Gefühle von Angst und Einsamkeit in Kindheit und Jugend schildert, oder von Affären, Sucht und Abtreibung in den späteren Lebensjahren erzählt, die soziale und politische Realität ist nur als Hintergrundrauschen vernehmbar, erkennt Urban-Halle. Mit der "kühlen Beobachtungsgabe" und "künstlerischen Festigkeit", mit der Ditlevsen ihre widersprüchlichen Gefühle in eine Form bringt, begründet der Kritiker seine Lektüreempfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Vielleicht bist du selbst so kompliziert
Die Erinnerungen der dänischen Dichterin Tove Ditlevsen aus den zwanziger bis vierziger Jahren
Ein jegliches hat seine Zeit, steht bei Salomo, das gilt auch für die Literatur. Auch ein Text - hier sind Übersetzungen gemeint - muss offenbar auf seine Zeit warten, in der seine Stärken oder seine Brisanz erkannt werden können (wenn es nicht nur eine Frage des Zeitgeistes ist). Als 1986 Annie Ernaux' "Das bessere Leben" erschien, war es ein Buch unter vielen; beachtet und geachtet wurde erst die Neuübersetzung von 2019 unter dem (passenderen) Titel "Der Platz". Bei der Dänin Tove Ditlevsen (1917 bis 1976), jetzt als Vorläuferin von Ernaux gehandelt, erleben wir Ähnliches. Der
Die Erinnerungen der dänischen Dichterin Tove Ditlevsen aus den zwanziger bis vierziger Jahren
Ein jegliches hat seine Zeit, steht bei Salomo, das gilt auch für die Literatur. Auch ein Text - hier sind Übersetzungen gemeint - muss offenbar auf seine Zeit warten, in der seine Stärken oder seine Brisanz erkannt werden können (wenn es nicht nur eine Frage des Zeitgeistes ist). Als 1986 Annie Ernaux' "Das bessere Leben" erschien, war es ein Buch unter vielen; beachtet und geachtet wurde erst die Neuübersetzung von 2019 unter dem (passenderen) Titel "Der Platz". Bei der Dänin Tove Ditlevsen (1917 bis 1976), jetzt als Vorläuferin von Ernaux gehandelt, erleben wir Ähnliches. Der
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dritte Band ihrer Erinnerungen erschien unter dem Titel "Sucht" schon vor vierzig Jahren auf Deutsch; er wurde kaum bemerkt. Das ist jetzt anders, er ist als "Abhängigkeit" neu übersetzt erschienen, und mit ihm liegen nun auch die beiden anderen autobiographischen Bände vor (der Verlag erklärt die Bücher werbewirksam kurzerhand zu einer "Kopenhagen-Trilogie"). Auf Englisch haben Ditlevsens Erinnerungen in den vergangenen Jahren bereits Furore gemacht. Nun sind auch die deutschen Rezensionen emphatisch. Die Zeit war offenbar reif.
"Am Morgen war die Hoffnung da. Sie saß als flüchtiger Schimmer im glatten, schwarzen Haar meiner Mutter ... und lag mir auf der Zunge wie der Zucker im lauwarmen Haferbrei ... während ich ihre schmalen, gefalteten Hände betrachtete ..." Ausgerechnet der Anfang hat so gar nicht die Schlankheit und Natürlichkeit, für die Tove Ditlevsens Schreibweise sonst gelobt wird. Der drohende Kitsch setzt sich gottlob nicht fort. Ihr Stil ist überwiegend einfach, persönlich und unaffektiert. Die einleitenden Sätze zeigen den Willen der Autorin (die "Kindheit" und "Jugend" im Alter von etwa fünfzig geschrieben hat, "Abhängigkeit" knapp fünf Jahre später), ihr Leben, wie sie es in dieser "Trilogie" beschreibt und wie man es aus anderen Büchern wie "Wilhelms Zimmer" (deutsch 1981) kennt, mit Hilfe teils "zuckriger", teils religiöser Bilder in ein Kunstwerk zu verwandeln und dadurch auf Distanz zu halten.
"Kindheit" handelt von Toves geistigen Überlebensstrategien im engen Milieu des Kopenhagener Arbeiterbezirks Vesterbro der zwanziger Jahre und ihrem ambivalenten Verhältnis zu den grundverschiedenen Eltern. Der Vater ist überzeugter Sozialdemokrat und fleißiger Leser, aber er und seine Tochter finden keinen Zugang zueinander. Die Beziehung zur Mutter ist verbohrt. Das Mädchen will geliebt werden. Aber die Mutter hasst das Lesen: "Was in Büchern steht, ist gelogen." Wenn die erwachsene Autorin an sie zurückdenkt, dann mit "Zorn, Trauer, Mitleid".
Mit zielstrebiger Energie geht die junge Tove ihren Weg als Autorin. Schon als Mädchen will sie nur eins, nämlich schreiben. Aber auch veröffentlichen. Mit vierzehn wagt sie sich mit ihrem Poesiealbum voller Gedichte zu einer Zeitung. Als der Redakteur sie abweist, ist sie am Boden zerstört. Irgendwann lernt sie den Antiquar Krogh kennen, von dem sie sich verstanden fühlt. Ausgerechnet bei ihm, der von lauter Büchern, also Fiktionen, umgeben ist, kommt ihr das Leben "wirklich" vor. Zur Wirklichkeit gehört aber auch noch etwas anderes, was sie von Krogh lernt: dass Menschen einander nützlich sein können. Die Lehre nimmt sie gerne an: "Mir wird immer stärker bewusst, dass ich zu nichts anderem tauge ..., als Worte aneinanderzureihen ... Um das zu können, muss ich die Menschen ... beobachten, in etwa so, als würde ich sie für den späteren Gebrauch in einem Archiv ablegen."
Die soziale und politische Wirklichkeit - Dänemark unter der Regierung des Sozialdemokraten Stauning, die deutsche Besetzung 1940, das Kriegsende - kommt nur am Rande vor. Wenn die Historie eine Rolle spielt, dann in Verbindung mit persönlicher Betroffenheit wie nach dem tragischen Unfalltod des jungen Lyrikers Morten Nielsen. Tove Ditlevsen ist unpolitisch: "Die Wirklichkeit hat mich noch nie interessiert", sagt sie in ihrer "Trilogie", die doch nichts anderes als die Wirklichkeit schildern soll. Aber sie unterscheidet zwischen "Wahrheiten des Herzens" und "grauen Tatsachen". Ihre Wirklichkeit ist seelisch. Sie sucht auch nicht das politische Engagement, sondern geht eher freudianisch vor - obwohl sie "nicht einmal weiß, wer dieser Freud ist". Ängste und Angewohnheiten haben ihren Ursprung in der Kindheit. Diese kann man nicht abschütteln, "sie hängt an einem wie ein Geruch".
An den Grenzen zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsensein kommt sie ihrem Inneren am nächsten. An diesen Übergängen sind auch Angst und Einsamkeit am größten, zwei Gefühle, die sie zeitlebens begleiten. Das unterscheidet ihre Erinnerungen von herkömmlichen Autobiographien, die verfasst werden, weil man von der eigenen Wichtigkeit überzeugt ist. Tove Ditlevsen aber schreibt, weil sie wissen will, wer sie ist - ähnlich wie heute der Norweger Knausgård. Aber im Gegensatz zu diesem, der sich in reflexiven Passagen immer wieder vom Ich löst, bleibt das Ich bei Ditlevsen stets Bezugs- und Ausgangspunkt.
1939, am Ende von "Jugend", debütiert sie mit dem Gedichtband "Mädchenseele". Dessen Bilder sind konventionell, Reime und Rhythmus traditionell, die Empfindungen aber echt und ehrlich. Die Gedichte sind auch sentimental, aber nicht kitschig, weil sie nicht falsch sind, sie sind ergreifend, nicht rührselig. Der Kritiker Poul Borum schrieb später: "Sie bringt einen dazu, Sentimentalität als natürliches menschliches Gefühl zu akzeptieren."
Ihr Leben ist voller Widersprüche. Sie hasst Veränderungen, sehnt sich "wie alle jungen Mädchen nach einem Zuhause und einem Mann und Kindern" und will einfach "normal" sein. Gleichzeitig weiß sie natürlich, dass sie eben nicht normal ist und es eigentlich auch nicht sein will. Welche Erleichterung, als sie mit achtzehn Jahren Viggo F. Møller kennenlernt, den Herausgeber der führenden Literaturzeitschrift "Wilder Weizen"! Sie heiratet den rundlichen, alleinstehenden, mehr als dreißig Jahre älteren Herrn. Sie mag ihn, aber sie liebt ihn nicht. Er ist ihr nützlich. Bei ihm kann sie ihre Gedichte publizieren. Und durch ihn und seinen Klub junger Künstler lernt sie Talente kennen, die später berühmt werden sollten: Sonja Hauberg, Halfdan Rasmussen, Ester Nagel, Erik Knudsen, Piet Hein.
Mit Letzterem hat sie eine Affäre, sie trennt sich von Viggo F. und heiratet den Studenten Ebbe, mit dem sie eine Tochter hat. Ein zweites Kind will sie nicht, sie lässt es abtreiben, sie ist erleichtert und schuldbeladen. Ein junger Arzt injiziert ihr das Schmerzmittel Pethidin, von dem sie jahrelang abhängig wird. Er heißt Carl Ryberg, er wird ihr dritter Ehemann. Sie braucht ihn, er verschafft ihr die Seligkeit, den nötigen Abstand zum Alltag. Erst der Journalist Victor Andreasen kann sie zumindest zeitweise retten. Er wird ihr vierter Ehemann.
Irgendwo heißt es einmal sehr richtig: "Vielleicht bist du selbst kompliziert, und deshalb ist es dein Leben auch." Je nach Lage und Laune ist sie zielbewusst und von Selbstzweifeln geplagt, naiv und stolz. Manchmal ist sie von ungewöhnlicher Passivität, sie lässt die Dinge geschehen. Und kann sie eigentlich wirklich lieben - außer in ihren Gedichten? Gleichzeitig hat sie eine starke Menschenkenntnis und kühle Beobachtungsgabe, und konventionellen Tabuvorstellungen gegenüber ist sie furchtlos. Die innere Angst ist trotzdem immer da. Ditlevsen ist so erstaunlich, weil ihre Texte eine künstlerische Festigkeit haben, obwohl ihre Gefühlswelt so unstet und schwankend ist. Aber ist es nicht das, was uns fasziniert? Diese Mischung aus Tristesse, entwaffnender Naivität, Stolz und Zielstrebigkeit? Die "sonderbaren Spiele ihres Herzens", wie es in ihrem berühmten Gedicht "Warnung" heißt, haben sie ihr Leben lang begleitet. 1967 in "Kindheit", neun Jahre vor ihrem Selbstmord, schreibt sie: "Nur der Tod kann einen davon erlösen."
Auf dem den drei Büchern beigelegten Lesezeichen steht ein Spruch, der so selbstverständlich ist, dass er nichtssagend wird: "Frauen erzählen Geschichten anders." Man kann von jedem Menschen exakt dasselbe sagen. Was ist gemeint? Natürlich, wir können Tove Ditlevsen lesen, weil sie eine Frau ist. Wir können auch Knausgård lesen, weil er ein Mann ist. Männer erzählen Geschichten anders. Wir sehen schon, man verrennt sich hier. Nennen wir lieber einen echten Grund, warum wir Tove Ditlevsen lesen können. Es ist die unergründliche Ambivalenz ihrer Persönlichkeit, die ihre Erinnerungen so spannend macht.
PETER URBAN-HALLE
Tove Ditlevsen: "Kindheit".
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 120 S., geb., 18,- [Euro].
Tove Ditlevsen: "Jugend".
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 154 S., geb., 18,- [Euro].
Tove Ditlevsen: "Abhängigkeit".
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Am Morgen war die Hoffnung da. Sie saß als flüchtiger Schimmer im glatten, schwarzen Haar meiner Mutter ... und lag mir auf der Zunge wie der Zucker im lauwarmen Haferbrei ... während ich ihre schmalen, gefalteten Hände betrachtete ..." Ausgerechnet der Anfang hat so gar nicht die Schlankheit und Natürlichkeit, für die Tove Ditlevsens Schreibweise sonst gelobt wird. Der drohende Kitsch setzt sich gottlob nicht fort. Ihr Stil ist überwiegend einfach, persönlich und unaffektiert. Die einleitenden Sätze zeigen den Willen der Autorin (die "Kindheit" und "Jugend" im Alter von etwa fünfzig geschrieben hat, "Abhängigkeit" knapp fünf Jahre später), ihr Leben, wie sie es in dieser "Trilogie" beschreibt und wie man es aus anderen Büchern wie "Wilhelms Zimmer" (deutsch 1981) kennt, mit Hilfe teils "zuckriger", teils religiöser Bilder in ein Kunstwerk zu verwandeln und dadurch auf Distanz zu halten.
"Kindheit" handelt von Toves geistigen Überlebensstrategien im engen Milieu des Kopenhagener Arbeiterbezirks Vesterbro der zwanziger Jahre und ihrem ambivalenten Verhältnis zu den grundverschiedenen Eltern. Der Vater ist überzeugter Sozialdemokrat und fleißiger Leser, aber er und seine Tochter finden keinen Zugang zueinander. Die Beziehung zur Mutter ist verbohrt. Das Mädchen will geliebt werden. Aber die Mutter hasst das Lesen: "Was in Büchern steht, ist gelogen." Wenn die erwachsene Autorin an sie zurückdenkt, dann mit "Zorn, Trauer, Mitleid".
Mit zielstrebiger Energie geht die junge Tove ihren Weg als Autorin. Schon als Mädchen will sie nur eins, nämlich schreiben. Aber auch veröffentlichen. Mit vierzehn wagt sie sich mit ihrem Poesiealbum voller Gedichte zu einer Zeitung. Als der Redakteur sie abweist, ist sie am Boden zerstört. Irgendwann lernt sie den Antiquar Krogh kennen, von dem sie sich verstanden fühlt. Ausgerechnet bei ihm, der von lauter Büchern, also Fiktionen, umgeben ist, kommt ihr das Leben "wirklich" vor. Zur Wirklichkeit gehört aber auch noch etwas anderes, was sie von Krogh lernt: dass Menschen einander nützlich sein können. Die Lehre nimmt sie gerne an: "Mir wird immer stärker bewusst, dass ich zu nichts anderem tauge ..., als Worte aneinanderzureihen ... Um das zu können, muss ich die Menschen ... beobachten, in etwa so, als würde ich sie für den späteren Gebrauch in einem Archiv ablegen."
Die soziale und politische Wirklichkeit - Dänemark unter der Regierung des Sozialdemokraten Stauning, die deutsche Besetzung 1940, das Kriegsende - kommt nur am Rande vor. Wenn die Historie eine Rolle spielt, dann in Verbindung mit persönlicher Betroffenheit wie nach dem tragischen Unfalltod des jungen Lyrikers Morten Nielsen. Tove Ditlevsen ist unpolitisch: "Die Wirklichkeit hat mich noch nie interessiert", sagt sie in ihrer "Trilogie", die doch nichts anderes als die Wirklichkeit schildern soll. Aber sie unterscheidet zwischen "Wahrheiten des Herzens" und "grauen Tatsachen". Ihre Wirklichkeit ist seelisch. Sie sucht auch nicht das politische Engagement, sondern geht eher freudianisch vor - obwohl sie "nicht einmal weiß, wer dieser Freud ist". Ängste und Angewohnheiten haben ihren Ursprung in der Kindheit. Diese kann man nicht abschütteln, "sie hängt an einem wie ein Geruch".
An den Grenzen zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsensein kommt sie ihrem Inneren am nächsten. An diesen Übergängen sind auch Angst und Einsamkeit am größten, zwei Gefühle, die sie zeitlebens begleiten. Das unterscheidet ihre Erinnerungen von herkömmlichen Autobiographien, die verfasst werden, weil man von der eigenen Wichtigkeit überzeugt ist. Tove Ditlevsen aber schreibt, weil sie wissen will, wer sie ist - ähnlich wie heute der Norweger Knausgård. Aber im Gegensatz zu diesem, der sich in reflexiven Passagen immer wieder vom Ich löst, bleibt das Ich bei Ditlevsen stets Bezugs- und Ausgangspunkt.
1939, am Ende von "Jugend", debütiert sie mit dem Gedichtband "Mädchenseele". Dessen Bilder sind konventionell, Reime und Rhythmus traditionell, die Empfindungen aber echt und ehrlich. Die Gedichte sind auch sentimental, aber nicht kitschig, weil sie nicht falsch sind, sie sind ergreifend, nicht rührselig. Der Kritiker Poul Borum schrieb später: "Sie bringt einen dazu, Sentimentalität als natürliches menschliches Gefühl zu akzeptieren."
Ihr Leben ist voller Widersprüche. Sie hasst Veränderungen, sehnt sich "wie alle jungen Mädchen nach einem Zuhause und einem Mann und Kindern" und will einfach "normal" sein. Gleichzeitig weiß sie natürlich, dass sie eben nicht normal ist und es eigentlich auch nicht sein will. Welche Erleichterung, als sie mit achtzehn Jahren Viggo F. Møller kennenlernt, den Herausgeber der führenden Literaturzeitschrift "Wilder Weizen"! Sie heiratet den rundlichen, alleinstehenden, mehr als dreißig Jahre älteren Herrn. Sie mag ihn, aber sie liebt ihn nicht. Er ist ihr nützlich. Bei ihm kann sie ihre Gedichte publizieren. Und durch ihn und seinen Klub junger Künstler lernt sie Talente kennen, die später berühmt werden sollten: Sonja Hauberg, Halfdan Rasmussen, Ester Nagel, Erik Knudsen, Piet Hein.
Mit Letzterem hat sie eine Affäre, sie trennt sich von Viggo F. und heiratet den Studenten Ebbe, mit dem sie eine Tochter hat. Ein zweites Kind will sie nicht, sie lässt es abtreiben, sie ist erleichtert und schuldbeladen. Ein junger Arzt injiziert ihr das Schmerzmittel Pethidin, von dem sie jahrelang abhängig wird. Er heißt Carl Ryberg, er wird ihr dritter Ehemann. Sie braucht ihn, er verschafft ihr die Seligkeit, den nötigen Abstand zum Alltag. Erst der Journalist Victor Andreasen kann sie zumindest zeitweise retten. Er wird ihr vierter Ehemann.
Irgendwo heißt es einmal sehr richtig: "Vielleicht bist du selbst kompliziert, und deshalb ist es dein Leben auch." Je nach Lage und Laune ist sie zielbewusst und von Selbstzweifeln geplagt, naiv und stolz. Manchmal ist sie von ungewöhnlicher Passivität, sie lässt die Dinge geschehen. Und kann sie eigentlich wirklich lieben - außer in ihren Gedichten? Gleichzeitig hat sie eine starke Menschenkenntnis und kühle Beobachtungsgabe, und konventionellen Tabuvorstellungen gegenüber ist sie furchtlos. Die innere Angst ist trotzdem immer da. Ditlevsen ist so erstaunlich, weil ihre Texte eine künstlerische Festigkeit haben, obwohl ihre Gefühlswelt so unstet und schwankend ist. Aber ist es nicht das, was uns fasziniert? Diese Mischung aus Tristesse, entwaffnender Naivität, Stolz und Zielstrebigkeit? Die "sonderbaren Spiele ihres Herzens", wie es in ihrem berühmten Gedicht "Warnung" heißt, haben sie ihr Leben lang begleitet. 1967 in "Kindheit", neun Jahre vor ihrem Selbstmord, schreibt sie: "Nur der Tod kann einen davon erlösen."
Auf dem den drei Büchern beigelegten Lesezeichen steht ein Spruch, der so selbstverständlich ist, dass er nichtssagend wird: "Frauen erzählen Geschichten anders." Man kann von jedem Menschen exakt dasselbe sagen. Was ist gemeint? Natürlich, wir können Tove Ditlevsen lesen, weil sie eine Frau ist. Wir können auch Knausgård lesen, weil er ein Mann ist. Männer erzählen Geschichten anders. Wir sehen schon, man verrennt sich hier. Nennen wir lieber einen echten Grund, warum wir Tove Ditlevsen lesen können. Es ist die unergründliche Ambivalenz ihrer Persönlichkeit, die ihre Erinnerungen so spannend macht.
PETER URBAN-HALLE
Tove Ditlevsen: "Kindheit".
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 120 S., geb., 18,- [Euro].
Tove Ditlevsen: "Jugend".
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 154 S., geb., 18,- [Euro].
Tove Ditlevsen: "Abhängigkeit".
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag, Berlin 2021. 176 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Dabei ist es nicht nur die unprätentiöse Schonungslosigkeit, mit der Ditlevsen ihre eigenen Untiefen ausleuchtet, die die Trilogie so besonders macht, sondern vor allem die sprachliche Präzision, mit der sie das tut.« SOPHIE WENNERSCHEID Süddeutsche Zeitung 20210116
Gebundenes Buch
Nicht weinerlich, reflektiert und dazu sprachgewaltig
Tove Ditlevsen hat mit der Kopenhagen Trilogie – Kindheit – Jugend – Abhängigkeit ihr eigenes Leben niedergeschrieben, wobei die Trilogie keinen Anspruch erhebt ein biografisches Abbild ihres Lebens zu zeichnen. Im ersten …
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Nicht weinerlich, reflektiert und dazu sprachgewaltig
Tove Ditlevsen hat mit der Kopenhagen Trilogie – Kindheit – Jugend – Abhängigkeit ihr eigenes Leben niedergeschrieben, wobei die Trilogie keinen Anspruch erhebt ein biografisches Abbild ihres Lebens zu zeichnen. Im ersten Band KINDHEIT lernen wir Tove als kleines Mädchen kennen, ihre freud- und glücklose Kindheit scheint ihr doch trotz einer sehr egoistischen und nichtliebenden Mutter mit harten Umständen besser in Erinnerung zu sein als wir es uns heute vorstellen mögen. Sicher ist das Buch aus der Retroperspektive geschrieben und sind Erinnerungsstücke, die aneinandergereiht mit vielen emotionalen Einsätzen ihr Innen- und Außenleben wiederspiegelt. „“Ich weiß, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat, so, wie jedes Kind seine eigene Kindheit hat.“ (S.19)
Mich hat zum einen diese bitterarme Arbeiterkindheit in den 20er Jahren Dänemarks berührt, aber was mich viel viel stärker beeindruckt hat, ist die Stärke mit der Tove Ditlevsen sprachgewaltig ihre Seelenbibliothek (wie sie es selbst im Buch großartig nennt!) zum Leben erweckt! „Die Zeit verging, und die Kindheit wurde dünn und platt wie Papier“ (S. 73).
Der Band ist in der Tat mit etwas mehr als 100 Seiten extrem schmal, aber literarisch unfassbar reich. Hier könnten sich so manche Autoren das „auf-den-Punkt-bringen“ ein wenig abschauen. Nein, hier kann man nichts abschauen, Tove Ditlevsen hat einen so eigenen und überragenden Stil, aus meiner Sicht unkopierbar.
Besonderen dank gilt auch der sehr guten Übersetzung von Ursel Allenstein, die auch das Nachwort verfasste. Ohnehin, wer Tove Ditlevsen nicht kennt, und dazu zählte auch ich vor diesem Buch, sollte vielleicht sogar mit dem Nachwort beginnen. Hier bekommt man ein Gefühl für die Einordnung der Autorin in ihre Zeit und in die dänische Literaturlandschaft.
Wunderbar, dass der Aufbau-Verlag sich diesem Werk noch einmal angenommen hat und uns mit diesem literarischen Feuerwerk beglückt!
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Gebundenes Buch
Bewegender Auftakt
"Kindheit" ist der erste Teil der Trilogie von der Autorin Tove Ditlevsen.
Ich habe es an einem Abend gelesen und konnte es nicht aus der Hand legen.
Die Geschichte ist autobiografisch und beschreibt das Leben und Aufwachsen der Autorin.
Es hat mich sehr …
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Bewegender Auftakt
"Kindheit" ist der erste Teil der Trilogie von der Autorin Tove Ditlevsen.
Ich habe es an einem Abend gelesen und konnte es nicht aus der Hand legen.
Die Geschichte ist autobiografisch und beschreibt das Leben und Aufwachsen der Autorin.
Es hat mich sehr berührt. Gerade da ich selbst Mama bin, wollte ich sie so oft einfach in den Arm nehmen und trösten. Die Worte, die sie nutzt sind eindringlich und ziehen einen in den Bann.
Ich werde auf jeden Fall schnell die anderen beiden Bände lesen uns Tove auf dem weiteren Weg begleiten.
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Gebundenes Buch
Autobiografische Erinnerungen, eindrücklich erzählt
„Irgendwann möchte ich all die Wörter aufschreiben, die mich durchströmen. Irgendwann werden andere Menschen sie in einem Buch lesen und sich darüber wundern, dass ein Mädchen doch Dichter werden …
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Autobiografische Erinnerungen, eindrücklich erzählt
„Irgendwann möchte ich all die Wörter aufschreiben, die mich durchströmen. Irgendwann werden andere Menschen sie in einem Buch lesen und sich darüber wundern, dass ein Mädchen doch Dichter werden konnte.“ (Zitat Pos. 287)
Inhalt
In diesem ersten Teil der Kopenhagen-Trilogie schildert die Autorin Tove Ditlevsen ihre Kindheit in Vesterbro, einem Vorstadtviertel von Kopenhagen. Tove wächst in einer kleinen Wohnung in einem Hinterhaus in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Der Vater wird arbeitslos und verfällt in Schweigen, doch er vermittelt Tove schon früh die Liebe zu Büchern. Die Mutter zieht den älteren Bruder Edvin vor und hat kein Verständnis für Tove, die unbedingt Schriftstellerin werden will.
Thema und Genre
In ihren autobiografischen Erinnerungen schildert die dänischen Autorin ihre Kindheit, das Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie im Kopenhagen der 1920er Jahre, ihr Anders-sein, ihre Ängste, aber auch die unterschiedlichsten Bewohner in dem Umfeld der Istedgade.
Charaktere
Die nachdenkliche Tove ist eine Außenseiterin. Schon vor der Einschulung kann sie lesen, schreibt bald erste Gedichte und auch alltägliche Eindrücke formen sich in ihren Gedanken sofort zu einer Fülle von Wörtern. Ihre Freundin Ruth dagegen ist aufgeweckt, frech und zeigt Tove die Stadt der Erwachsenen.
Handlung und Schreibstil
Ehrlich und offen schreibt die Autorin über das problematische Verhältnis zu ihrer Mutter, die den Bruder Edvin der verträumten, unsicheren Tove vorzieht, die ärmlichen Verhältnisse im Arbeitermilieu der 1920er Jahre. Tove ist eine genaue Beobachterin und versucht, die Welt der Erwachsenen zu verstehen. Daraus ergibt sich eine berührende Mischung zwischen den Ängsten und Konflikten des Heranwachsens und humorvollen Erlebnissen und Eindrücken. Ihre Liebe zu Büchern teilt sie mit ihrem Vater, doch ihre Träume, Schriftstellerin zu werden, behält sie für sich, nachdem auch ihr Vater ihr erklärt hat, dass ein Mädchen kein Dichter werden kann.
Fazit
In ihrer präzisen, klaren Sprache führt uns die Autorin in die Stadt Kopenhagen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und schildert beeindruckend das Leben von Frauen und Kindern der Arbeiterklasse.
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Gebundenes Buch
Die meisten Kinder können es kaum erwarten, erwachsen zu sein, doch bei Tove Ditlevsen war das anders, wie wir in diesem ersten Teil der Triologie erfahren. Obwohl die Kindheit für sie „schmal wie ein Sarg“ und alles andere als glücklich ist, möchte sie das Ende so …
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Die meisten Kinder können es kaum erwarten, erwachsen zu sein, doch bei Tove Ditlevsen war das anders, wie wir in diesem ersten Teil der Triologie erfahren. Obwohl die Kindheit für sie „schmal wie ein Sarg“ und alles andere als glücklich ist, möchte sie das Ende so lang wie möglich hinauszögern. Die Welt der Erwachsenen ist für sie ein Mysterium.
Tove wächst in den 1920er Jahren als Tochter eines arbeitslosen Heizers und einer Hausfrau im Arbeiterviertel Vesterbro auf und liebt Bücher und die Lyrik. Als sie verkündet, dass sie Schriftstellerin werden will und von ihren Eltern nur Spott und Häme erntet, behält sie ihre Gefühle und Sehnsüchte von nun an für sich. Alles, was ihr im wahren Leben fehlt, malt sie sich in ihrer Fantasie aus, schreibt Gedichte darüber in ihr Poesiealbum und versucht damit, die fehlende Zuneigung ihrer Mutter und den Mangel an Freunden wettzumachen.
Selten habe ich erlebt, dass sich jemand so klug, intensiv und verstörend mit seiner Kindheit auseinandersetzt. Die autofiktionale Erzählweise erinnerte mich an Karl Ove Knausgård, doch während dieser gern weit ausholt, verdichtet Tove Ditlevsen ihre Erlebnisse. Was es bedeutet, in ärmlichen Verhältnissen aufzuwachsen, in seiner Begabung nicht gefördert zu werden und sich unverstanden zu fühlen, kleidet Tove Ditlevsen in poetische Sätze, die einen nicht mehr loslassen. Ich bin sehr gespannt, wie es im zweiten Teil "Jugend" weitergeht.
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Gebundenes Buch
„Kindheit” ist der erste Teil der „Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen, posthum rund 44 Jahre nach ihrem Selbstmord veröffentlicht. Es war mein erstes Buch der Autorin, aber sicher nicht mein letztes. Die Dichte, mit der sie schreibt, die Wortgewalt in ihren …
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„Kindheit” ist der erste Teil der „Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen, posthum rund 44 Jahre nach ihrem Selbstmord veröffentlicht. Es war mein erstes Buch der Autorin, aber sicher nicht mein letztes. Die Dichte, mit der sie schreibt, die Wortgewalt in ihren eigentlich schlichten Sätzen und natürlich die Geschichte an sich, hatten mich von der ersten Seite an gepackt.
Tove Ditlevsen schreibt die Geschichte ihrer Kindheit im Kopenhagen der 1920er Jahre auf und fängt innerhalb ihrer eigenen Biografie den Zeitgeist der Jahre zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg ein. Aufgewachsen ist sie als jüngeres von zwei Kindern in einer Arbeiterfamilie, der Vater war sozialistisch eingestellt, was der Mutter missfiel und oft zu Reibereien zwischen den Eltern führte. Als Mädchen hatte Tove (wie vermutlich die meisten Mädchen ihrer Zeit) nur eine Aussicht im Leben: gut zu heiraten. Daher melden sie die Eltern nach der Konfirmation (also mit knapp 14 Jahren) von der Mittelschule ab. Eine weitere Ausbildung war für sie, anders als für ihren Bruder, nicht vorgesehen. Dabei ist sie intelligent und lernwillig, liest gerne und schreibt schon in jungen Jahren ihre ersten Gedichte. Stattdessen verdingt sie sich zuerst einmal als Dienstmädchen. Der Traum, Dichterin zu werden, bleibt aber bestehen, auch wenn diesen in ihrem Umfeld keiner ernst nimmt.
Die Lektüre des Buchs bereitete mir aufgrund der Intensität und Authentizität fast körperliche Schmerzen. Nicht, dass der Vater seine Arbeit verliert und die Familie lange Zeit von altbackenen Gebäckstücken leben muss. Auch nicht, dass sie durch ihre Freundin Ruth beinahe auf die schiefe Bahn geraten wäre, da diese sie zu Ladendiebstahls-Touren mitnahm. Nein, die Unnahbarkeit der Mutter, ihr liebloser Umgang mit ihrer Tochter, Toves Unverstandenheit und ihr ständiges Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht zu genügen und „falsch zu sein“ machte mir enorm zu schaffen – selten habe ich mich einer Autorin so nah und verbunden gefühlt. Die toxische Mutter-Tochter-Beziehung zieht sich durch die gesamte Kindheit der Autorin, wobei sie die Schuld immer bei sich selbst sucht.
Das Buch endet mit ihrer Konfirmation, die auch das Ende ihrer Kindheit darstellt. Zu dieser Zeit endet auch ihre Freundschaft mit Ruth und Tove bricht in einen neuen Lebensabschnitt auf. Den kann man dann im zweiten Teil „Jugend“ nachlesen, der demnächst auch auf Deutsch erscheinen wird. Wenn man sich näher mit Tove Ditlevsens persönlicher und beruflicher Biografie beschäftigen möchte, halte ich die Bände der „Kopenhagen-Trilogie“ für einen unverzichtbaren Baustein für das Verständnis ihres Werkes.
Das Buch hat mich in mehrerlei Hinsicht beeindruckt. Ich habe es auch im Original gelesen und, obwohl ich sonst meistens Probleme mit Übersetzungen habe, muss ich sagen: hier hat die Übersetzerin ganz Hervorragendes geleistet. Die Sprache, der Ausdruck und der Duktus sind im Deutschen ebenso gut gelungen, wie im dänischen Original. Der Zeitgeist, das Lebensgefühl und die Ängste der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist beim Lesen spürbar, vor allem anhand der Rolle der Frauen in der Gesellschaft und die allgegenwärtige Arbeitslosigkeit, beziehungsweise die stetig präsente Angst davor. Für mich war das Buch ein echtes Highlight, klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.
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Das Buch Kindheit ist der erste Teil der „Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen. DIe Trilogie erscheint im Aufbau Verlag über 50 Jahre nach dem Selbstmord der Schriftstellerin. Mir war die Schriftstellerin bis dato nicht bekannt und dies ist mit Sicherheit nicht das einzige Buch …
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Das Buch Kindheit ist der erste Teil der „Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen. DIe Trilogie erscheint im Aufbau Verlag über 50 Jahre nach dem Selbstmord der Schriftstellerin. Mir war die Schriftstellerin bis dato nicht bekannt und dies ist mit Sicherheit nicht das einzige Buch was ich von ihr lesen werde.
Kopenhagen um 1920, Tove wächst in ärmlichen Verhältnissen mit einer unzurechenbaren Mutter, einen Bruder und einem Vater, der lange arbeitslos ist auf. Das Buch beginnt als Tove 5 Jahre alt ist und zeigt ein Mädchen, welches seine Umwelt genau beobachtet, sich tiefsinnige Gedanken macht und sich nicht der Welt zugehörig fühlt in die sie hineingeboren wurde. Selber bringt sich vor Schuleintritt lesen und schreiben bei, was allerdings in der Schule nicht gesehen wird.
Anders als für ihren Bruder ist für sie keine höhere Schuldbilung vorgesehen-nach der Konfirmation wird sie abgemeldet, obwohl die Lehrerin eine Gymnasiallösung vorschägt. Das Geld kann die Familie nicht aufbringen und Mädchen sollen laut ihrem Verständnis besser "gut" heiraten.
Das Buch hat mich in jeglicher Hinsicht begeistert: Die sprachliche Dichte, die in diesem Buch vorhanden ist, sucht seinesgleichen.
Alleine der Satz: „Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man in den Keller eingesperrt und vergessen hat“ sagt ganz viel über die Stärke der Sprache aus, sie ist dermassen dicht, das ich mich als Leserin manchmal ein wenig erdrückt fühlte.
Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und werde die beiden Folge Bände auf jeden Fall auch noch lesen. Zurecht wird Tove Ditlevsen in Dänemark als Ikone des Schreibens genannt.
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Gebundenes Buch
Tove wächst im Kopenhagen der 1920er Jahre in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Vater ist arbeitslos, weshalb das Geld immer knapp ist und die Familie sehen muss, wie sie halbwegs über die Runden kommt. Schon früh merkt das Mädchen, dass sie irgendwie nicht in das Milieu …
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Tove wächst im Kopenhagen der 1920er Jahre in ärmlichen Verhältnissen auf. Der Vater ist arbeitslos, weshalb das Geld immer knapp ist und die Familie sehen muss, wie sie halbwegs über die Runden kommt. Schon früh merkt das Mädchen, dass sie irgendwie nicht in das Milieu passt, in das geboren wurde. Sie interessiert sich für Bücher und vor allem die Poesie hat es ihr angetan. Heimlich schreibt sie Gedichte und träumt davon, irgendwann einmal ihre Gedanken gedruckt zu sehen. Doch dies ist nicht sehr wahrscheinlich in einem von Gewalt und dem täglichen Kampf ums Überleben geprägten Umfeld. Ihre Kindheit, das weiß sie, ist klar begrenzt: bis zur Konfirmation und dem Abschluss der Sekundarschule, doch irgendwie lebt sie nicht jene glückliche Zeit, von der die Erwachsenen rückblickend immer berichten.
„Irgendwann möchte ich all die Wörter aufschreiben, die mich durchströmen. Irgendwann werden andere Menschen die in einem Buch lesen und sich darüber wundern, dass ein Mädchen doch Dichter werden konnte.“
„Kindheit“ ist der erste Band der Kopenhagener-Trilogie Tove Ditlevsens, einer der heute wichtigsten dänischen Autorinnen. Er entstand bereits 1967, im Aufbau Verlag erscheint nun die gesamte Reihe der Autorin, die sich mit nur 58 Jahren das Leben nahm und schon zu Lebzeiten eine Ikone vieler Frauen wurde. Sie beschreibt ihren Weg vom Arbeiterkind, das nicht einmal eine Zahnbürste hatte, bis hin zur Autorin. Im ersten Teil lernen wir das aufgeweckte Mädchen kennen, das zwar noch naiv nicht alles versteht, aber mit genauem Blick die Welt um sich bereits erfassen kann.
Dass Tove anders ist als die anderen Mädchen, zeigt sich früh. Schon vor der Einschulung kann sie lesen und schreiben. Mit dem Wechsel auf die Sekundarschule hat sei endlich auch Zugang zu einer Bibliothek, ein wahrer Traum all diese Bücher an einem Ort zu sehen, doch die altersgemäßen Werke langweilen sie, sie will das lesen, was für die Erwachsenen geschrieben wurde, denn nur dort findet sie auch die Sprache, die sie so begeistert.
„Alles, was ich tue, dient dazu, ihr zu gefallen, sie zum Lächeln zu bringen, ihren Zorn abzuwenden. Das ist eine mühsame Arbeit, weil ich gleichzeitig so viele Dinge vor ihr verbergen muss.“
Das Verhältnis zur Mutter ist schwierig, diese versteht sie nicht und kann nicht nachvollziehen, weshalb ihr Mädchen so seltsam und anders ist als die anderen. Sie gleicht viel mehr dem Vater, der ebenfalls liest und in der Literatur die Flucht aus dem tristen Alltag findet. Nichtsdestotrotz belächelt er den Wunsch des Kindes, einmal Schriftstellerin zu werden, für eine Frau zur damaligen Zeit schlichtweg unvorstellbar.
Das Leben auf engstem Raum mit den Nachbarn bietet keine Privatsphäre, jeder Streit, jede Affäre wird nicht nur von allen beäugt, sondern auch kommentiert. Schon früh werden Kinder mit Dingen konfrontiert, die eigentlich für ihre Augen und Ohren nicht bestimmt sind, aber das Konzept Kindheit hat ohnehin keinen Platz in dieser Welt der Entbehrungen, in der Lebenswege vorgezeichnet sind und Glücklichsein nur im Traum vorkommt.
Der kurze Auftakt der Biografie besticht nicht nur durch das schonungslose Offenlegen erbärmlicher Lebensumstände, sondern vor allem durch die Sprachversiertheit der Autorin, die die richtige Stimme für das Mädchen findet und ihre bedrückende Kindheit so eindrücklich schildert.
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Wahrscheinlich ist es falsch, dieses Leben aus der heutigen Sicht zu betrachten und die Verschwendung eines solchen Talents zu beklagen. Wer sich für die Macht des Schreibens interessiert, wird hier an einigen Stellen fündig. Möglicherweise führen diese zum Erfolg der Bände, …
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Wahrscheinlich ist es falsch, dieses Leben aus der heutigen Sicht zu betrachten und die Verschwendung eines solchen Talents zu beklagen. Wer sich für die Macht des Schreibens interessiert, wird hier an einigen Stellen fündig. Möglicherweise führen diese zum Erfolg der Bände, die mittlerweile in 16 Sprachen vorliegen.
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