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Im Frühjahr 1960 wird der Großvater des Erzählers am Moskauer Flughafen verhaftet und bald darauf hingerichtet. Der Vorwurf: Devisenschmuggel. Aber nur jemand aus der eigenen Familie kann den Schwarzhändler und gütigen Patriarchen Schmil Grigorewitsch verraten haben. War es einer seiner schönen Söhne? Die ehrgeizige Schwiegertochter? Oder war er selbst schuld? Die Frage, wer es gewesen sein könnte, wird zum Gerücht und Geheimnis, das von Generation zu Generation weiterlebt - in Maxim Billers eigener Familie. Sein Roman »Sechs Koffer« erzählt davon - literarisch virtuos, spannend wi...
Im Frühjahr 1960 wird der Großvater des Erzählers am Moskauer Flughafen verhaftet und bald darauf hingerichtet. Der Vorwurf: Devisenschmuggel. Aber nur jemand aus der eigenen Familie kann den Schwarzhändler und gütigen Patriarchen Schmil Grigorewitsch verraten haben. War es einer seiner schönen Söhne? Die ehrgeizige Schwiegertochter? Oder war er selbst schuld? Die Frage, wer es gewesen sein könnte, wird zum Gerücht und Geheimnis, das von Generation zu Generation weiterlebt - in Maxim Billers eigener Familie. Sein Roman »Sechs Koffer« erzählt davon - literarisch virtuos, spannend wie ein Krimi und mit der Intensität eines psychologischen Familiendramas.»Wie hütet man ein Familiengeheimnis? Indem man es allen erzählt. Maxim Biller ist mit diesem Buch ein wahres Kunststück gelungen.« Durs Grünbein»Dieser Roman ist ein kunstvoll geschliffener Edelstein. Immer wieder blitzt eine andere Facette auf, bricht ein anderer Schein hervor, eine neue geschliffene Seite. Eine Epoche ist darin eingeschlossen, die Härte einer Zeit, so rätselhaft klar.«Robert Menasse
Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Er ist Autor der Romane 'Esra' und 'Die Tochter', der Erzählbände 'Liebe heute', 'Bernsteintage', 'Land der Väter und Verräter' und 'Wenn ich einmal reich und tot bin', der Essaybände 'Die Tempojahre' und 'Deutschbuch' sowie des autobiographischen Bands 'Der gebrauchte Jude'; darüber hinaus schreibt er Theaterstücke ('Kanalratten') und Kolumnen. Zuletzt erschienen seine Novelle 'Im Kopf von Bruno Schulz', sein monumentaler Roman 'Biografie', der Roman 'Sechs Koffer', der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, der Erzählband 'Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten' sowie der Roman 'Der falsche Gruß'.
Produktdetails
- Fischer Taschenbücher 70016
- Verlag: BoD - Books on Demand / FISCHER Taschenbuch / S. Fischer Verlag
- Artikelnr. des Verlages: 1024519
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 196
- Erscheinungstermin: 29. Juli 2020
- Deutsch
- Abmessung: 190mm x 125mm x 14mm
- Gewicht: 230g
- ISBN-13: 9783596700165
- ISBN-10: 3596700167
- Artikelnr.: 57954688
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Verhüllt in einer Wehmutswolke
An die Figuren lässt das Buch uns nicht heran: Maxim Billers Roman "Sechs Koffer"
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Rezensent das Stroh eines Anfängers zum Gold einer literarischen Entdeckung spinnt. Das Gold rauscht eine Buchmesse lang. Das Strohfeuer wärmt Autor und Verlag. Keiner kommt zu Schaden. Es ist etwas anderes und sehr Unangenehmes, im goldenen Glanz eines bekannten, vielgepriesenen Autors altes Stroh laut knistern zu hören.
Aber auch Maxim Billers neuer Roman "Sechs Koffer" wird viel gepriesen: Von "großer Kunst" wurde in der Schweiz geraunt, von einer jüdischen Variante der "Buddenbrooks" in Deutschland. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen
An die Figuren lässt das Buch uns nicht heran: Maxim Billers Roman "Sechs Koffer"
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Rezensent das Stroh eines Anfängers zum Gold einer literarischen Entdeckung spinnt. Das Gold rauscht eine Buchmesse lang. Das Strohfeuer wärmt Autor und Verlag. Keiner kommt zu Schaden. Es ist etwas anderes und sehr Unangenehmes, im goldenen Glanz eines bekannten, vielgepriesenen Autors altes Stroh laut knistern zu hören.
Aber auch Maxim Billers neuer Roman "Sechs Koffer" wird viel gepriesen: Von "großer Kunst" wurde in der Schweiz geraunt, von einer jüdischen Variante der "Buddenbrooks" in Deutschland. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen
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Buchpreises. Biller hat unerwartet einen zärtlichen, fast kuscheligen jüdischen Schelmen- und Familienroman vorgelegt, wie es ihn so in deutscher Sprache noch nie gab. Für Vergleichbares müsste man schon auf die jiddische Literatur zurückgreifen. Dort sind Billers Figuren etwa in Familienromanen wie "Die Familie Karnovski", "Die Familie Moskat" oder die "Brüder Aschkenasi" der Brüder Singer vorgebildet, allerdings mit größerer Plastizität und beunruhigendem emotionalen Tiefgang.
Die Zärtlichkeit, die Billers Roman durchzieht, gibt es auch in Pinhas Kahanowitschs "Die Brüder Maschber" (1935/1948), dem größten jiddischen Roman überhaupt. Aber dort schneidet sie Lesern ins Herz, weil sie dem Verfall und der Tragik der Individuen unmittelbar ausgesetzt sind. Billers Zärtlichkeit hingegen verhüllt seine Figuren in einer Wehmutswolke, hinter der man sie nur unscharf wahrnimmt, so als wollte der Autor gar nicht, dass deutsche Leser sie miterleben oder bedauern. Er führt sie uns vor, aber lässt uns nicht an sie heran.
Um es klarer und härter zu sagen: Billers Figuren sind Schablonen. Die fatalste ist die zentrale, doch nie selbst in Erscheinung tretende Gestalt des Taten (jiddisch für "Vater") "mit seinem kleinen, scharfen Galiziergesicht". "Euer kleiner, kluger, unglaublich harter Tate in seinem furchtlosen Schtetlrussisch", sagt seine Schwiegertochter Natalia, "hatte ja bis zum Schluss diesen leichten Akzent . . . jedenfalls konnte er das ,r' nicht richtig aussprechen", ein bekanntes russisches Stereotyp, und konstatiert: "Wie kann ein so kluger Mensch von Geld so besessen sein wie er?" Das übertrug er auf die Seinen: "Ihr seid doch alle in der Familie davon besessen, Geld zu verdienen, Geld zu wechseln, Geld zu verstecken", und so fort. Der Tate repräsentiert das älteste antijüdische Klischee überhaupt. Um ihn kreist der Roman.
Wegen "schwarzer Geschäfte und anderer jüdischer Tricksereien" wird der Tate 1960 in Moskau verhaftet und hingerichtet. Die Frage ist, wer ihn verraten hat. Er hat vier Söhne und zwei Schwiegertöchter; es kann jeder von ihnen gewesen sein. Hier glänzt der Roman. Nicht nur kombiniert Biller die episodische Struktur des Schelmenromans mit der chronologischen Struktur des Familienromans, er kombiniert auch auktoriale und Ich-Erzählung, so dass etwa im Eröffnungskapitel der Ich-Erzähler als er selbst allwissend aus der persönlichen Perspektive seines Vaters über einen Tag in Prag im Mai 1965 erzählt, an dem der Ich-Erzähler erst sechs Jahre alt war. An diesem Tag wird der jüngste der vier Brüder aus einem Prager Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe für versuchte Landesflucht mit Devisenschmuggel verbüßte.
Im ständigen Perspektivwechsel dreht sich der Roman nun um die Frage, wer den Tod des Taten verschuldete. Aus fünf verschiedenen Blickwinkeln wird der Hergang rekonstruiert. Das löst in Lesern genau jene Verunsicherung aus, die in der Wirklichkeit faschistischer Regime bestand, in denen keiner die ganze Wahrheit kannte und jeder jedem alles zutraute. Die fundamentale Verunsicherung des Lesers, der sich im barocken Gewirr von widersprüchlichen Informationen bald nicht mehr auskennt, ist sehr gut inszeniert. Clever ist auch Billers Spiel mit den vier Söhnen, die sowohl die vier Söhne aus der Haggadah (Erzählung vom Auszug aus Ägypten) als auch die vier Brüder Karamasow auf den Plan rufen. Billers vielfältige literarische Anspielungen machen Spaß. Man wünschte, sie wären tragende Elemente des Textes.
Das wirkliche Problem des Romans ist die zu einfache, stereotype Sprache. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass man die Figuren nur als Klischees wahrnimmt. Es ist hier nur Platz, um eine sprachliche Manie darzustellen, nämlich die klotzige Reihung einfachster Adjektive, in die sich immer eine Wertung einschleicht: "ihre hässlichen, grauen, sackartigen Mäntel", "böser, linker, bärtiger Deutschlehrer", "blauschwarze, schlecht rasierte, volle Wange", "unverschämte, freche, osteuropäische Art", "erstaunlich große, gedrungene, mittelalterliche Häuser", "böser, verklemmter Antisemitenblick", "tiefe, schwere, elegante, dunkelrote Vorkriegssessel", "klares, einfaches, intelligentes Gesicht", "unfreundliches, kleines Osteuropäergesicht", "ihre helldunklen, eingefallenen Vorkriegsgesichter", "hübscher, groß gewachsener und ziemlich unsympathischer Sohn", "große, helle aber auch leicht vernachlässigte, majestätische Gründerzeithaus" und so fort.
Dann ist da noch eine "unfreundliche und ziemliche alte Moderatorin". Als "böse Vogelscheuche" hat sie "schadenfroh ihr deutsches Vogelscheuchen-Gesicht verzogen". Und sollte eine "merkwürdig gehemmte" und "schüchterne deutsche Radio-Moderatorin" fragen, "wer denn nun wirklich schuld am Tod des Taten" war, so würde eine der Antworten sein, "dass es sie als Deutsche überhaupt nichts anging". Die Rezensentin ist dafür, dieses Angebot anzunehmen und das Buch zu ignorieren, zumal deutsches Lob für einen Roman, in dessen Zentrum ein geldversessener Jude steht, für Maxim Biller ein gefundenes Fressen wäre.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 198 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Zärtlichkeit, die Billers Roman durchzieht, gibt es auch in Pinhas Kahanowitschs "Die Brüder Maschber" (1935/1948), dem größten jiddischen Roman überhaupt. Aber dort schneidet sie Lesern ins Herz, weil sie dem Verfall und der Tragik der Individuen unmittelbar ausgesetzt sind. Billers Zärtlichkeit hingegen verhüllt seine Figuren in einer Wehmutswolke, hinter der man sie nur unscharf wahrnimmt, so als wollte der Autor gar nicht, dass deutsche Leser sie miterleben oder bedauern. Er führt sie uns vor, aber lässt uns nicht an sie heran.
Um es klarer und härter zu sagen: Billers Figuren sind Schablonen. Die fatalste ist die zentrale, doch nie selbst in Erscheinung tretende Gestalt des Taten (jiddisch für "Vater") "mit seinem kleinen, scharfen Galiziergesicht". "Euer kleiner, kluger, unglaublich harter Tate in seinem furchtlosen Schtetlrussisch", sagt seine Schwiegertochter Natalia, "hatte ja bis zum Schluss diesen leichten Akzent . . . jedenfalls konnte er das ,r' nicht richtig aussprechen", ein bekanntes russisches Stereotyp, und konstatiert: "Wie kann ein so kluger Mensch von Geld so besessen sein wie er?" Das übertrug er auf die Seinen: "Ihr seid doch alle in der Familie davon besessen, Geld zu verdienen, Geld zu wechseln, Geld zu verstecken", und so fort. Der Tate repräsentiert das älteste antijüdische Klischee überhaupt. Um ihn kreist der Roman.
Wegen "schwarzer Geschäfte und anderer jüdischer Tricksereien" wird der Tate 1960 in Moskau verhaftet und hingerichtet. Die Frage ist, wer ihn verraten hat. Er hat vier Söhne und zwei Schwiegertöchter; es kann jeder von ihnen gewesen sein. Hier glänzt der Roman. Nicht nur kombiniert Biller die episodische Struktur des Schelmenromans mit der chronologischen Struktur des Familienromans, er kombiniert auch auktoriale und Ich-Erzählung, so dass etwa im Eröffnungskapitel der Ich-Erzähler als er selbst allwissend aus der persönlichen Perspektive seines Vaters über einen Tag in Prag im Mai 1965 erzählt, an dem der Ich-Erzähler erst sechs Jahre alt war. An diesem Tag wird der jüngste der vier Brüder aus einem Prager Gefängnis entlassen, wo er eine Strafe für versuchte Landesflucht mit Devisenschmuggel verbüßte.
Im ständigen Perspektivwechsel dreht sich der Roman nun um die Frage, wer den Tod des Taten verschuldete. Aus fünf verschiedenen Blickwinkeln wird der Hergang rekonstruiert. Das löst in Lesern genau jene Verunsicherung aus, die in der Wirklichkeit faschistischer Regime bestand, in denen keiner die ganze Wahrheit kannte und jeder jedem alles zutraute. Die fundamentale Verunsicherung des Lesers, der sich im barocken Gewirr von widersprüchlichen Informationen bald nicht mehr auskennt, ist sehr gut inszeniert. Clever ist auch Billers Spiel mit den vier Söhnen, die sowohl die vier Söhne aus der Haggadah (Erzählung vom Auszug aus Ägypten) als auch die vier Brüder Karamasow auf den Plan rufen. Billers vielfältige literarische Anspielungen machen Spaß. Man wünschte, sie wären tragende Elemente des Textes.
Das wirkliche Problem des Romans ist die zu einfache, stereotype Sprache. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass man die Figuren nur als Klischees wahrnimmt. Es ist hier nur Platz, um eine sprachliche Manie darzustellen, nämlich die klotzige Reihung einfachster Adjektive, in die sich immer eine Wertung einschleicht: "ihre hässlichen, grauen, sackartigen Mäntel", "böser, linker, bärtiger Deutschlehrer", "blauschwarze, schlecht rasierte, volle Wange", "unverschämte, freche, osteuropäische Art", "erstaunlich große, gedrungene, mittelalterliche Häuser", "böser, verklemmter Antisemitenblick", "tiefe, schwere, elegante, dunkelrote Vorkriegssessel", "klares, einfaches, intelligentes Gesicht", "unfreundliches, kleines Osteuropäergesicht", "ihre helldunklen, eingefallenen Vorkriegsgesichter", "hübscher, groß gewachsener und ziemlich unsympathischer Sohn", "große, helle aber auch leicht vernachlässigte, majestätische Gründerzeithaus" und so fort.
Dann ist da noch eine "unfreundliche und ziemliche alte Moderatorin". Als "böse Vogelscheuche" hat sie "schadenfroh ihr deutsches Vogelscheuchen-Gesicht verzogen". Und sollte eine "merkwürdig gehemmte" und "schüchterne deutsche Radio-Moderatorin" fragen, "wer denn nun wirklich schuld am Tod des Taten" war, so würde eine der Antworten sein, "dass es sie als Deutsche überhaupt nichts anging". Die Rezensentin ist dafür, dieses Angebot anzunehmen und das Buch zu ignorieren, zumal deutsches Lob für einen Roman, in dessen Zentrum ein geldversessener Jude steht, für Maxim Biller ein gefundenes Fressen wäre.
SUSANNE KLINGENSTEIN.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 198 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Cornelia Geißler scheint Maxim Billers neues Buch zu mögen. Vor allem, wie der Autor Wahrheit und Zweifel mischt, sodass der Leser beides gleich überzeugend findet, ohne aber das Geheimnis hinter der erzählten Familiengeschichte zu erfahren, hat ihr gefallen. Warum musste der Großvater sterben? Wer hat ihn in den sechziger Jahren in Moskau an den KGB verraten? Auch die schiere Dichte des Erzählten, Flucht, familiärer Neid, Verwandtschaft und Liebe, findet Geißler staunenswert. Kunstvoll erscheint ihr des Weiteren Billers schachtelartiges Wechseln der mannigfachen Perspektiven, für die der Autor laut Rezensentin immer den richtigen Ton findet, mal pathetisch, mal melancholisch, aber immer intensiv.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Große Literatur« David Baum stern 20180809
Wie sich das Leben anfühlt
Über Maxim Billers neuen Roman "Sechs Koffer".
Von Clemens J. Setz
Manchmal reden die Leute über Maxim Biller, als hätten sie ihn erfunden. Das ist mir schon damals aufgefallen, als sein Roman "Biografie" erschien. Den erhielt ich eines Tages unerwartet in der Post und schlich einige Wochen unsicher um dieses dicke Buch herum, bevor ich es anfing. Das Lesegefühl konnte ich dann nur durch ungeschickte Vergleiche ausdrücken, "wie Cecil Taylor in der Badewanne" und Ähnliches, so ein prächtiger, strahlender Irrsinn war dieses Werk. Die deutsche Kritik gab sich "gespalten", whatever. Und alle redeten über den Autor, als wäre er ihre Figur. Der sei so, aber leider nicht so, er erlebe
Über Maxim Billers neuen Roman "Sechs Koffer".
Von Clemens J. Setz
Manchmal reden die Leute über Maxim Biller, als hätten sie ihn erfunden. Das ist mir schon damals aufgefallen, als sein Roman "Biografie" erschien. Den erhielt ich eines Tages unerwartet in der Post und schlich einige Wochen unsicher um dieses dicke Buch herum, bevor ich es anfing. Das Lesegefühl konnte ich dann nur durch ungeschickte Vergleiche ausdrücken, "wie Cecil Taylor in der Badewanne" und Ähnliches, so ein prächtiger, strahlender Irrsinn war dieses Werk. Die deutsche Kritik gab sich "gespalten", whatever. Und alle redeten über den Autor, als wäre er ihre Figur. Der sei so, aber leider nicht so, er erlebe
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dies und dann das und habe diese und jene Rolle für uns inne.
Und nun ist ein neues Buch von ihm erschienen, das sich, zumindest in der Zusammenfassung, um Billers eigene Familiengeschichte dreht, genauer, um die Frage nach der Schuld von deren Mitgliedern an der Ermordung seines Großvaters durch den KGB in Moskau im Jahr 1960. Alle kommen einmal dran mit Verdächtigtwerden, der Vater, die Mutter, die Tante, die drei Onkel. Die ganze Familie bewegt sich zueinander wie in Sirup, nichts ist unverkrampft ansprechbar, alles ständig vollgesogen von dunkler und komplizierter Vergangenheit. Man sitzt exilschwer in verschiedenen Städten, verbirgt sich voreinander, ahnt Dunkles, schreibt einander Briefe und antwortet immer wieder auf Fragen des jungen Ich-Erzählers, dass man "darüber nicht sprechen" wolle oder dass der Junge "das nicht verstehen" könne. Natürlich züchtet man so nur Detektive.
Und genau in dieser zweifelhaften Rolle erleben wir den Jungen gleich von Anfang an. Er konfrontiert seinen Vater etwa mit der Frage, weshalb denn der Onkel Dima damals ins Gefängnis habe gehen müssen, habe der etwa den Großvater ermordet? Aber schon hier fällt etwas auf: die Erzählperspektive. Sie ist äußerst eigenartig, ja lässt überhaupt kein flüssiges Lesen zu. Der Junge sagt zwar dauernd "ich", aber die Innensicht liegt gar nicht bei ihm selbst, sondern bei anderen Figuren, mal bei der Mutter, beim Vater, bei einem seiner Onkel, dann kurz auch bei ihm selbst und ganz zuletzt bei seiner Schwester Jelena. Das heißt, wir erfahren etwa die von der Erzählstimme berichteten Gedanken und Gefühle des Vaters, während er sich mit dem Jungen unterhält. Wer in den Kopf einer Figur schauen kann, der kennt auch ihre Gedanken. Aber gerade das ist das Verrückte, das Teuflische dieser Anfangskapitel: Wir hören zwar die Gedanken, aber die Fragen auf die Geheimnisse werden nicht beantwortet. Und so findet sich der Leser in der Situation wieder, zugleich zu wissen, was diese Figuren empfinden, wahrnehmen und denken, aber dennoch aus ihren Köpfen keine relevanten Antworten zu erhalten.
Und das alles in ruhigem präzisem Erzählton.
Der Junge sieht sogar an einigen Stellen "sich selbst" durch die Augen anderer, etwa wenn er schläft: "Sie betrachtete kurz wütend mein kleines, strenges, vielleicht etwas zu jüdisches Gesicht und wunderte sich, dass sie es in der Dunkelheit so gut sah."
In jedem Schreibworkshop wäre diese paradoxe Perspektive heftig kritisiert worden. Darum sind Schreibworkshops ja auch so gefährlich.
Denn in Wahrheit vermittelt dieser Perspektivensprung eine maßvolle Menschenkenntnis, eine gütige und kühlstirnige Weisheit. Überhaupt ist das ein bemerkenswert weiser Roman, vor allem in seinen nebensächlichen Details. Er verzichtet zum Beispiel ganz auf das, womit viele Autoren meinen, auf das Extreme des Lebens an sich reagieren zu müssen: extreme Figuren.
Die einzige extreme Figur ist die Vergangenheit. Sie büschelt uns entgegen, sie lauert in Mappen, in Briefen, in Gesprächen, in beim Badeurlaub aufgeschnappten Details. Nur widerwillig nimmt der Erzähler, inzwischen zum Mann herangewachsen, ihr wiederholtes Erscheinen zur Kenntnis. Einmal wird ihm eine ganze Wagenladung von Antworten in Form zweier seitenlanger Briefe geliefert, die seine Tante Natalia an seinen Vater Semjon schrieb. Lange Briefe in Romanen sind meist ein ähnliches erzähltechnisches Problem wie das unvermutet "wiederentdeckte Tagebuch". Denn dass alte Tagebücher und Briefe verwertbare Informationsquellen abgeben, ist ein bedauerliches Hirngespinst realistischer Literatur. In Wirklichkeit stehen in alten Briefen immer nur unverständliche und rätselhafte Anspielungen auf irgendwas. Die Vergangenheit spricht die meiste Zeit zu uns wie - man verzeihe mir den Angebervergleich - der Wittgensteinsche Löwe, über den gesagt wird, dass wir ihn, könnte er sprechen, dennoch nicht verstehen würden; seine Referenzrahmen wären zu weit entfernt, zu außerirdisch für unsere Gehirne.
Biller verwendet sogar explizit einige Schreibworkshop-Todsünden in diesen Briefen: "Den Rest der Geschichte kennst du", sagt die Verfasserin, oder "Wie du bestimmt noch weißt" und so weiter, diese ganzen Formeln, die nur für den Leser gedacht sind, aber die doch kein realer Briefeschreiber jemals verwenden würde. Normalerweise lege ich so ziemlich jedes Buch, in dem nach mehr als der Hälfte ein umfangreiches Tagebuch oder ein Brief aufgefunden wird, in welchem lange Antworten auf tiefe Fragen stehen, sofort in mein Aquarium. Da gehört so Zeug hin, da kann es sich auflösen.
Aber "Sechs Koffer" landete nicht im Aquarium. Ich bin zwar, wie gesagt, im dritten Teil, wo die zwei Briefe von Natalia allerhand neue Informationen in die komplizierte Familienvergangenheit bringen (noch dazu in einem viel zu sehr an Billers eigenen präzisen Erzählstil erinnernden Stil), etwas aus dem Roman gekippt, aber, dachte ich mir dann, was, wenn einer tatsächlich seit Jahrzehnten in so einer Familie existiert, in der allen Ernstes solche Briefe geschrieben werden? Was, wenn das alles zwar eindeutig für die Zwecke romanhafter Mitteilbarkeit erfunden, aber eben nicht im geringsten erlogen ist?
"Und plötzlich war mir das alles egal", sagt der Erzähler. Immer wieder verpufft von einer Sekunde auf die nächste seine eigene Entflammbarkeit für die Geheimnisse der Vergangenheit. Er empfindet großen Ekel vor ihrer Zudringlichkeit und der Rolle, in die er durch sie gedrängt wird, und es waren gerade diese Stellen, die mich an diesem Roman am meisten fasziniert haben. Denn sie wirken wie Meldungen eines geistigen Immunsystems, über das gerade in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur äußerst selten und wenn, dann nur äußerst inkompetent, berichtet wird: der konsequenten Abkehr vom Glauben, man sei durch und durch ein Produkt, ein Opfer, eine Folge familiär-geschichtlicher Druckverhältnisse. "Und dann, angewidert und beschämt, machte ich - obwohl ich noch immer nicht alles durchgesehen hatte - Dimas harte, traurige, graue Geheimmappe wieder zu."
An einer Stelle trifft der Junge in Zürich seinen Onkel Lev, zu dem er, bis auf ein verstocktes und folgenloses Telefonat, nie gesprochen hat und den auch der Rest der Familie zu meiden scheint (wofür natürlich niemand einen vernünftigen Grund auszusprechen vermag), zufällig auf der Straße, später steht er vor dessen Haus und blickt hinauf. Und dann, schon gegen Ende des Romans, wird ein Kapitel aus der Sicht dieses unbekannten Lev erzählt. Und was macht Biller? Er lässt den alten Mann bereuen, damals auf seinen Neffen nicht reagiert zu haben: "Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er sich hinterher für seine Kaltherzigkeit geschämt hatte, und zwar so sehr, dass er, als er mich auf der Limmatbrücke erkannte, hektisch weitergegangen und fast gegen die Fußgängerampel gelaufen war". Was für ein gütiger, freundlicher Zug. Es erinnert mich sogar, obwohl der Vergleich etwas absurd ist, an das Wort des Jesuitengründers Ignatius von Loyola, die Aufgabe des guten Christen sei es, "das Wort seines Nächsten zu retten". In gewisser Weise wird auch etwas gerettet. Es wird für uns ins Menschliche, ins Nachvollziehbare gezogen. Vielleicht empfand der Onkel Lev wie wir, wie ich, sagt der Roman. Vielleicht sind es alle am Ende gute Menschen.
Einige wenige Teile des Buches sind mir zu karg und freudlos erzählt, mit wenig Magie. Da werden Sachverhalte dargestellt, Probleme mitgeteilt und festgehalten, mögliche Gründe für vergangenes Verhalten aufgelistet. Man spürt nicht auf jeder Seite den großen Rückenwind epischer Dichtkunst. Aber der humane Akt, sich bei Wahrung der eigenen Identität die intime Innensicht aller Nahverwandten zu erlauben, ihnen Seelenschärfe und Verstehbarkeit zu unterstellen, aber ihnen zugleich ihre, wenn man so sagen will, gottgegebene Unbetretbarkeit nicht wegzunehmen, hatte eine unwiderstehliche Wirkung auf mich - vor allem im berührenden und zarten letzten Kapitel, das ich, da man das Buch selbst lesen muss, nur kurz seiner Wirkung, aber weniger seinem Inhalt nach beschreiben werde.
Es ist aus der Sicht der Schwester erzählt, die im Roman wie auch im wahren Leben Journalistin ist und in Großbritannien lebt. In ihrem Beispiel gespiegelt sehen wir den Erzähler am Ende selbst an seinem Schreibtisch und begreifen, dass es sehr wohl einen dritten Weg gibt neben dem gewissenhaft detektivischen Rekonstruieren der Wahrheit einerseits und dem peinlich paralysierten Nichtwissenwollen andererseits, nämlich das (leider klingt das sehr nach Rezensionsdeutsch:) Aufspannen eines Erzählraumes, in dem all die Widersprüche eben nicht mehr die Rolle haben, die sie etwa vor Gericht, in Sachbüchern oder in mittelguten Kriminalromanen hätten. Sie bilden nicht das Unkraut, sondern den Nährbereich des Lebens.
Ja, in diesem letzten Kapitel, in diesem Achsensprung zur Perspektive der Schwester und dem dadurch unerhört sanft über sich selbst zu Gericht sitzenden Erzähler, ist Biller das gelungen, was es selten zu lesen gibt: eine Darstellung des Lebens, wie es sich wirklich anfühlt.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten, 19 Euro
Clemens J. Setz ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm "Bot: Gespräch ohne Autor" im Suhrkamp-Verlag.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und nun ist ein neues Buch von ihm erschienen, das sich, zumindest in der Zusammenfassung, um Billers eigene Familiengeschichte dreht, genauer, um die Frage nach der Schuld von deren Mitgliedern an der Ermordung seines Großvaters durch den KGB in Moskau im Jahr 1960. Alle kommen einmal dran mit Verdächtigtwerden, der Vater, die Mutter, die Tante, die drei Onkel. Die ganze Familie bewegt sich zueinander wie in Sirup, nichts ist unverkrampft ansprechbar, alles ständig vollgesogen von dunkler und komplizierter Vergangenheit. Man sitzt exilschwer in verschiedenen Städten, verbirgt sich voreinander, ahnt Dunkles, schreibt einander Briefe und antwortet immer wieder auf Fragen des jungen Ich-Erzählers, dass man "darüber nicht sprechen" wolle oder dass der Junge "das nicht verstehen" könne. Natürlich züchtet man so nur Detektive.
Und genau in dieser zweifelhaften Rolle erleben wir den Jungen gleich von Anfang an. Er konfrontiert seinen Vater etwa mit der Frage, weshalb denn der Onkel Dima damals ins Gefängnis habe gehen müssen, habe der etwa den Großvater ermordet? Aber schon hier fällt etwas auf: die Erzählperspektive. Sie ist äußerst eigenartig, ja lässt überhaupt kein flüssiges Lesen zu. Der Junge sagt zwar dauernd "ich", aber die Innensicht liegt gar nicht bei ihm selbst, sondern bei anderen Figuren, mal bei der Mutter, beim Vater, bei einem seiner Onkel, dann kurz auch bei ihm selbst und ganz zuletzt bei seiner Schwester Jelena. Das heißt, wir erfahren etwa die von der Erzählstimme berichteten Gedanken und Gefühle des Vaters, während er sich mit dem Jungen unterhält. Wer in den Kopf einer Figur schauen kann, der kennt auch ihre Gedanken. Aber gerade das ist das Verrückte, das Teuflische dieser Anfangskapitel: Wir hören zwar die Gedanken, aber die Fragen auf die Geheimnisse werden nicht beantwortet. Und so findet sich der Leser in der Situation wieder, zugleich zu wissen, was diese Figuren empfinden, wahrnehmen und denken, aber dennoch aus ihren Köpfen keine relevanten Antworten zu erhalten.
Und das alles in ruhigem präzisem Erzählton.
Der Junge sieht sogar an einigen Stellen "sich selbst" durch die Augen anderer, etwa wenn er schläft: "Sie betrachtete kurz wütend mein kleines, strenges, vielleicht etwas zu jüdisches Gesicht und wunderte sich, dass sie es in der Dunkelheit so gut sah."
In jedem Schreibworkshop wäre diese paradoxe Perspektive heftig kritisiert worden. Darum sind Schreibworkshops ja auch so gefährlich.
Denn in Wahrheit vermittelt dieser Perspektivensprung eine maßvolle Menschenkenntnis, eine gütige und kühlstirnige Weisheit. Überhaupt ist das ein bemerkenswert weiser Roman, vor allem in seinen nebensächlichen Details. Er verzichtet zum Beispiel ganz auf das, womit viele Autoren meinen, auf das Extreme des Lebens an sich reagieren zu müssen: extreme Figuren.
Die einzige extreme Figur ist die Vergangenheit. Sie büschelt uns entgegen, sie lauert in Mappen, in Briefen, in Gesprächen, in beim Badeurlaub aufgeschnappten Details. Nur widerwillig nimmt der Erzähler, inzwischen zum Mann herangewachsen, ihr wiederholtes Erscheinen zur Kenntnis. Einmal wird ihm eine ganze Wagenladung von Antworten in Form zweier seitenlanger Briefe geliefert, die seine Tante Natalia an seinen Vater Semjon schrieb. Lange Briefe in Romanen sind meist ein ähnliches erzähltechnisches Problem wie das unvermutet "wiederentdeckte Tagebuch". Denn dass alte Tagebücher und Briefe verwertbare Informationsquellen abgeben, ist ein bedauerliches Hirngespinst realistischer Literatur. In Wirklichkeit stehen in alten Briefen immer nur unverständliche und rätselhafte Anspielungen auf irgendwas. Die Vergangenheit spricht die meiste Zeit zu uns wie - man verzeihe mir den Angebervergleich - der Wittgensteinsche Löwe, über den gesagt wird, dass wir ihn, könnte er sprechen, dennoch nicht verstehen würden; seine Referenzrahmen wären zu weit entfernt, zu außerirdisch für unsere Gehirne.
Biller verwendet sogar explizit einige Schreibworkshop-Todsünden in diesen Briefen: "Den Rest der Geschichte kennst du", sagt die Verfasserin, oder "Wie du bestimmt noch weißt" und so weiter, diese ganzen Formeln, die nur für den Leser gedacht sind, aber die doch kein realer Briefeschreiber jemals verwenden würde. Normalerweise lege ich so ziemlich jedes Buch, in dem nach mehr als der Hälfte ein umfangreiches Tagebuch oder ein Brief aufgefunden wird, in welchem lange Antworten auf tiefe Fragen stehen, sofort in mein Aquarium. Da gehört so Zeug hin, da kann es sich auflösen.
Aber "Sechs Koffer" landete nicht im Aquarium. Ich bin zwar, wie gesagt, im dritten Teil, wo die zwei Briefe von Natalia allerhand neue Informationen in die komplizierte Familienvergangenheit bringen (noch dazu in einem viel zu sehr an Billers eigenen präzisen Erzählstil erinnernden Stil), etwas aus dem Roman gekippt, aber, dachte ich mir dann, was, wenn einer tatsächlich seit Jahrzehnten in so einer Familie existiert, in der allen Ernstes solche Briefe geschrieben werden? Was, wenn das alles zwar eindeutig für die Zwecke romanhafter Mitteilbarkeit erfunden, aber eben nicht im geringsten erlogen ist?
"Und plötzlich war mir das alles egal", sagt der Erzähler. Immer wieder verpufft von einer Sekunde auf die nächste seine eigene Entflammbarkeit für die Geheimnisse der Vergangenheit. Er empfindet großen Ekel vor ihrer Zudringlichkeit und der Rolle, in die er durch sie gedrängt wird, und es waren gerade diese Stellen, die mich an diesem Roman am meisten fasziniert haben. Denn sie wirken wie Meldungen eines geistigen Immunsystems, über das gerade in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur äußerst selten und wenn, dann nur äußerst inkompetent, berichtet wird: der konsequenten Abkehr vom Glauben, man sei durch und durch ein Produkt, ein Opfer, eine Folge familiär-geschichtlicher Druckverhältnisse. "Und dann, angewidert und beschämt, machte ich - obwohl ich noch immer nicht alles durchgesehen hatte - Dimas harte, traurige, graue Geheimmappe wieder zu."
An einer Stelle trifft der Junge in Zürich seinen Onkel Lev, zu dem er, bis auf ein verstocktes und folgenloses Telefonat, nie gesprochen hat und den auch der Rest der Familie zu meiden scheint (wofür natürlich niemand einen vernünftigen Grund auszusprechen vermag), zufällig auf der Straße, später steht er vor dessen Haus und blickt hinauf. Und dann, schon gegen Ende des Romans, wird ein Kapitel aus der Sicht dieses unbekannten Lev erzählt. Und was macht Biller? Er lässt den alten Mann bereuen, damals auf seinen Neffen nicht reagiert zu haben: "Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er sich hinterher für seine Kaltherzigkeit geschämt hatte, und zwar so sehr, dass er, als er mich auf der Limmatbrücke erkannte, hektisch weitergegangen und fast gegen die Fußgängerampel gelaufen war". Was für ein gütiger, freundlicher Zug. Es erinnert mich sogar, obwohl der Vergleich etwas absurd ist, an das Wort des Jesuitengründers Ignatius von Loyola, die Aufgabe des guten Christen sei es, "das Wort seines Nächsten zu retten". In gewisser Weise wird auch etwas gerettet. Es wird für uns ins Menschliche, ins Nachvollziehbare gezogen. Vielleicht empfand der Onkel Lev wie wir, wie ich, sagt der Roman. Vielleicht sind es alle am Ende gute Menschen.
Einige wenige Teile des Buches sind mir zu karg und freudlos erzählt, mit wenig Magie. Da werden Sachverhalte dargestellt, Probleme mitgeteilt und festgehalten, mögliche Gründe für vergangenes Verhalten aufgelistet. Man spürt nicht auf jeder Seite den großen Rückenwind epischer Dichtkunst. Aber der humane Akt, sich bei Wahrung der eigenen Identität die intime Innensicht aller Nahverwandten zu erlauben, ihnen Seelenschärfe und Verstehbarkeit zu unterstellen, aber ihnen zugleich ihre, wenn man so sagen will, gottgegebene Unbetretbarkeit nicht wegzunehmen, hatte eine unwiderstehliche Wirkung auf mich - vor allem im berührenden und zarten letzten Kapitel, das ich, da man das Buch selbst lesen muss, nur kurz seiner Wirkung, aber weniger seinem Inhalt nach beschreiben werde.
Es ist aus der Sicht der Schwester erzählt, die im Roman wie auch im wahren Leben Journalistin ist und in Großbritannien lebt. In ihrem Beispiel gespiegelt sehen wir den Erzähler am Ende selbst an seinem Schreibtisch und begreifen, dass es sehr wohl einen dritten Weg gibt neben dem gewissenhaft detektivischen Rekonstruieren der Wahrheit einerseits und dem peinlich paralysierten Nichtwissenwollen andererseits, nämlich das (leider klingt das sehr nach Rezensionsdeutsch:) Aufspannen eines Erzählraumes, in dem all die Widersprüche eben nicht mehr die Rolle haben, die sie etwa vor Gericht, in Sachbüchern oder in mittelguten Kriminalromanen hätten. Sie bilden nicht das Unkraut, sondern den Nährbereich des Lebens.
Ja, in diesem letzten Kapitel, in diesem Achsensprung zur Perspektive der Schwester und dem dadurch unerhört sanft über sich selbst zu Gericht sitzenden Erzähler, ist Biller das gelungen, was es selten zu lesen gibt: eine Darstellung des Lebens, wie es sich wirklich anfühlt.
Maxim Biller: "Sechs Koffer". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten, 19 Euro
Clemens J. Setz ist Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm "Bot: Gespräch ohne Autor" im Suhrkamp-Verlag.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Der Erzähler wächst auf mit einer Schwester, seinen Eltern, einem Bruder des Vaters, dessen Frau und deren Tochter. Ein weiterer Bruder des Vaters ist im Ausland. Der Großvater starb vor seiner Geburt. Der Erzähler ist mal im Vordergrund, mal im Hintergrund. Die Eltern mag er, …
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Der Erzähler wächst auf mit einer Schwester, seinen Eltern, einem Bruder des Vaters, dessen Frau und deren Tochter. Ein weiterer Bruder des Vaters ist im Ausland. Der Großvater starb vor seiner Geburt. Der Erzähler ist mal im Vordergrund, mal im Hintergrund. Die Eltern mag er, einen Onkel sieht er, den zweiten nicht; die Gefühle bekommen keinen Namen, die Personen schon. Es scheint, als sei der Großvater für alle in der Familie ein lebendiger Großvater, auch für den Erzähler, der ihn nicht traf. West-Berlin, Zürich, Ost-Berlin, Hamburg, Prag - eine europäische Familie. Ist die im Buch erzählte Ablehnung des Wahrens von Familiengeheimnissen echt oder wird sie durch das Buch widerlegt? Diese ungelöste Frage gefiel mir.
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Buch mit Leinen-Einband
„Wäre ich geblieben, wäre ich geflohen, hätte ich selbst meine engsten Freunde und Verwandten verraten, wenn die Kommunisten mich erwischt hätten?“ (Zitat Seite 90)
Inhalt:
Der Großvater der Familie wird 1960 auf dem Flughafen von Moskau verhaftet und wegen …
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„Wäre ich geblieben, wäre ich geflohen, hätte ich selbst meine engsten Freunde und Verwandten verraten, wenn die Kommunisten mich erwischt hätten?“ (Zitat Seite 90)
Inhalt:
Der Großvater der Familie wird 1960 auf dem Flughafen von Moskau verhaftet und wegen seiner verbotenen Devisengeschäfte hingerichtet. Kurz danach war einer seiner Söhne, Dima, ebenfalls verhaftet worden, weil er, in Prag lebend, nach Westberlin flüchten wollte. Seither stellt sich in der Familie durch die Jahre und Generationen die Frage, ob es da einen Zusammenhang gibt, war es Dima, der damals den Großvater verraten hatte?
Thema und Genre:
Der Autor erzählt einen biografischen Generationenroman, eingebettet in eine Zeit der Geheimdienste, der Vertreibungen – eine Flucht quer durch Europa und darüber hinaus. Kernpunkt ist die Familie und ein Verdacht, der ihre Mitglieder entzweit. Es geht auch um die zeitlose Frage, wie man selbst sich verhalten hätte, unter extremem Druck und Lebensgefahr.
Handlung und Schreibstil:
Jemand hat den Großvater verraten, was diesen das Leben gekostet hat und der Verdacht und die Suche nach der Wahrheit zieht sich über die Generationen. Der Zeitablauf ist chronologisch, in Einzelkapitel und Einzelgeschichten gegliedert. Die Personen im Mittelpunkt wechseln, wie auch die Erzählform vom Ich zur personalen Erzählperspektive dort, wo der Ich-Erzähler eine vergangene Geschichte selbst nur kennt, weil sie ihm erzählt wurde. Die Frage nach dem Verräter aus dem Kreis der Familie baut den Spannungsbogen auf und bringt Elemente eines Kriminalromans in dieses Buch.
Fazit:
Das Schicksal einer russisch-jüdischen Familie, Verrat, Flucht, Ankommen und die Frage nach einem Verrat. Erzählt auf verhältnismäßig wenigen Seiten, aber so lebendig und packend, dass die Geschichte den Leser sofort in ihren Bann zieht.
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Was man so mit sich rumträgt
Das sind in diesem Falle die Päckchen einer ganzen Familie, der Vater, der Tate, Schmil Grigorewitsch nämlich und dessen vier Söhne, von denen zwei eine eigene Familie haben. Jedenfalls eine, die in diesem Roman vorkommt. Maxim Biller selbst ist ein …
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Was man so mit sich rumträgt
Das sind in diesem Falle die Päckchen einer ganzen Familie, der Vater, der Tate, Schmil Grigorewitsch nämlich und dessen vier Söhne, von denen zwei eine eigene Familie haben. Jedenfalls eine, die in diesem Roman vorkommt. Maxim Biller selbst ist ein Enkel: Sohn von Sjoma, dem jüngsten Sohn. Es sind russische Juden, der Tate selbst wurde 1960 in der Sowjetunion hingerichtet.
Im Geburtsjahr Maxim Billers, dessen Wiege allerdings in Prag stand. Man sieht, die Verhältnisse in diesem kurzen, keine zweihundert Seiten langen Roman sind überaus komplex. Zunächst deswegen, weil die Protagonisten alle echt sind: die tatsächlichen Familienmitglieder des Autors, hauptsächlich seine Vorfahren.
Und sie alle stehen im Kreuzfeuer, wenn es um die zentrale Frage geht: wer trägt die Schuld am Tode des Taten, wer hat ihn denunziert? Einer der Söhne? Wenn ja, welcher?
Denn diese sind zum Todeszeitpunkt des Vaters bereits weit in der Welt verstreut, zwei befinden sich in Tschechien, die beiden anderen in Berlin (West) und in Brasilien.
Der Autor spielt sowohl mit den Ereignissen als auch mit den Figuren und mir als Leserin blieb seine Intention ein wenig fremd. Auch er selbst - als Ich-Erzähler ist ein wichtiger Faktor in der Geschichte. Ist es also sein Standpunkt, den er wiedergibt? Oder ein Standpunkt, den er sich ausleiht? Sind es Fakten oder ist es Fiktion, die hier wiedergegeben wird. Ich könnte mir vorstellen, dass er oder sein Verlag mir antworten würden, das sei nicht von Belang.
Was mich allerdings durchaus erfasst, ist das Thema Exil, das sich wie ein roter Faden durch den Roman zieht - Exil und stellenweise Verfolgung, das sind Elemente, mit denen auch meine Familie über Jahrzehnte hinweg konfrontiert war - dieses Getriebensein, diese Unruhe, die sich durch die gesamte Handlung zog, die konnte ich sehr gut nachempfinden.
Aber ich bin eine Leserin, die ganz gerne die Kontrolle behält über ihre Lektüre. Die sich ungern treiben lässt, zumindest hinsichtlich des Wahrheitsgehalts ihrer Lektüre. Hier kann alles sein, muss aber nicht. Ohne Frage ein wahnwitziges Unterfangen, aber eines, das mich ziemlich befremdet zurück lässt.
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Go West Familiengeschichte
Der Großvater des Ich-Erzählers wird 1960 in Moskau an die Kommunisten ausgeliefert und umgebracht und jeder der vier Söhne überlegt, wer ihn verraten haben könnte. Wladamir und Lev sind 1952 bereits in den Westen geflohen. Smoja, der Vater des …
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Go West Familiengeschichte
Der Großvater des Ich-Erzählers wird 1960 in Moskau an die Kommunisten ausgeliefert und umgebracht und jeder der vier Söhne überlegt, wer ihn verraten haben könnte. Wladamir und Lev sind 1952 bereits in den Westen geflohen. Smoja, der Vater des Ich-Erzählers, und Dima leben noch in Prag. Dima war selbst 5 Jahre in Haft.
Hat er den Vater verraten? Oder vielleicht Natalia, seine Frau, die eigentlich Smoja geliebt hat, dann aber, weil sie keine Kinder haben wollte, doch den anderen geheiratet hat. Im Gegensatz zu „Ida“ ist diese Geschichte sehr spannend. Auch der Täter wird auf S.176 genannt, hier aber nicht.
Einzige Kritik: Warum erfährt der Ich-Erzähler was im fünften Kapitel gesagt wird? Hat Lev mit ihm gesprochen, nachdem er ins Fernsehen gegangen war? Und was soll das letzte Kapitel?
Die Schwester des Ich-Erzählers kommt nach Hamburg um den NDR ein Interview zu geben und um danach „meine Eltern“ zu besuchen, die aber unsere Eltern sind. Merkwürdig und merkwürdig ist auch, dass der Leser ja schon alles weiß. Dient das Ende nur dazu, Verwirrung zu stiften?
Es ist wie "die Obstdiebin" von Handke ein gelungenes Buch, dass besser auf S.179 anstatt auf S.197 geendet hätte. 4 Sterne
Lieblingszitat: „Ich will nur wissen, was mit dem Taten war [jiddisch für Großvater...]. Aber jeder erzählt mir etwas anderes – oder gar nichts.“ (S.99)
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Buch mit Leinen-Einband
Maxim Billers autobiographisch geprägter Roman „Sechs Koffer“ beschreibt die versuchte Auflösung eines großen Familiengeheimnisses. Die Ermordung des „Taten“ (das jiddische Wort für Vater) durch die Sowjets und die Frage, wer ihn und seine …
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Maxim Billers autobiographisch geprägter Roman „Sechs Koffer“ beschreibt die versuchte Auflösung eines großen Familiengeheimnisses. Die Ermordung des „Taten“ (das jiddische Wort für Vater) durch die Sowjets und die Frage, wer ihn und seine Schwarzmarktgeschäfte verraten hat, sind das Herzstück des Romans um das die Geschichten der vier Söhne und ihren Familien kreisen. Aus sechs Perspektiven erzählt Biller die Familiengeschichte, den Weg von Prag nach Westdeutschland, die Suche nach dem Vertrauten, wo alles so fremd ist und eben auch die Suche des Erzählers nach der Auflösung der großen Frage, wer den Verrat begangen hat.
„Sechs Koffer“ hat es bis auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft und alles, was ich zuvor über den Roman gehört und gelesen hatte, hatte große Erwartungen geweckt. Diese wurde jedoch für mich leider nicht ganz erfüllt. Zwar ist die Geschichte durchaus interessant und die Perspektivwechsel sind spannend, der Erzähler bleibt als zentrale Figur bei allen Geschichten dabei und sortiert quasi für den Leser die Erinnerungen. Doch die Figuren selbst sind für mich einfach zu platt und klischeehaft geblieben, sie kamen mir vor wie Hüllen, denen nicht genug Inhalt gegeben wurde um die Geschichte voranzutreiben. Alles bleibt etwas schemenartig, ohne die nötige Tiefe zu entwickeln, die es meiner Meinung nach gebraucht hätte, um daraus ein Buch zu machen, dass mich begeistern kann. Auch sprachlich konnte mich der Roman nicht richtig überzeugen, es war mir alles etwas zu hölzern, um auszugleichen, was mir beim Personal fehlte.
Maxim Billers Roman „Sechs Koffer“ behandelt eine an sich spannende Geschichte, die durch Perspektivwechsel unterhaltsam und interessant bleibt. Mich konnte die Umsetzung aber nicht richtig überzeugen, da die Figuren mich als Leser einfach nicht erreicht haben und mir auch die Sprache zu steif hölzern war.
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Buch mit Leinen-Einband
Gekonnt oder nicht?
Der neue Roman «Sechs Koffer» von Maxim Biller hat es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, und wie so oft in seinem Œuvre ist die Kritik auch hier recht geteilt. Kontroverse Reaktionen begleiten den literarischen Weg des streitbaren …
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Gekonnt oder nicht?
Der neue Roman «Sechs Koffer» von Maxim Biller hat es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, und wie so oft in seinem Œuvre ist die Kritik auch hier recht geteilt. Kontroverse Reaktionen begleiten den literarischen Weg des streitbaren Schriftstellers ja vom Beginn an, eines seiner Werke, der Roman «Esra», ist in Deutschland sogar mit einem Veröffentlichungsverbot belegt. Seinen schreibenden Kollegen hat er in einem Vortrag in der Evangelischen Akademie Tutzing frech vorgeworfen, «Schlappschwanz-Literatur» zu produzieren und «das handwerkliche Prinzip ‹Moral›» zu ignorieren. Ich erinnere mich auch an einen Auftritt von ihm im Literarischen Quartett 2.0 Weidermannscher Prägung, wo er über den Autor des besprochenen Buches selbstherrlich «er kann es nicht» geäußert hat, eine abstoßende, arrogante Provokation unter Kollegen. Kann er es denn selbst, habe ich mich gefragt.
Als dezidiert jüdischer Autor thematisiert Maxim Biller hier einen tödlich endenden Verrat, dem der Tate zum Opfer fiel, wobei es jemand aus der Familie gewesen sein muss, der den Vater denunziert hat. In dem autobiografischen Roman tritt als Ich-Erzähler der sechsjährige Enkel des 1960 wegen Schwarzmarktgeschäften und Devisenvergehen hingerichteten Taten auf, den die Frage umtreibt, wer denn nun den Großvater verraten hat, einer der vier Söhne oder eine der beiden Schwiegertöchter. In sechs Kapiteln und in häufig wechselnden Episoden wird die Geschichte einer weitzerstreut lebenden Familie erzählt, beginnend an dem Tag, als sein Onkel Dima aus dem Gefängnis in Prag entlassen wird, wo er vier Jahre lang wegen Devisenschmuggel und versuchter Republikflucht eingesessen hat. War er der Verräter? Oder Natalia, seine Frau, die schöne Filmregisseurin, die in London lebt? Aber auch Sjoma, der eigene Vater, oder Rada, seine Mutter könnten es gewesen sein, oder der reiche Onkel Lev, der in Zürich lebt, und auch Wladimir, der Onkel in Südamerika, ist verdächtig. In Episoden ohne chronologischen Zusammenhang wird mit großen Zeitsprüngen in einer unkonventionellen Mischung aus personaler und auktorialer Erzählweise aus dem Leben dieser jüdischen Familie erzählt, die aus Moskau stammend nach Prag gegangen war und schließlich in Deutschland sesshaft wurde. Es ist die existentielle Geschichte einer zerrissenen Familie voller Misstrauen und Zweifel, die - durch totalitäre Systeme heimatlos geworden - überall und nirgends zu Hause ist.
Es geht nicht um den Verrat als solchen, es geht um die Bedingungen des Verrats in diesem wehmütigen, autofiktionalen Kurzroman, bei dem erzählerische Verlässlichkeit absolut Fehlanzeige ist in Anbetracht diverser Ungereimtheiten. Stilistisch wirkt dieses Verwirrspiel um familiären Neid eher wie ein Essay mit seinen unscharf gezeichneten, schablonenhaften Figuren, die seelisch karg erscheinend emotionalen Tiefgang vermissen lassen und obendrein auch noch als Typen völlig uninteressant bleiben. Geradezu verstörend wirkt außerdem die nassforsche, krawallartige Diktion von Maxim Biller, in der sich simple, negativ wertende Adjektive häufen wie hässlich, unfreundlich, verklemmt, böse, unsympathisch, frech, um dann auf ebenso gehässige Substantive zu stoßen wie Antisemitenblick und Osteuropäergesicht, um nur einige zu nennen.
Mit dem Geld zählenden Taten wird hier zu allem Überfluss auch noch das älteste jüdische Klischee überhaupt bedient. Und die dutzendfach wiederholte Bezeichnung eines Freundes des namenlos bleibenden Erzählers als «Miloslav – oder Jaroslav – » im dritten Kapitel wird bald richtig stressig für den Leser, er wird geradezu mit der Nase auf den unzuverlässigen Erzählstil gestoßen, der in seiner Unbestimmtheit letztendlich den gesamten Roman zu einer langweiligen Lektüre macht. Ob dieser Roman also gekonnt ist, sein Autor «es kann», wie er sich auszudrücken beliebte, muss wie immer jeder für sich entscheiden, - ich habe da berechtigte Zweifel.
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Buch mit Leinen-Einband
Ich gestehe, Maxim Biller ist mir unsympathisch. Die Kolumnen und Artikel, die ich kenne, sind voller Wut, Selbstgerechtigkeit und Arroganz. Und so war ich gespannt, was mich bei diesem Buch erwartet und habe mein Möglichstes getan, es ohne Vorurteile zu lesen. Nicht ganz einfach, gebe ich zu …
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Ich gestehe, Maxim Biller ist mir unsympathisch. Die Kolumnen und Artikel, die ich kenne, sind voller Wut, Selbstgerechtigkeit und Arroganz. Und so war ich gespannt, was mich bei diesem Buch erwartet und habe mein Möglichstes getan, es ohne Vorurteile zu lesen. Nicht ganz einfach, gebe ich zu ;-) Doch für einen derart streitsüchtigen Autor wie Maxim Biller ist es ein unerwartet sanftes und trauriges Buch, wobei das traurig weniger überraschend ist. Irgendwoher muss seine permanente Wut ja kommen.
Aufgrund des Verrats eines Familienmitglieds wurde Großvater Tate vom KGB wegen 'Wirtschaftsverbrechen' hingerichtet; über die genaueren Einzelheiten wird nicht gesprochen. In sechs Abschnitten schildert der Enkel als allwissender Erzähler die Geschehnisse aus Sicht verschiedener Familienmitglieder, wobei man glaubt, der Lösung jeweils näher gerückt zu sein - um dann im nächsten Kapitel eines Besseren belehrt zu werden. Zeitgleich wird auch die Lebensgeschichte der jeweiligen Person beschrieben, sodass sich nach und nach eine fast vollständige Familiensaga des letzten Jahrhunderts darstellt, mit all den komplexen Verflechtungen untereinander.
Es ist kein Buch, bei dem man mit den Figuren fühlt und leidet. Nicht, dass sie nichtssagend wären, ganz im Gegenteil. Alle besitzen etwas Außergewöhnliches, doch sobald sie einen etwas zu positiven Eindruck hinterlassen könnten, werden ihre negativen Eigenschaften in den Vordergrund gestellt. Da ist die erfolgreiche, wunderschöne Natalia, die aber nur dem Geld hinterherjagt. Der liebenswerte Dima, der bedauerlicherweise etwas dumm ist. Die lebensfrohe Rada, der ihre Kinder eher eine Last sind.
Die Geschichte dieser jüdisch-tschechisch-russischen Familie jedoch ist eindringlich und sie macht deutlich, wie schwierig das Leben in einer Diktatur war. Kein Vertrauen zu niemandem, selbst nicht zu einem Kriegskameraden, dem man das Leben rettete? Wie behält man Geheimnisse in Gefangenschaft? Es sind Fragen, die sich der Enkel stellt, als er kurz davor ist, über seine Verwandten zu urteilen. Wie wäre es ihm ergangen? Was hätte er getan? Und wir?
Eine gute Geschichte, die dennoch nicht völlig frei ist von Maxim Billers Wut und Verächtlichkeit - daher drei Sterne.
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