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YukBook
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München

Bewertungen

Insgesamt 272 Bewertungen
Bewertung vom 09.09.2024
Den Wind in den Haaren
Abbs, Annabel

Den Wind in den Haaren


ausgezeichnet

Einige der Frauen, die die Autorin vorstellt, sind weltbekannt, z.B. Simone de Beauvoir, Daphne du Maurier oder Georgia O‘Keeffe. Weniger bekannt ist, in welchem Maße das Wandern ihr Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit erfüllt hat. Diese Leidenschaft teilten sie mit Frieda Lawrence, Gwen John, Clara Vyvyan und Nan Shepherd, die wir ebenfalls näher kennenlernen. Annabel Abbs hat ihre Tagebücher, Briefe und Memoiren studiert und sich nicht nur geistig, sondern auch körperlich auf ihre Spuren begeben.

In jedem Porträt kann man gut nachvollziehen, was die Frauen dazu bewegt hat, meilenweit häufig in einsamen Gegenden zu marschieren, wieviel Mut es sie gekostet hat, alles hinter sich zu lassen und wie das Wandern ihr Leben verändert hat. Die Autorin stellt sowohl das beglückende Freiheitsgefühl in der Natur und die Bedeutung des Alleinseins als auch die Gefahren, körperlichen Qualen und Ängste heraus. Ich war oft froh, die Abenteuer bequem auf der Couch erleben zu dürfen.

Indem Annabel Abbs einige Strecken selbst erwandert, zum Beispiel wie Clara Vyvyan die Rhône entlang oder wie Georgia O‘Keeffe durch die texanische Prärie und von ihren Erlebnissen und Empfindungen berichtet, fühlt man sich den wandernden Frauen sehr nahe und taucht tief in die jeweilige Landschaft hinein. Dass sie dabei viel Persönliches preisgibt und einen Bezug zu ihrem eigenen Neuanfang herstellt, macht das Buch besonders lesenswert.

Bewertung vom 01.09.2024
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

„Paradise Garden“ – so heißt ein großer Eisbecher, den die Ich-Erzählerin mit ihrer Mutter im Café Venezia isst. Der Name könnte auch für die innige Beziehung zwischen den beiden und ihre Lebensfreude stehen, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Sie leben in prekären Verhältnissen und wissen dennoch mit Fantasie ihren Alltag zu meistern und die kleinen Freuden zu genießen. Dass das Glück nicht lange andauert, erfahren wir gleich zu Beginn, denn die Mutter stirbt, und für Billie bricht eine Welt zusammen.

Wie die 14-Jährige gegen die Pläne ihrer ungarischen Großmutter rebelliert und sich allein auf die Suche nach ihrem unbekannten Vater macht, wird mitreißend erzählt und von Lena Urzendowsky authentisch gelesen. Ich habe Billie sofort ins Herz geschlossen. Während ihres Roadtrips an die Nordsee wird sie immer wieder an bestimmte Erlebnisse mit ihrer Mutter erinnert. Was hätte ihre Mutter in dieser Situation gesagt oder getan? So blicken wir direkt in Billies Gedanken- und Gefühlswelt, erleben viele tragikomische Momente und bekommen zugleich ein immer klareres Bild ihrer Mutter. So wie sich Billie als angehende Schriftstellerin Notizen macht, möchte man als Leser viele wunderbare Sätze aufschreiben. Auch das Ende gefiel mir sehr gut und machte es mir schwer, mich von der Heldin zu verabschieden.

Bewertung vom 16.08.2024
Oben in den Wäldern
Mason, Daniel

Oben in den Wäldern


sehr gut

Der Roman erstreckt sich über drei Jahrhunderte und hat zahlreiche Protagonisten. Zu den wichtigsten zählt der Schauplatz: ein kleines gelbes Haus in den Wäldern von Massachusetts.

So vielfältig wie die Bewohner, die wir der Reihe nach kennenlernen, sind auch Erzählform und Genre. In Geschichten, Briefen, Gedichten oder Berichten tauchen wir in den besonderen Ort ein, an dem ein ehemaliger Soldat und Witwer eine außergewöhnliche Apfelsorte züchtet und ein Landschaftsmaler pathetische Liebesbriefe an einen Dichterfreund verfasst. Der Autor beherrscht Nature Writing vom Feinsten – man kann die Fauna und Flora mit allen Sinnen spüren. Übersinnliches und Kriminelles mit einem Schuss Gruselfaktor gesellen sich dazu. Gekonnt passt David Mason seinen Sprachstil der jeweiligen Zeit und dem Thema an.

Am meisten hat mich die Beziehung zwischen den Zwillingsschwestern Alice und Mary fasziniert, die die Apfelplantage ihres Vaters übernehmen und ihr ganzes Leben dort verbringen. Raffiniert konstruierte Zusammenhänge tun sich auf. Es ist jedoch vor allem der Schauplatz, der die Geschichten zusammenhält und uns den Kreislauf des Lebens vor Augen führt.

Bewertung vom 13.07.2024
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Stanisic, Sasa

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne


ausgezeichnet

In diesem Buch gab es für mich ein Wiedersehen mit Figuren aus seinem früheren Erzählband „Fallensteller“. Damals hatte ich mich noch etwas schwer getan mit dem sehr eigenen Erzählstil des Autors. Diesmal war ich gleich mittendrin in den Geschichten, die sich um ganz unterschiedliche Menschen drehen.

In der ersten Erzählung hängen vier Jugendliche mit Migrationshintergrund in den Weinbergen ab und malen sich aus, wie praktisch ein Proberaum wäre, bevor man einen bestimmten Weg in die Zukunft einschlägt. Welche Lebensoptionen verpasse ich? Diese Frage zieht sich auch durch die folgenden Geschichten. Aus scheinbar banalen Tätigkeiten wie dem Entsorgen eines Memory-Spiels oder dem Putzen eines Heizkörpers mit einer Ziegenhaarbürste entwickeln sich philosophische Gedanken über die eigene Herkunft, Freiheit, Selbstbestimmung und das menschliche Dasein.

An Fantasie und originellen Einfällen mangelt es Saša Stanišić wahrlich nicht, sei es bei spielerischen Wortkreationen, literarischen Bezügen oder der Vermischung von Realität und Fiktion. Ich hatte sehr viel Freude an diesen scharfsinnigen und teils humorvoll, teils melancholischen Geschichten, die sich zu einem Ganzen fügen.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.07.2024
Am Tag, bevor der Frühling kam
Cornelsen, Ella

Am Tag, bevor der Frühling kam


sehr gut

Gerade wenn man glaubt, das eigene Leben sei festgefahren, erlebt man so manche Überraschung. So ergeht es der Ich-Erzählerin Ellinor. Ihre Ehe ist gescheitert, ihr siebzehnjähriger Sohn entfremdet sich immer mehr von ihr, und – wie viele andere in ihrem Alter – fragt sich die 58-Jährige, was sie von ihrem Leben noch erwarten kann.

Für die Pastorin stehen Beerdigungen auf der Tagesordnung. Durch den ständigen Umgang mit Trauernden und dem Tod ist ihr Bewusstsein, dass das Leben endlich ist, umso stärker ausgeprägt. Plötzlich wird sie mit zwei einschneidenden Ereignissen konfrontiert: Eines stellt einen Neuanfang in Aussicht, das andere zwingt sie zum Loslassen. Ellinors Hoffnung, eine vergangene Liebe neu aufleben zu lassen, ihre enge Beziehung zu der Nachbarin Els sowie ihr Bemühen, sich ihrem Sohn wieder anzunähern, beschreibt Ella Cornelsen zart und behutsam. Es ist ein Buch der leisen Töne, das in sehr schöner Sprache Weggabelungen im Leben aufzeigt und mit wenigen Worten Atmosphäre und Gefühle erzeugt.

Bewertung vom 06.07.2024
Der Schacherzähler
Pinnow, Judith

Der Schacherzähler


ausgezeichnet

Es ist schon lange her, dass mir ein Buch die Tränen in die Augen trieb wie bei diesem Roman. Hier treffen drei Generationen aufeinander: der neunjährige Janne, der von seiner Lehrerin gepiesackt wird, Malu, die als alleinerziehende Mutter obendrein noch um ihren Job in einem Café bangen muss, und der einsame Oldman, den der Tod seiner Frau und Schuldgefühle quälen.

Wie der aufgeweckte Janne von Oldman nicht nur das Schachspiel, sondern auch Lebensweisheiten lernt, ihn aus der Reserve lockt und sich mit ihm anfreundet, wird so charmant erzählt, dass ich ähnlich wie die beiden ihrer nächsten Verabredung entgegenfieberte. Währenddessen versuchen Malu und ihr Chef Hinnerk die drohende Schließung des Cafés zu verhindern. Es ist nicht nur ein beliebiger Coffee Shop in Bad Altbach, sondern eine wichtige Anlaufstelle für die Dorfgemeinschaft.

Die Autorin wechselt leichtfüßig zwischen den Perspektiven der Haupt- und Nebenfiguren, die alle ihr Päckchen zu tragen haben, wobei mir Jannes überbordende Fantasie und Oldmans Erinnerungen an die glückliche Zeit mit seiner verstorbenen Frau besonders gefielen. Es ist eine herzerwärmende Geschichte über Freundschaft, Zusammenhalt und die Fähigkeit, Fehler und Unvollkommenheit in seinem Leben zuzulassen.

Bewertung vom 26.06.2024
MAAME
George, Jessica

MAAME


ausgezeichnet

„Maame“ ist ein Spitzname, den die Protagonistin nicht gerne hört. Der Begriff steht für „Frau“, „Verantwortliche“, und die 25-jährige Maddie wurde von ihren Eltern viel zu früh in diese Rolle hineingedrängt. Ihre Mutter lebt in Ghana, drängt sie ständig dazu, einen passenden Ehemann zu finden und überlässt ihr die Pflege des an Parkinson erkrankten Vaters. Auch ihr Bruder James entzieht sich jeder Verantwortung und ist ihr keine Hilfe.

Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die lernt, zur Abwechslung ihre eigenen Bedürfnisse vor die der anderen zu stellen und sich neu erfindet. Die Erfahrungen, die sie erstmals in einer WG, bei ihren ersten Dates und in ihrer Arbeitsstelle sammelt, erlebt man – auch durch ihre direkte Ansprache - hautnah mit, so als ob eine Freundin uns über ihren turbulenten Alltag auf dem Laufenden hält. Verständlich, dass sie bei jeder neuen Herausforderung und Unsicherheit Google zu Rate zieht. Bei all der Tragikomik wusste ich oft nicht, ob ich weinen oder lachen soll und hätte ihr gern ein paar aufmunternde Worte zugerufen.

Es werden ernste Themen wie Einsamkeit, Care-Arbeit, Rassismus oder Trauerbewältigung angeschnitten, doch zum Glück nicht auf deprimierende Weise, denn dem setzt die Autorin einen erfrischenden Humor, wachsendes Selbstvertrauen der Heldin und die Kraft echter Freundschaft entgegen.

Bewertung vom 08.06.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Den letzten Sommer in ihrem Ferienhaus am Lake Christopher in North Carolina hat sich die Familie Starling, um die sich dieser Roman dreht, sicher anders vorgestellt. Statt all die Dinge, die sie an diesem Ort geliebt haben, ein letztes Mal zu durchleben, werden sie von einem schrecklichen Unfall auf dem See überrascht, der nicht nur ihr gemeinsames Wochenende überschattet, sondern ihr Lebenskonstrukt ins Wanken bringt.

In jedem Kapitel steht ein anderes Familienmitglied im Fokus – zum Beispiel Sohn Michael, der keinen Tag ohne Alkohol übersteht, sein Bruder Thad, der um Liebe und Anerkennung ringt oder sein Partner Jake, ein erfolgreicher, egozentrischer Künstler. Anhand der komplexen Charaktere, ihren Geheimnissen und falschen Erwartungen macht der Autor deutlich, was Menschen in ihrem Leben anstreben und wie und woran sie scheitern.

Mit welch literarischem Talent und psychologischer Tiefe David James Poissant das Menschliche und Zwischenmenschliche analysiert und mal komisch, mal spannungsreich die Entwicklung der einzelnen Figuren schildert, hat mich verblüfft und sehr beeindruckt.

Bewertung vom 05.06.2024
Unter Wasser ist es still
Dibbern, Julia

Unter Wasser ist es still


ausgezeichnet

Geschichten dieser Art wurden schon oft erzählt: Eine Frau reist in ihre Heimat, um ihr Elternhaus aufzulösen und zu verkaufen und wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Dieser Roman hat mich jedoch besonders berührt.

Eigentlich möchte die Hauptfigur Maira ihre Aufgabe in Soeterhoop so schnell wie möglich erledigen und wieder nach Frankfurt, wo sie als Restauratorin arbeitet, zurückkehren, doch so einfach ist es nicht. Erinnerungen an glückliche Tage mit ihren engsten Freunden, aber auch traumatische Erlebnisse mit ihrer kranken Mutter kommen wieder hoch. Welche Überwindung es sie kostet, nach 18 Jahren wieder ihr Haus zu betreten und sich der Ostseeküste, die ihr einst so viel bedeutet hat, zu nähern, beschreibt die Autorin sehr eindringlich und überzeugend.

Auch die Nebenfiguren sind vielschichtig angelegt und hauchen dem Schauplatz Leben ein. Mairas seelische Nöte und ihr Gefühl, andere hätten sich weiterentwickelt und ihr Leben weitergelebt, während sie selbst damit beschäftigt war, die Vergangenheit zu bewältigen, konnte ich gut nachfühlen. Sie wuchs mir immer mehr ans Herz. Die Geschichte hat für mich genau das richtige Tempo, ist trotz der emotionalen Achterbahn an keiner Stelle kitschig und bleibt durch eine ungeklärte Schuldfrage und schwierige Entscheidungsfindung bis zum Ende spannend.

Bewertung vom 01.06.2024
Marigold und Rose
Glück, Louise

Marigold und Rose


sehr gut

Wer sich fragt, was wohl in den Köpfen von Babies vorgeht, ist nach der Lektüre dieser Geschichte vielleicht etwas schlauer. Louise Glück lässt die titelgebenden Zwillingsmädchen abwechselnd aus ihrer jeweiligen Sicht erzählen, welche Erfahrungen sie in ihrem ersten Lebensjahr machen.

Marigold ähnelt eher ihrem Vater, ist nachdenklich, still und kann es kaum erwarten, Wörter zu lernen und ein Buch zu schreiben. Rose dagegen ist gesellig, extrovertiert und abenteuerlustig. Der Reiz liegt in dem Gegensatz zwischen ihren kindlichen Entwicklungsschritten und den existenziellen Fragen, die sie sich stellen. Während sie lernen zu krabbeln und zu sprechen, sinnieren sie über ihren gegensätzlichen Charakter, die mysteriöse Welt der Erwachsenen, die ihnen trotz ihres Alters noch sehr unwissend erscheinen, und ihre eigenen Gefühle.

Die Vorstellung, dass ein Baby, das noch keine Wörter beherrscht, bereits an die Schriftstellerei denkt, brachte mich zum Schmunzeln und machte mich auch nachdenklich. Der Versuch, die Welt zu verstehen, scheint bei Marigold den Drang auszulösen, sich schriftlich damit auseinanderzusetzen. Was vermutlich auf alle, aber besonders auf Säuglinge zutrifft, ist wohl die Tatsache, dass man erst etwas vermisst, wenn es nicht mehr da ist. Die stetige Erweiterung von Kenntnissen und Fähigkeiten geht einher mit Verlusterfahrungen – dies war für mich eine der vielen Weisheiten, die uns Louise Glück in dieser ungewöhnlichen Erzählung vermittelt.