Edgar Selge
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Das literarische Debüt von Edgar Selge: Ein Zwölfjähriger erzählt seine Geschichte zwischen Gefängnismauer und klassischer Musik. Exemplarisch und radikal persönlich.Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen. Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinanderse...
Das literarische Debüt von Edgar Selge: Ein Zwölfjähriger erzählt seine Geschichte zwischen Gefängnismauer und klassischer Musik. Exemplarisch und radikal persönlich.
Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen.
Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinandersetzungen, die seine älteren Brüder mit Vater und Mutter am Esstisch führen. Aber er bleibt Zuschauer. Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Phantasie.
Dieser Junge, den der Autor als fernen Bruder seiner selbst betrachtet, erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den eigenen Blick auf die Welt. Wenn sich der dreiundsiebzigjährige Edgar Selge gelegentlich selbst einschaltet, wird klar: Die Schatten der Kriegsgeneration reichen bis in die Gegenwart hinein.
Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich. Voller Witz und Musikalität. Ob Bach oder Beethoven, Schubert oder Dvorák, Marschmusik oder Gospel: Wie eine zweite Erzählung legt sich die Musik über die Geschichte und begleitet den unbeirrbaren Drang nach Freiheit.
Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen.
Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinandersetzungen, die seine älteren Brüder mit Vater und Mutter am Esstisch führen. Aber er bleibt Zuschauer. Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Phantasie.
Dieser Junge, den der Autor als fernen Bruder seiner selbst betrachtet, erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den eigenen Blick auf die Welt. Wenn sich der dreiundsiebzigjährige Edgar Selge gelegentlich selbst einschaltet, wird klar: Die Schatten der Kriegsgeneration reichen bis in die Gegenwart hinein.
Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich. Voller Witz und Musikalität. Ob Bach oder Beethoven, Schubert oder Dvorák, Marschmusik oder Gospel: Wie eine zweite Erzählung legt sich die Musik über die Geschichte und begleitet den unbeirrbaren Drang nach Freiheit.
Edgar Selge gehört zu den bedeutendsten Charakterdarstellern Deutschlands. 1948 geboren, wuchs er im ostwestfälischen Herford als Sohn eines Gefängnisdirektors auf. Seine Schauspielausbildung schloss er 1975 an der Otto Falckenberg Schule in München ab. Zuvor studierte er Philosophie und Germanistik in München und Dublin sowie klassisches Klavier in Wien. Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Edgar Selge lebt mit der Schauspielerin Franziska Walser zusammen. Die beiden haben zwei Kinder. 'Hast du uns endlich gefunden' ist sein literarisches Debüt.
Produktdetails
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- Artikelnr. des Verlages: 22396
- 9. Aufl.
- Seitenzahl: 301
- Erscheinungstermin: 19. Oktober 2021
- Deutsch
- Abmessung: 206mm x 130mm x 30mm
- Gewicht: 391g
- ISBN-13: 9783498001223
- ISBN-10: 3498001221
- Artikelnr.: 61655632
Herstellerkennzeichnung
Rowohlt Verlag GmbH
Kirchenallee 19
20099 Hamburg
produktsicherheit@rowohlt.de
Es funktioniert nur, wenn man es tut
Der Schauspieler Edgar Selge hat das herausragende Debüt dieses Herbsts geschrieben, über Familie, Tod, Musik und Erinnerung - und einen kleinen Jungen, der seinen Namen trägt.
Plötzlich verwandelt sich der Wohnzimmertisch in eine Lesebühne, ein Augenblick wie aus heiterem Himmel. "Ich geh mal üben, sagt mein Vater", sagt Edgar Selge. Und wie dieser gefeierte Schauspieler diesen Satz sagt und damit in einen Text hineingleitet, den er selbst geschrieben hat: Da verschwindet um uns herum am Wohnzimmertisch kurz der ganze Münchner Spätsommernachmittag.
Es ist wirklich ein herrlicher Spätsommernachmittag in München, der Himmel tatsächlich heiter, das Reihenhaus, das Edgar
Der Schauspieler Edgar Selge hat das herausragende Debüt dieses Herbsts geschrieben, über Familie, Tod, Musik und Erinnerung - und einen kleinen Jungen, der seinen Namen trägt.
Plötzlich verwandelt sich der Wohnzimmertisch in eine Lesebühne, ein Augenblick wie aus heiterem Himmel. "Ich geh mal üben, sagt mein Vater", sagt Edgar Selge. Und wie dieser gefeierte Schauspieler diesen Satz sagt und damit in einen Text hineingleitet, den er selbst geschrieben hat: Da verschwindet um uns herum am Wohnzimmertisch kurz der ganze Münchner Spätsommernachmittag.
Es ist wirklich ein herrlicher Spätsommernachmittag in München, der Himmel tatsächlich heiter, das Reihenhaus, das Edgar
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Selge mit seiner Frau Franziska Walser bewohnt, steht gleich ums Eck vom Nymphenburger Kanal, draußen, auf der ruhigen Straße, spielen die Nachbarsjungen. Edgar Selge hat für seinen Besuch Käse und Brot und Zwetschgenkuchen besorgt, aber man kommt kaum zum Essen, weil es so viele Fragen gibt zu dem Buch, das er geschrieben hat: "Hast du uns endlich gefunden" heißt es.
Es ist ein Erinnerungsbuch an Familie, Tod und Leben und die Kunst, literarisch im Ton, autobiographisch im Stoff: Man erfährt daraus einiges aus der Kindheit und frühen Jugend des Schauspielers. Dass er seinen Bruder beklaut und die Klassenkasse veruntreut hat, um ins Kino zu gehen. Dass er im Birnbaum des elterlichen Gartens die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe nachgespielt hat. Dass zwei seiner vier Brüder auf dramatische Weise gestorben sind. Und dass sein Vater ihn geschlagen hat, wieder und wieder. Man erfährt aber vor allem, dass in dem großen Schauspieler Edgar Selge offenbar auch ein großer Autor steckt. Den hat er jetzt zum Leben erweckt.
Es geht deswegen am Münchner Wohnzimmertisch auch darum, ab wann Selge wusste, dass er für sein Buch den richtigen Ton gefunden hat. Und Selge antwortete darauf also mit dem ersten Absatz dieses Buchs. Fiel aus dem Interview direkt in seine eigene Prosa hinein. Es war nicht die erste Passage, die er für das Buch geschrieben hatte, aber Selge wusste, als er sie hatte, dass er es hatte.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei und unterhält sich mit mir."
Edgar Selge spricht diese Sätze mit jener beiläufigen Intensität, die sein ganzes Buch trägt. Man sucht, automatisch, nach Parallelen zur Darstellungskunst des Schauspielers, stellt dann aber schnell fest, dass diese Parallelen nur oberflächlich sind: Schauspieler und Autor verbinden die gleiche Intelligenz und Intensität im Ausdruck, aber der Autor ist eine eigenständige Figur und zudem eine neue Erscheinung: Edgar Selge hat erst vor fünf Jahren zu schreiben begonnen. Der Schauspieler Selge, 73, schaut dagegen auf eine mehr als vierzig Jahre lange Karriere auf der Bühne und vor der Kamera zurück.
Die Perspektive des Buchs, jedenfalls an dieser rezitierten Stelle, ist die eines aufmerksamen Kindes, das es schafft, von unten auf andere zu schauen, aber trotzdem den Überblick über alles zu haben, was um ihn herum geschieht, freie Sicht, freier Kopf, Eigensinn, Quatsch auch, ein bisschen Größenwahn, Träume. "Es ist ein Buch über die subversive Kraft eines Kindes", sagt Selge. "Mir war es wichtig, dass ein Kind erzählt. Aber das ist eine Fiktion - denn das Kind ist ja nicht mehr da. Also ist es auch eine Form von Rollenprosa - ich spiele dieses zwölfjährige Kind, das viel mit mir zu tun hat, mehr als andere Kinder -, aber es ist nicht das Kind, das ich war. Es ist eine Vorstellung."
In kurzen Kapiteln erzählt er gleich von mehreren Edgar Selges. Da ist der junge Edgar Selge, er ist hier meistens zwölf, hin und wieder auch etwas jünger, und lebt mit seiner Familie im ostwestfälischen Herford, Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre der alten Bundesrepublik.
Und da ist der Vater, er heißt auch Edgar Selge, Dr. Edgar Selge, Direktor der Jugendstrafanstalt Herford: ein Jurist, der mit seiner Frau Signe am Ende des Kriegs aus Ostpreußen nach Ostwestfalen geflohen ist. Die Selges haben fünf Söhne, von denen der zweitälteste, Rainer, als Kind beim Spiel mit einer Handgranate getötet wird und der jüngste, Andreas, als junger Mann an einer Gefäßerkrankung stirbt. Dr. Selge liebt Theater und Musik und gibt Hauskonzerte für die Gefangenen, daher die Auftaktszene, sie spielt in der Direktorenwohnung auf dem Gefängnisgelände, eine "große Totale", wie Selge es im Gespräch nennt, um das Ambiente gleich zu Anfang einzufangen, die Kinderwelt Selges: das Gefängnis, dessen Insassen und Angestellte, die Wohnung, Selges Brüder, seine Mutter, den Vater - und die Kunst. Musik und Tod sind wesentliche Leitmotive in diesem Buch.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater": Daran, dass Selge den Auftakt auswendig hersagen kann, merkt man natürlich, dass ein Schauspieler einen Text, den er selbst geschrieben hat, nie einfach herunterrattern würde. Er muss ihn vortragen, verkörpern. Aber vor allem erkennt man am Auswendighersagen mit konzentrierten Augen, dass es Selge in diesem Buch um alles geht. Dieser Text ist ein Herzenstext. Selge hat mit seinem Verlag lange überlegt, das Buch einen "Roman" zu nennen, wie das auch andere gemacht haben, die ihr Leben fiktionalisierten. Auch mit seinen Schwägerinnen habe er darüber gesprochen, er lebe ja, wie Selge sagt, am Rande der Schriftstellerfamilie Walser. Die Entscheidung fiel am Ende gegen den Begriff Roman. "Es ist etwas Eigenes geworden", sagt Selge, "und jetzt will ich dazu zu stehen, dass es das ist, was es ist."
Es sind jedenfalls keine Schauspielererinnerungen. Selge verneint das mit aller Entschiedenheit, auch deshalb, weil sein Buch in einer Zeitung sogar schon so angekündigt worden sei. Es sind nicht die Memoiren eines Stars, der bei Dieter Dorn an den Münchener Kammerspielen groß wurde. Der unvergessliche Auftritte in Dietl-Filmen wie "Rossini" hatte - da spielt er einen Bankbeamten, der um sein Geld betrogen wird, aber trotzdem "ein gutes Gefühl" hat, "ein gutes Gefühl!". Und der später, als einarmiger Kommissar Tauber, im Münchner "Polizeiruf" brillierte. Vom Beruf oder Berufswunsch berichtet Selge in seinem Buch fast nichts. Davon zwar, dass der kleine Edgar andere Leute gern imitiert und alle Brüder sich untereinander nachäffen, davon, dass Edgar Lügengeschichten erzählt und kreative Unruhe stiftet. Aber das Buch verfolgt einen anderen Zweck: "Gegen die ungeheure Gleichgültigkeit anzuschreiben, die sich in einem Leben ausbreitet, so wie wir es führen", so sagt es des Autor selbst. Da reden wir schon zwei Stunden, aber jetzt wird Edgar Selge noch einmal extra deutlich und ernst.
Sein Buch sei der Versuch, "noch einmal danach zu suchen: Wo warst du ganz lebendig? Deswegen ist dieser Zwölfjährige so wichtig für mich, und von dem gibt es noch einiges in mir. Das funktioniert aber nur, solange man es tut. Das ist wichtig, was ich gerade sage. Das funktioniert nur, solange man es tut: Solange man schreibt, solange man spielt, ist die Lebendigkeit da. Und das Gefühl der Intensität. Aber es geht ganz schnell vorbei. Kaum ist das letzte Wort geschrieben, kaum ist der Vorhang gefallen, saugt einen die Gleichgültigkeit wieder auf."
So, wie Selge es erklärt, hat sein Buch also doch einen performativen Charakter. Aber vor allem hat es nichts Rückwärtsgewandtes, es ist keine Vergangenheitsvergegenwärtigung um ihrer selbst willen, nicht Nostalgie, nicht sentimental. Im Akt des Schreibens - und damit im Akt des Lesens - versucht der Autor Edgar Selge einen Effekt zu erzeugen, für ihn und sein Publikum: auch das Sinnliche, das Dramatische der Erinnerung wieder zugänglich zu machen, in jedem Kapitel wieder von Neuem. Und damit auch: Vitalität freizulegen.
Selges Buch hat deswegen auch keinen herkömmlichen, abgerundeten Plot. Er habe vielmehr drauflosgeschrieben, ermutigt von Lebenserinnerungsbüchern wie denen des französischen Autors Édouard Louis. "Ich habe eben nicht gewusst, welche Geschichte ich erzähle", sagt Selge. "Ich wusste, ich will schreiben. Ich will ein Stück Leben so in meinen Sätzen abbilden, dass etwas lebendig wird. Das mich selbst zum Leben erweckt, während ich es schreibe - und hoffentlich auch die, die es dann lesen." Heraus kam ein Text, der sich aus Biographie speist, aber lebendig erst dank der erzählerischen Kraft wird, mit der er geschrieben worden ist.
Zugleich erforscht dieses Buch, wie das überhaupt gehen soll: Erinnerungen zu erzählen. "Dass mein Vater Hauskonzerte für die Inhaftierten gegeben hat, habe ich sicher fünfzigmal in Interviews erzählt", erklärt Selge. "Damit ist aber für mich nichts gesagt. Erinnerungen sind vielleicht nichtsprachlich in ihrem Kern, stecken im Körper, in der Muskulatur, im Kreislauf, in den Nerven. Und wenn man wieder an das herankommen will, was man vor sechzig Jahren einmal empfunden hat: Da reicht 'Erinnern' nicht. Dann muss man auch erfinden oder mindestens montieren. Dann kommt das Emotionale zurück."
Wie wahr muss etwas sein, um echt zu wirken? Muss man tatsächlich sogar etwas dazuerfinden, um wahrhaftig sein? Edgar Selge hat das herausragende deutschsprachige Debüt dieses Herbstes geschrieben - auch, weil er darin erprobt, was für eine Macht ein Buch besitzen kann, Grenzen zu überwinden. Die Grenzen zwischen Ort und Zeit, Leben und Tod, zwischen denen, die ein Buch lesen, und dem, der es geschrieben hat, und zuletzt die zwischen dem Autor und seinen Figuren.
Und das wäre dann der dritte Edgar Selge, von dem dieses Buch handelt: Es ist der Edgar Selge, der ein Buch schreibt und auch von der Situation erzählt, in der er das tut, der Pandemie des vergangenen Jahres zum Beispiel. Dieser Edgar Selge von heute meldet sich hin und wieder auch zu Wort, wenn es um den jungen Edgar Selge geht. "Wenn ich das lese", heißt es einmal, "fühlt sich der alte Mann wie ein erkalteter Planet, der von früheren Naturereignissen träumt." Die interessantesten und wundersamsten und schrecklichsten Dinge geschehen in diesem Buch - und alle, versichert sein Autor, sind sie wahr. "Das denkt man sich nicht aus. Deswegen hat das Buch diese Form. Das ist so, das war so, und deswegen heißen die auch so und ich auch."
Die Mutter fährt nach 255 Fahrstunden bei ihrer Führscheinprüfung in das Schaufenster ihres Herforder Lieblingsgeschäfts, das Krippenfiguren verkauft. Der Vater hat im britischen Militärgefängnis in Werl deutsche Kriegsverbrecher wie den zum Tode verurteilten und später begnadigten Generalfeldmarschall Kesselring betreut - bis die Briten den Vater wieder rauswerfen, weil er zu lasch ist. Die Eltern sind beide von Nationalsozialismus und Judenhass tief geprägt, werden diese Prägung lange nicht los, reisen dann aber später, reumütig, nach Israel. Die Mutter, auch davon erzählt Selge, besucht im hohen Alter die Wehrmachtsausstellung in München - und erleidet danach einen Magendurchbruch. Der ewig hungrige, kunstsehnsüchtige Vater schlägt den kleinen Edgar. Und hin und wieder reibt er im Vorbeigehen auch seinen steifen Penis an ihm. Mit allen seinen Söhnen hat Direktor Selge das getan. "Was soll ich dazu sagen?", antwortet Edgar Selge, wenn man ihn nach diesen sexuellen Übergriffen fragt. "Es hat sie gegeben."
Aber Selge sagt auch: "Das ist keine Abrechnung - für eine Abrechnung fehlen mir die Kraft und die Lust. Ich sehe mich nicht als Opfer, obwohl es Situationen gab, wo dieser Junge viel aushalten musste." Lange geht es am Münchener Wohnzimmertisch dann noch um das Erbe der Geschichten, das Familien von Generation zu Generation weitertragen, Kriegsgeschichten, deutsche Opfermythen, deutsche Tatverleugnung. Edgar Selge hat diese Konflikte in seinem grandiosen Buch erzählt, aber sich damit nicht von einer Last befreien müssen. Er sagt, mit jedem Satz: Wir haben nur dieses eine Leben, also leben wir es.
TOBIAS RÜTHER.
Edgar Selge, "Hast du uns endlich gefunden". Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro. Ab 19. Oktober im Handel.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist ein Erinnerungsbuch an Familie, Tod und Leben und die Kunst, literarisch im Ton, autobiographisch im Stoff: Man erfährt daraus einiges aus der Kindheit und frühen Jugend des Schauspielers. Dass er seinen Bruder beklaut und die Klassenkasse veruntreut hat, um ins Kino zu gehen. Dass er im Birnbaum des elterlichen Gartens die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe nachgespielt hat. Dass zwei seiner vier Brüder auf dramatische Weise gestorben sind. Und dass sein Vater ihn geschlagen hat, wieder und wieder. Man erfährt aber vor allem, dass in dem großen Schauspieler Edgar Selge offenbar auch ein großer Autor steckt. Den hat er jetzt zum Leben erweckt.
Es geht deswegen am Münchner Wohnzimmertisch auch darum, ab wann Selge wusste, dass er für sein Buch den richtigen Ton gefunden hat. Und Selge antwortete darauf also mit dem ersten Absatz dieses Buchs. Fiel aus dem Interview direkt in seine eigene Prosa hinein. Es war nicht die erste Passage, die er für das Buch geschrieben hatte, aber Selge wusste, als er sie hatte, dass er es hatte.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei und unterhält sich mit mir."
Edgar Selge spricht diese Sätze mit jener beiläufigen Intensität, die sein ganzes Buch trägt. Man sucht, automatisch, nach Parallelen zur Darstellungskunst des Schauspielers, stellt dann aber schnell fest, dass diese Parallelen nur oberflächlich sind: Schauspieler und Autor verbinden die gleiche Intelligenz und Intensität im Ausdruck, aber der Autor ist eine eigenständige Figur und zudem eine neue Erscheinung: Edgar Selge hat erst vor fünf Jahren zu schreiben begonnen. Der Schauspieler Selge, 73, schaut dagegen auf eine mehr als vierzig Jahre lange Karriere auf der Bühne und vor der Kamera zurück.
Die Perspektive des Buchs, jedenfalls an dieser rezitierten Stelle, ist die eines aufmerksamen Kindes, das es schafft, von unten auf andere zu schauen, aber trotzdem den Überblick über alles zu haben, was um ihn herum geschieht, freie Sicht, freier Kopf, Eigensinn, Quatsch auch, ein bisschen Größenwahn, Träume. "Es ist ein Buch über die subversive Kraft eines Kindes", sagt Selge. "Mir war es wichtig, dass ein Kind erzählt. Aber das ist eine Fiktion - denn das Kind ist ja nicht mehr da. Also ist es auch eine Form von Rollenprosa - ich spiele dieses zwölfjährige Kind, das viel mit mir zu tun hat, mehr als andere Kinder -, aber es ist nicht das Kind, das ich war. Es ist eine Vorstellung."
In kurzen Kapiteln erzählt er gleich von mehreren Edgar Selges. Da ist der junge Edgar Selge, er ist hier meistens zwölf, hin und wieder auch etwas jünger, und lebt mit seiner Familie im ostwestfälischen Herford, Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre der alten Bundesrepublik.
Und da ist der Vater, er heißt auch Edgar Selge, Dr. Edgar Selge, Direktor der Jugendstrafanstalt Herford: ein Jurist, der mit seiner Frau Signe am Ende des Kriegs aus Ostpreußen nach Ostwestfalen geflohen ist. Die Selges haben fünf Söhne, von denen der zweitälteste, Rainer, als Kind beim Spiel mit einer Handgranate getötet wird und der jüngste, Andreas, als junger Mann an einer Gefäßerkrankung stirbt. Dr. Selge liebt Theater und Musik und gibt Hauskonzerte für die Gefangenen, daher die Auftaktszene, sie spielt in der Direktorenwohnung auf dem Gefängnisgelände, eine "große Totale", wie Selge es im Gespräch nennt, um das Ambiente gleich zu Anfang einzufangen, die Kinderwelt Selges: das Gefängnis, dessen Insassen und Angestellte, die Wohnung, Selges Brüder, seine Mutter, den Vater - und die Kunst. Musik und Tod sind wesentliche Leitmotive in diesem Buch.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater": Daran, dass Selge den Auftakt auswendig hersagen kann, merkt man natürlich, dass ein Schauspieler einen Text, den er selbst geschrieben hat, nie einfach herunterrattern würde. Er muss ihn vortragen, verkörpern. Aber vor allem erkennt man am Auswendighersagen mit konzentrierten Augen, dass es Selge in diesem Buch um alles geht. Dieser Text ist ein Herzenstext. Selge hat mit seinem Verlag lange überlegt, das Buch einen "Roman" zu nennen, wie das auch andere gemacht haben, die ihr Leben fiktionalisierten. Auch mit seinen Schwägerinnen habe er darüber gesprochen, er lebe ja, wie Selge sagt, am Rande der Schriftstellerfamilie Walser. Die Entscheidung fiel am Ende gegen den Begriff Roman. "Es ist etwas Eigenes geworden", sagt Selge, "und jetzt will ich dazu zu stehen, dass es das ist, was es ist."
Es sind jedenfalls keine Schauspielererinnerungen. Selge verneint das mit aller Entschiedenheit, auch deshalb, weil sein Buch in einer Zeitung sogar schon so angekündigt worden sei. Es sind nicht die Memoiren eines Stars, der bei Dieter Dorn an den Münchener Kammerspielen groß wurde. Der unvergessliche Auftritte in Dietl-Filmen wie "Rossini" hatte - da spielt er einen Bankbeamten, der um sein Geld betrogen wird, aber trotzdem "ein gutes Gefühl" hat, "ein gutes Gefühl!". Und der später, als einarmiger Kommissar Tauber, im Münchner "Polizeiruf" brillierte. Vom Beruf oder Berufswunsch berichtet Selge in seinem Buch fast nichts. Davon zwar, dass der kleine Edgar andere Leute gern imitiert und alle Brüder sich untereinander nachäffen, davon, dass Edgar Lügengeschichten erzählt und kreative Unruhe stiftet. Aber das Buch verfolgt einen anderen Zweck: "Gegen die ungeheure Gleichgültigkeit anzuschreiben, die sich in einem Leben ausbreitet, so wie wir es führen", so sagt es des Autor selbst. Da reden wir schon zwei Stunden, aber jetzt wird Edgar Selge noch einmal extra deutlich und ernst.
Sein Buch sei der Versuch, "noch einmal danach zu suchen: Wo warst du ganz lebendig? Deswegen ist dieser Zwölfjährige so wichtig für mich, und von dem gibt es noch einiges in mir. Das funktioniert aber nur, solange man es tut. Das ist wichtig, was ich gerade sage. Das funktioniert nur, solange man es tut: Solange man schreibt, solange man spielt, ist die Lebendigkeit da. Und das Gefühl der Intensität. Aber es geht ganz schnell vorbei. Kaum ist das letzte Wort geschrieben, kaum ist der Vorhang gefallen, saugt einen die Gleichgültigkeit wieder auf."
So, wie Selge es erklärt, hat sein Buch also doch einen performativen Charakter. Aber vor allem hat es nichts Rückwärtsgewandtes, es ist keine Vergangenheitsvergegenwärtigung um ihrer selbst willen, nicht Nostalgie, nicht sentimental. Im Akt des Schreibens - und damit im Akt des Lesens - versucht der Autor Edgar Selge einen Effekt zu erzeugen, für ihn und sein Publikum: auch das Sinnliche, das Dramatische der Erinnerung wieder zugänglich zu machen, in jedem Kapitel wieder von Neuem. Und damit auch: Vitalität freizulegen.
Selges Buch hat deswegen auch keinen herkömmlichen, abgerundeten Plot. Er habe vielmehr drauflosgeschrieben, ermutigt von Lebenserinnerungsbüchern wie denen des französischen Autors Édouard Louis. "Ich habe eben nicht gewusst, welche Geschichte ich erzähle", sagt Selge. "Ich wusste, ich will schreiben. Ich will ein Stück Leben so in meinen Sätzen abbilden, dass etwas lebendig wird. Das mich selbst zum Leben erweckt, während ich es schreibe - und hoffentlich auch die, die es dann lesen." Heraus kam ein Text, der sich aus Biographie speist, aber lebendig erst dank der erzählerischen Kraft wird, mit der er geschrieben worden ist.
Zugleich erforscht dieses Buch, wie das überhaupt gehen soll: Erinnerungen zu erzählen. "Dass mein Vater Hauskonzerte für die Inhaftierten gegeben hat, habe ich sicher fünfzigmal in Interviews erzählt", erklärt Selge. "Damit ist aber für mich nichts gesagt. Erinnerungen sind vielleicht nichtsprachlich in ihrem Kern, stecken im Körper, in der Muskulatur, im Kreislauf, in den Nerven. Und wenn man wieder an das herankommen will, was man vor sechzig Jahren einmal empfunden hat: Da reicht 'Erinnern' nicht. Dann muss man auch erfinden oder mindestens montieren. Dann kommt das Emotionale zurück."
Wie wahr muss etwas sein, um echt zu wirken? Muss man tatsächlich sogar etwas dazuerfinden, um wahrhaftig sein? Edgar Selge hat das herausragende deutschsprachige Debüt dieses Herbstes geschrieben - auch, weil er darin erprobt, was für eine Macht ein Buch besitzen kann, Grenzen zu überwinden. Die Grenzen zwischen Ort und Zeit, Leben und Tod, zwischen denen, die ein Buch lesen, und dem, der es geschrieben hat, und zuletzt die zwischen dem Autor und seinen Figuren.
Und das wäre dann der dritte Edgar Selge, von dem dieses Buch handelt: Es ist der Edgar Selge, der ein Buch schreibt und auch von der Situation erzählt, in der er das tut, der Pandemie des vergangenen Jahres zum Beispiel. Dieser Edgar Selge von heute meldet sich hin und wieder auch zu Wort, wenn es um den jungen Edgar Selge geht. "Wenn ich das lese", heißt es einmal, "fühlt sich der alte Mann wie ein erkalteter Planet, der von früheren Naturereignissen träumt." Die interessantesten und wundersamsten und schrecklichsten Dinge geschehen in diesem Buch - und alle, versichert sein Autor, sind sie wahr. "Das denkt man sich nicht aus. Deswegen hat das Buch diese Form. Das ist so, das war so, und deswegen heißen die auch so und ich auch."
Die Mutter fährt nach 255 Fahrstunden bei ihrer Führscheinprüfung in das Schaufenster ihres Herforder Lieblingsgeschäfts, das Krippenfiguren verkauft. Der Vater hat im britischen Militärgefängnis in Werl deutsche Kriegsverbrecher wie den zum Tode verurteilten und später begnadigten Generalfeldmarschall Kesselring betreut - bis die Briten den Vater wieder rauswerfen, weil er zu lasch ist. Die Eltern sind beide von Nationalsozialismus und Judenhass tief geprägt, werden diese Prägung lange nicht los, reisen dann aber später, reumütig, nach Israel. Die Mutter, auch davon erzählt Selge, besucht im hohen Alter die Wehrmachtsausstellung in München - und erleidet danach einen Magendurchbruch. Der ewig hungrige, kunstsehnsüchtige Vater schlägt den kleinen Edgar. Und hin und wieder reibt er im Vorbeigehen auch seinen steifen Penis an ihm. Mit allen seinen Söhnen hat Direktor Selge das getan. "Was soll ich dazu sagen?", antwortet Edgar Selge, wenn man ihn nach diesen sexuellen Übergriffen fragt. "Es hat sie gegeben."
Aber Selge sagt auch: "Das ist keine Abrechnung - für eine Abrechnung fehlen mir die Kraft und die Lust. Ich sehe mich nicht als Opfer, obwohl es Situationen gab, wo dieser Junge viel aushalten musste." Lange geht es am Münchener Wohnzimmertisch dann noch um das Erbe der Geschichten, das Familien von Generation zu Generation weitertragen, Kriegsgeschichten, deutsche Opfermythen, deutsche Tatverleugnung. Edgar Selge hat diese Konflikte in seinem grandiosen Buch erzählt, aber sich damit nicht von einer Last befreien müssen. Er sagt, mit jedem Satz: Wir haben nur dieses eine Leben, also leben wir es.
TOBIAS RÜTHER.
Edgar Selge, "Hast du uns endlich gefunden". Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro. Ab 19. Oktober im Handel.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Bewegt liest Rezensentin Claudia Ingenhoven den ersten Roman des Schauspielers Edgar Selge, der ihr hier fiktionalisiert aus seiner Kindheit erzählt. Sie blickt mit dem zwölfjährigen Edgar in eine Kindheit in Westfalen in den fünfziger und sechziger Jahren und erlebt das strenge Regiment der Eltern - der Vater ist Gefängnisdirektor und "tobt sich an Edgar aus", resümiert Ingenhoven. Die Kritikerin spürt die jahrelange Arbeit, die Selge in dieses Buch gesteckt hat deutlich: Geradezu körperlich erfahrbar erscheinen ihr Edgars Erfahrungen. Nicht zuletzt lobt sie, wie der Autor immer wieder Reflexionen aus der Distanz des Alters einflicht und sich mit Witz und Offenheit den eigenen Gefühlen stellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein sensationelles literarisches Debüt... «Hast du uns endlich gefunden» würde als Roman einer deutschen Nachkriegsjugend durchgehen oder als Familienstudie eines Bildungsbürgertums mit Generationenbruch; oder als ein Buch über die Wiedererlangung des eigenen Kindheitsgefühls, wie es Annie Ernaux oder Didier Eribon geschrieben haben. Dahingehend ist Edgar Selge ein Hit gelungen: im Auflebenlassen einer unbestechlichen Kindheit. Margarete Affenzeller Der Standard 20211125
Es funktioniert nur, wenn man es tut
Der Schauspieler Edgar Selge hat das herausragende Debüt dieses Herbsts geschrieben, über Familie, Tod, Musik und Erinnerung - und einen kleinen Jungen, der seinen Namen trägt.
Plötzlich verwandelt sich der Wohnzimmertisch in eine Lesebühne, ein Augenblick wie aus heiterem Himmel. "Ich geh mal üben, sagt mein Vater", sagt Edgar Selge. Und wie dieser gefeierte Schauspieler diesen Satz sagt und damit in einen Text hineingleitet, den er selbst geschrieben hat: Da verschwindet um uns herum am Wohnzimmertisch kurz der ganze Münchner Spätsommernachmittag.
Es ist wirklich ein herrlicher Spätsommernachmittag in München, der Himmel tatsächlich heiter, das Reihenhaus, das Edgar
Der Schauspieler Edgar Selge hat das herausragende Debüt dieses Herbsts geschrieben, über Familie, Tod, Musik und Erinnerung - und einen kleinen Jungen, der seinen Namen trägt.
Plötzlich verwandelt sich der Wohnzimmertisch in eine Lesebühne, ein Augenblick wie aus heiterem Himmel. "Ich geh mal üben, sagt mein Vater", sagt Edgar Selge. Und wie dieser gefeierte Schauspieler diesen Satz sagt und damit in einen Text hineingleitet, den er selbst geschrieben hat: Da verschwindet um uns herum am Wohnzimmertisch kurz der ganze Münchner Spätsommernachmittag.
Es ist wirklich ein herrlicher Spätsommernachmittag in München, der Himmel tatsächlich heiter, das Reihenhaus, das Edgar
Mehr anzeigen
Selge mit seiner Frau Franziska Walser bewohnt, steht gleich ums Eck vom Nymphenburger Kanal, draußen, auf der ruhigen Straße, spielen die Nachbarsjungen. Edgar Selge hat für seinen Besuch Käse und Brot und Zwetschgenkuchen besorgt, aber man kommt kaum zum Essen, weil es so viele Fragen gibt zu dem Buch, das er geschrieben hat: "Hast du uns endlich gefunden" heißt es.
Es ist ein Erinnerungsbuch an Familie, Tod und Leben und die Kunst, literarisch im Ton, autobiographisch im Stoff: Man erfährt daraus einiges aus der Kindheit und frühen Jugend des Schauspielers. Dass er seinen Bruder beklaut und die Klassenkasse veruntreut hat, um ins Kino zu gehen. Dass er im Birnbaum des elterlichen Gartens die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe nachgespielt hat. Dass zwei seiner vier Brüder auf dramatische Weise gestorben sind. Und dass sein Vater ihn geschlagen hat, wieder und wieder. Man erfährt aber vor allem, dass in dem großen Schauspieler Edgar Selge offenbar auch ein großer Autor steckt. Den hat er jetzt zum Leben erweckt.
Es geht deswegen am Münchner Wohnzimmertisch auch darum, ab wann Selge wusste, dass er für sein Buch den richtigen Ton gefunden hat. Und Selge antwortete darauf also mit dem ersten Absatz dieses Buchs. Fiel aus dem Interview direkt in seine eigene Prosa hinein. Es war nicht die erste Passage, die er für das Buch geschrieben hatte, aber Selge wusste, als er sie hatte, dass er es hatte.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei und unterhält sich mit mir."
Edgar Selge spricht diese Sätze mit jener beiläufigen Intensität, die sein ganzes Buch trägt. Man sucht, automatisch, nach Parallelen zur Darstellungskunst des Schauspielers, stellt dann aber schnell fest, dass diese Parallelen nur oberflächlich sind: Schauspieler und Autor verbinden die gleiche Intelligenz und Intensität im Ausdruck, aber der Autor ist eine eigenständige Figur und zudem eine neue Erscheinung: Edgar Selge hat erst vor fünf Jahren zu schreiben begonnen. Der Schauspieler Selge, 73, schaut dagegen auf eine mehr als vierzig Jahre lange Karriere auf der Bühne und vor der Kamera zurück.
Die Perspektive des Buchs, jedenfalls an dieser rezitierten Stelle, ist die eines aufmerksamen Kindes, das es schafft, von unten auf andere zu schauen, aber trotzdem den Überblick über alles zu haben, was um ihn herum geschieht, freie Sicht, freier Kopf, Eigensinn, Quatsch auch, ein bisschen Größenwahn, Träume. "Es ist ein Buch über die subversive Kraft eines Kindes", sagt Selge. "Mir war es wichtig, dass ein Kind erzählt. Aber das ist eine Fiktion - denn das Kind ist ja nicht mehr da. Also ist es auch eine Form von Rollenprosa - ich spiele dieses zwölfjährige Kind, das viel mit mir zu tun hat, mehr als andere Kinder -, aber es ist nicht das Kind, das ich war. Es ist eine Vorstellung."
In kurzen Kapiteln erzählt er gleich von mehreren Edgar Selges. Da ist der junge Edgar Selge, er ist hier meistens zwölf, hin und wieder auch etwas jünger, und lebt mit seiner Familie im ostwestfälischen Herford, Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre der alten Bundesrepublik.
Und da ist der Vater, er heißt auch Edgar Selge, Dr. Edgar Selge, Direktor der Jugendstrafanstalt Herford: ein Jurist, der mit seiner Frau Signe am Ende des Kriegs aus Ostpreußen nach Ostwestfalen geflohen ist. Die Selges haben fünf Söhne, von denen der zweitälteste, Rainer, als Kind beim Spiel mit einer Handgranate getötet wird und der jüngste, Andreas, als junger Mann an einer Gefäßerkrankung stirbt. Dr. Selge liebt Theater und Musik und gibt Hauskonzerte für die Gefangenen, daher die Auftaktszene, sie spielt in der Direktorenwohnung auf dem Gefängnisgelände, eine "große Totale", wie Selge es im Gespräch nennt, um das Ambiente gleich zu Anfang einzufangen, die Kinderwelt Selges: das Gefängnis, dessen Insassen und Angestellte, die Wohnung, Selges Brüder, seine Mutter, den Vater - und die Kunst. Musik und Tod sind wesentliche Leitmotive in diesem Buch.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater": Daran, dass Selge den Auftakt auswendig hersagen kann, merkt man natürlich, dass ein Schauspieler einen Text, den er selbst geschrieben hat, nie einfach herunterrattern würde. Er muss ihn vortragen, verkörpern. Aber vor allem erkennt man am Auswendighersagen mit konzentrierten Augen, dass es Selge in diesem Buch um alles geht. Dieser Text ist ein Herzenstext. Selge hat mit seinem Verlag lange überlegt, das Buch einen "Roman" zu nennen, wie das auch andere gemacht haben, die ihr Leben fiktionalisierten. Auch mit seinen Schwägerinnen habe er darüber gesprochen, er lebe ja, wie Selge sagt, am Rande der Schriftstellerfamilie Walser. Die Entscheidung fiel am Ende gegen den Begriff Roman. "Es ist etwas Eigenes geworden", sagt Selge, "und jetzt will ich dazu zu stehen, dass es das ist, was es ist."
Es sind jedenfalls keine Schauspielererinnerungen. Selge verneint das mit aller Entschiedenheit, auch deshalb, weil sein Buch in einer Zeitung sogar schon so angekündigt worden sei. Es sind nicht die Memoiren eines Stars, der bei Dieter Dorn an den Münchener Kammerspielen groß wurde. Der unvergessliche Auftritte in Dietl-Filmen wie "Rossini" hatte - da spielt er einen Bankbeamten, der um sein Geld betrogen wird, aber trotzdem "ein gutes Gefühl" hat, "ein gutes Gefühl!". Und der später, als einarmiger Kommissar Tauber, im Münchner "Polizeiruf" brillierte. Vom Beruf oder Berufswunsch berichtet Selge in seinem Buch fast nichts. Davon zwar, dass der kleine Edgar andere Leute gern imitiert und alle Brüder sich untereinander nachäffen, davon, dass Edgar Lügengeschichten erzählt und kreative Unruhe stiftet. Aber das Buch verfolgt einen anderen Zweck: "Gegen die ungeheure Gleichgültigkeit anzuschreiben, die sich in einem Leben ausbreitet, so wie wir es führen", so sagt es des Autor selbst. Da reden wir schon zwei Stunden, aber jetzt wird Edgar Selge noch einmal extra deutlich und ernst.
Sein Buch sei der Versuch, "noch einmal danach zu suchen: Wo warst du ganz lebendig? Deswegen ist dieser Zwölfjährige so wichtig für mich, und von dem gibt es noch einiges in mir. Das funktioniert aber nur, solange man es tut. Das ist wichtig, was ich gerade sage. Das funktioniert nur, solange man es tut: Solange man schreibt, solange man spielt, ist die Lebendigkeit da. Und das Gefühl der Intensität. Aber es geht ganz schnell vorbei. Kaum ist das letzte Wort geschrieben, kaum ist der Vorhang gefallen, saugt einen die Gleichgültigkeit wieder auf."
So, wie Selge es erklärt, hat sein Buch also doch einen performativen Charakter. Aber vor allem hat es nichts Rückwärtsgewandtes, es ist keine Vergangenheitsvergegenwärtigung um ihrer selbst willen, nicht Nostalgie, nicht sentimental. Im Akt des Schreibens - und damit im Akt des Lesens - versucht der Autor Edgar Selge einen Effekt zu erzeugen, für ihn und sein Publikum: auch das Sinnliche, das Dramatische der Erinnerung wieder zugänglich zu machen, in jedem Kapitel wieder von Neuem. Und damit auch: Vitalität freizulegen.
Selges Buch hat deswegen auch keinen herkömmlichen, abgerundeten Plot. Er habe vielmehr drauflosgeschrieben, ermutigt von Lebenserinnerungsbüchern wie denen des französischen Autors Édouard Louis. "Ich habe eben nicht gewusst, welche Geschichte ich erzähle", sagt Selge. "Ich wusste, ich will schreiben. Ich will ein Stück Leben so in meinen Sätzen abbilden, dass etwas lebendig wird. Das mich selbst zum Leben erweckt, während ich es schreibe - und hoffentlich auch die, die es dann lesen." Heraus kam ein Text, der sich aus Biographie speist, aber lebendig erst dank der erzählerischen Kraft wird, mit der er geschrieben worden ist.
Zugleich erforscht dieses Buch, wie das überhaupt gehen soll: Erinnerungen zu erzählen. "Dass mein Vater Hauskonzerte für die Inhaftierten gegeben hat, habe ich sicher fünfzigmal in Interviews erzählt", erklärt Selge. "Damit ist aber für mich nichts gesagt. Erinnerungen sind vielleicht nichtsprachlich in ihrem Kern, stecken im Körper, in der Muskulatur, im Kreislauf, in den Nerven. Und wenn man wieder an das herankommen will, was man vor sechzig Jahren einmal empfunden hat: Da reicht 'Erinnern' nicht. Dann muss man auch erfinden oder mindestens montieren. Dann kommt das Emotionale zurück."
Wie wahr muss etwas sein, um echt zu wirken? Muss man tatsächlich sogar etwas dazuerfinden, um wahrhaftig sein? Edgar Selge hat das herausragende deutschsprachige Debüt dieses Herbstes geschrieben - auch, weil er darin erprobt, was für eine Macht ein Buch besitzen kann, Grenzen zu überwinden. Die Grenzen zwischen Ort und Zeit, Leben und Tod, zwischen denen, die ein Buch lesen, und dem, der es geschrieben hat, und zuletzt die zwischen dem Autor und seinen Figuren.
Und das wäre dann der dritte Edgar Selge, von dem dieses Buch handelt: Es ist der Edgar Selge, der ein Buch schreibt und auch von der Situation erzählt, in der er das tut, der Pandemie des vergangenen Jahres zum Beispiel. Dieser Edgar Selge von heute meldet sich hin und wieder auch zu Wort, wenn es um den jungen Edgar Selge geht. "Wenn ich das lese", heißt es einmal, "fühlt sich der alte Mann wie ein erkalteter Planet, der von früheren Naturereignissen träumt." Die interessantesten und wundersamsten und schrecklichsten Dinge geschehen in diesem Buch - und alle, versichert sein Autor, sind sie wahr. "Das denkt man sich nicht aus. Deswegen hat das Buch diese Form. Das ist so, das war so, und deswegen heißen die auch so und ich auch."
Die Mutter fährt nach 255 Fahrstunden bei ihrer Führscheinprüfung in das Schaufenster ihres Herforder Lieblingsgeschäfts, das Krippenfiguren verkauft. Der Vater hat im britischen Militärgefängnis in Werl deutsche Kriegsverbrecher wie den zum Tode verurteilten und später begnadigten Generalfeldmarschall Kesselring betreut - bis die Briten den Vater wieder rauswerfen, weil er zu lasch ist. Die Eltern sind beide von Nationalsozialismus und Judenhass tief geprägt, werden diese Prägung lange nicht los, reisen dann aber später, reumütig, nach Israel. Die Mutter, auch davon erzählt Selge, besucht im hohen Alter die Wehrmachtsausstellung in München - und erleidet danach einen Magendurchbruch. Der ewig hungrige, kunstsehnsüchtige Vater schlägt den kleinen Edgar. Und hin und wieder reibt er im Vorbeigehen auch seinen steifen Penis an ihm. Mit allen seinen Söhnen hat Direktor Selge das getan. "Was soll ich dazu sagen?", antwortet Edgar Selge, wenn man ihn nach diesen sexuellen Übergriffen fragt. "Es hat sie gegeben."
Aber Selge sagt auch: "Das ist keine Abrechnung - für eine Abrechnung fehlen mir die Kraft und die Lust. Ich sehe mich nicht als Opfer, obwohl es Situationen gab, wo dieser Junge viel aushalten musste." Lange geht es am Münchener Wohnzimmertisch dann noch um das Erbe der Geschichten, das Familien von Generation zu Generation weitertragen, Kriegsgeschichten, deutsche Opfermythen, deutsche Tatverleugnung. Edgar Selge hat diese Konflikte in seinem grandiosen Buch erzählt, aber sich damit nicht von einer Last befreien müssen. Er sagt, mit jedem Satz: Wir haben nur dieses eine Leben, also leben wir es.
TOBIAS RÜTHER.
Edgar Selge, "Hast du uns endlich gefunden". Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro. Ab 19. Oktober im Handel.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist ein Erinnerungsbuch an Familie, Tod und Leben und die Kunst, literarisch im Ton, autobiographisch im Stoff: Man erfährt daraus einiges aus der Kindheit und frühen Jugend des Schauspielers. Dass er seinen Bruder beklaut und die Klassenkasse veruntreut hat, um ins Kino zu gehen. Dass er im Birnbaum des elterlichen Gartens die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe nachgespielt hat. Dass zwei seiner vier Brüder auf dramatische Weise gestorben sind. Und dass sein Vater ihn geschlagen hat, wieder und wieder. Man erfährt aber vor allem, dass in dem großen Schauspieler Edgar Selge offenbar auch ein großer Autor steckt. Den hat er jetzt zum Leben erweckt.
Es geht deswegen am Münchner Wohnzimmertisch auch darum, ab wann Selge wusste, dass er für sein Buch den richtigen Ton gefunden hat. Und Selge antwortete darauf also mit dem ersten Absatz dieses Buchs. Fiel aus dem Interview direkt in seine eigene Prosa hinein. Es war nicht die erste Passage, die er für das Buch geschrieben hatte, aber Selge wusste, als er sie hatte, dass er es hatte.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei und unterhält sich mit mir."
Edgar Selge spricht diese Sätze mit jener beiläufigen Intensität, die sein ganzes Buch trägt. Man sucht, automatisch, nach Parallelen zur Darstellungskunst des Schauspielers, stellt dann aber schnell fest, dass diese Parallelen nur oberflächlich sind: Schauspieler und Autor verbinden die gleiche Intelligenz und Intensität im Ausdruck, aber der Autor ist eine eigenständige Figur und zudem eine neue Erscheinung: Edgar Selge hat erst vor fünf Jahren zu schreiben begonnen. Der Schauspieler Selge, 73, schaut dagegen auf eine mehr als vierzig Jahre lange Karriere auf der Bühne und vor der Kamera zurück.
Die Perspektive des Buchs, jedenfalls an dieser rezitierten Stelle, ist die eines aufmerksamen Kindes, das es schafft, von unten auf andere zu schauen, aber trotzdem den Überblick über alles zu haben, was um ihn herum geschieht, freie Sicht, freier Kopf, Eigensinn, Quatsch auch, ein bisschen Größenwahn, Träume. "Es ist ein Buch über die subversive Kraft eines Kindes", sagt Selge. "Mir war es wichtig, dass ein Kind erzählt. Aber das ist eine Fiktion - denn das Kind ist ja nicht mehr da. Also ist es auch eine Form von Rollenprosa - ich spiele dieses zwölfjährige Kind, das viel mit mir zu tun hat, mehr als andere Kinder -, aber es ist nicht das Kind, das ich war. Es ist eine Vorstellung."
In kurzen Kapiteln erzählt er gleich von mehreren Edgar Selges. Da ist der junge Edgar Selge, er ist hier meistens zwölf, hin und wieder auch etwas jünger, und lebt mit seiner Familie im ostwestfälischen Herford, Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre der alten Bundesrepublik.
Und da ist der Vater, er heißt auch Edgar Selge, Dr. Edgar Selge, Direktor der Jugendstrafanstalt Herford: ein Jurist, der mit seiner Frau Signe am Ende des Kriegs aus Ostpreußen nach Ostwestfalen geflohen ist. Die Selges haben fünf Söhne, von denen der zweitälteste, Rainer, als Kind beim Spiel mit einer Handgranate getötet wird und der jüngste, Andreas, als junger Mann an einer Gefäßerkrankung stirbt. Dr. Selge liebt Theater und Musik und gibt Hauskonzerte für die Gefangenen, daher die Auftaktszene, sie spielt in der Direktorenwohnung auf dem Gefängnisgelände, eine "große Totale", wie Selge es im Gespräch nennt, um das Ambiente gleich zu Anfang einzufangen, die Kinderwelt Selges: das Gefängnis, dessen Insassen und Angestellte, die Wohnung, Selges Brüder, seine Mutter, den Vater - und die Kunst. Musik und Tod sind wesentliche Leitmotive in diesem Buch.
"Ich geh mal üben, sagt mein Vater": Daran, dass Selge den Auftakt auswendig hersagen kann, merkt man natürlich, dass ein Schauspieler einen Text, den er selbst geschrieben hat, nie einfach herunterrattern würde. Er muss ihn vortragen, verkörpern. Aber vor allem erkennt man am Auswendighersagen mit konzentrierten Augen, dass es Selge in diesem Buch um alles geht. Dieser Text ist ein Herzenstext. Selge hat mit seinem Verlag lange überlegt, das Buch einen "Roman" zu nennen, wie das auch andere gemacht haben, die ihr Leben fiktionalisierten. Auch mit seinen Schwägerinnen habe er darüber gesprochen, er lebe ja, wie Selge sagt, am Rande der Schriftstellerfamilie Walser. Die Entscheidung fiel am Ende gegen den Begriff Roman. "Es ist etwas Eigenes geworden", sagt Selge, "und jetzt will ich dazu zu stehen, dass es das ist, was es ist."
Es sind jedenfalls keine Schauspielererinnerungen. Selge verneint das mit aller Entschiedenheit, auch deshalb, weil sein Buch in einer Zeitung sogar schon so angekündigt worden sei. Es sind nicht die Memoiren eines Stars, der bei Dieter Dorn an den Münchener Kammerspielen groß wurde. Der unvergessliche Auftritte in Dietl-Filmen wie "Rossini" hatte - da spielt er einen Bankbeamten, der um sein Geld betrogen wird, aber trotzdem "ein gutes Gefühl" hat, "ein gutes Gefühl!". Und der später, als einarmiger Kommissar Tauber, im Münchner "Polizeiruf" brillierte. Vom Beruf oder Berufswunsch berichtet Selge in seinem Buch fast nichts. Davon zwar, dass der kleine Edgar andere Leute gern imitiert und alle Brüder sich untereinander nachäffen, davon, dass Edgar Lügengeschichten erzählt und kreative Unruhe stiftet. Aber das Buch verfolgt einen anderen Zweck: "Gegen die ungeheure Gleichgültigkeit anzuschreiben, die sich in einem Leben ausbreitet, so wie wir es führen", so sagt es des Autor selbst. Da reden wir schon zwei Stunden, aber jetzt wird Edgar Selge noch einmal extra deutlich und ernst.
Sein Buch sei der Versuch, "noch einmal danach zu suchen: Wo warst du ganz lebendig? Deswegen ist dieser Zwölfjährige so wichtig für mich, und von dem gibt es noch einiges in mir. Das funktioniert aber nur, solange man es tut. Das ist wichtig, was ich gerade sage. Das funktioniert nur, solange man es tut: Solange man schreibt, solange man spielt, ist die Lebendigkeit da. Und das Gefühl der Intensität. Aber es geht ganz schnell vorbei. Kaum ist das letzte Wort geschrieben, kaum ist der Vorhang gefallen, saugt einen die Gleichgültigkeit wieder auf."
So, wie Selge es erklärt, hat sein Buch also doch einen performativen Charakter. Aber vor allem hat es nichts Rückwärtsgewandtes, es ist keine Vergangenheitsvergegenwärtigung um ihrer selbst willen, nicht Nostalgie, nicht sentimental. Im Akt des Schreibens - und damit im Akt des Lesens - versucht der Autor Edgar Selge einen Effekt zu erzeugen, für ihn und sein Publikum: auch das Sinnliche, das Dramatische der Erinnerung wieder zugänglich zu machen, in jedem Kapitel wieder von Neuem. Und damit auch: Vitalität freizulegen.
Selges Buch hat deswegen auch keinen herkömmlichen, abgerundeten Plot. Er habe vielmehr drauflosgeschrieben, ermutigt von Lebenserinnerungsbüchern wie denen des französischen Autors Édouard Louis. "Ich habe eben nicht gewusst, welche Geschichte ich erzähle", sagt Selge. "Ich wusste, ich will schreiben. Ich will ein Stück Leben so in meinen Sätzen abbilden, dass etwas lebendig wird. Das mich selbst zum Leben erweckt, während ich es schreibe - und hoffentlich auch die, die es dann lesen." Heraus kam ein Text, der sich aus Biographie speist, aber lebendig erst dank der erzählerischen Kraft wird, mit der er geschrieben worden ist.
Zugleich erforscht dieses Buch, wie das überhaupt gehen soll: Erinnerungen zu erzählen. "Dass mein Vater Hauskonzerte für die Inhaftierten gegeben hat, habe ich sicher fünfzigmal in Interviews erzählt", erklärt Selge. "Damit ist aber für mich nichts gesagt. Erinnerungen sind vielleicht nichtsprachlich in ihrem Kern, stecken im Körper, in der Muskulatur, im Kreislauf, in den Nerven. Und wenn man wieder an das herankommen will, was man vor sechzig Jahren einmal empfunden hat: Da reicht 'Erinnern' nicht. Dann muss man auch erfinden oder mindestens montieren. Dann kommt das Emotionale zurück."
Wie wahr muss etwas sein, um echt zu wirken? Muss man tatsächlich sogar etwas dazuerfinden, um wahrhaftig sein? Edgar Selge hat das herausragende deutschsprachige Debüt dieses Herbstes geschrieben - auch, weil er darin erprobt, was für eine Macht ein Buch besitzen kann, Grenzen zu überwinden. Die Grenzen zwischen Ort und Zeit, Leben und Tod, zwischen denen, die ein Buch lesen, und dem, der es geschrieben hat, und zuletzt die zwischen dem Autor und seinen Figuren.
Und das wäre dann der dritte Edgar Selge, von dem dieses Buch handelt: Es ist der Edgar Selge, der ein Buch schreibt und auch von der Situation erzählt, in der er das tut, der Pandemie des vergangenen Jahres zum Beispiel. Dieser Edgar Selge von heute meldet sich hin und wieder auch zu Wort, wenn es um den jungen Edgar Selge geht. "Wenn ich das lese", heißt es einmal, "fühlt sich der alte Mann wie ein erkalteter Planet, der von früheren Naturereignissen träumt." Die interessantesten und wundersamsten und schrecklichsten Dinge geschehen in diesem Buch - und alle, versichert sein Autor, sind sie wahr. "Das denkt man sich nicht aus. Deswegen hat das Buch diese Form. Das ist so, das war so, und deswegen heißen die auch so und ich auch."
Die Mutter fährt nach 255 Fahrstunden bei ihrer Führscheinprüfung in das Schaufenster ihres Herforder Lieblingsgeschäfts, das Krippenfiguren verkauft. Der Vater hat im britischen Militärgefängnis in Werl deutsche Kriegsverbrecher wie den zum Tode verurteilten und später begnadigten Generalfeldmarschall Kesselring betreut - bis die Briten den Vater wieder rauswerfen, weil er zu lasch ist. Die Eltern sind beide von Nationalsozialismus und Judenhass tief geprägt, werden diese Prägung lange nicht los, reisen dann aber später, reumütig, nach Israel. Die Mutter, auch davon erzählt Selge, besucht im hohen Alter die Wehrmachtsausstellung in München - und erleidet danach einen Magendurchbruch. Der ewig hungrige, kunstsehnsüchtige Vater schlägt den kleinen Edgar. Und hin und wieder reibt er im Vorbeigehen auch seinen steifen Penis an ihm. Mit allen seinen Söhnen hat Direktor Selge das getan. "Was soll ich dazu sagen?", antwortet Edgar Selge, wenn man ihn nach diesen sexuellen Übergriffen fragt. "Es hat sie gegeben."
Aber Selge sagt auch: "Das ist keine Abrechnung - für eine Abrechnung fehlen mir die Kraft und die Lust. Ich sehe mich nicht als Opfer, obwohl es Situationen gab, wo dieser Junge viel aushalten musste." Lange geht es am Münchener Wohnzimmertisch dann noch um das Erbe der Geschichten, das Familien von Generation zu Generation weitertragen, Kriegsgeschichten, deutsche Opfermythen, deutsche Tatverleugnung. Edgar Selge hat diese Konflikte in seinem grandiosen Buch erzählt, aber sich damit nicht von einer Last befreien müssen. Er sagt, mit jedem Satz: Wir haben nur dieses eine Leben, also leben wir es.
TOBIAS RÜTHER.
Edgar Selge, "Hast du uns endlich gefunden". Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro. Ab 19. Oktober im Handel.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Es ist 1960, der Zweite Weltkrieg ist noch gar nicht so lange her, der zwölfjährige Edgar lebt mit Eltern, den älteren zwei Brüdern Werner und Martin sowie dem jüngeren Andreas neben der Jugendstrafanstalt, in der sein Vater Gefängnisdirektor ist. Musik spielt in der …
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Es ist 1960, der Zweite Weltkrieg ist noch gar nicht so lange her, der zwölfjährige Edgar lebt mit Eltern, den älteren zwei Brüdern Werner und Martin sowie dem jüngeren Andreas neben der Jugendstrafanstalt, in der sein Vater Gefängnisdirektor ist. Musik spielt in der Familie eine große Rolle, täglich wird musiziert und regelmäßig werden Hauskonzerte veranstaltet. Edgar ist ein neugieriges Kind, das aber trotzdem lieber für sich bleibt und in seiner Phantasiewelt lebt. Der vergangene Krieg wird ungerne thematisiert und falls doch, führt dies regelmäßig zu Streitgesprächen zwischen dem Vater und den älteren zwei Brüdern.
Eine ungewöhnliche Erzählweise hat der Autor gewählt. Der zwölfjährige Edgar weicht manchmal dem älteren Mann, zu dem er herangewachsen ist, der sich darüber mokiert, aufgrund der Pandemie geschützt werden zu müssen. Dies geschieht fließend, manchmal mitten im Kapitel, ist aber nie verwirrend oder lässt mich im Unklaren zurück. Es ist, als ob Edgar mir seine Geschichte erzählt und jeden Gedanken, der ihn ereilt, sofort verfolgen und mir darlegen muss. Es sind raue Zeiten, die Erziehung hart und nicht immer kindergerecht. Dazu kommt, dass Edgar kein einfaches Kind ist, seltsam entrückt und eigensinnig ist er, lügt, stiehlt und sieht sich meistens im Recht. Natürlich rechtfertigt dies alles nicht, gezüchtigt zu werden. Es sind andere Zeiten, rau und ungerecht.
„Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben. Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“ (Seite 131)
Edgar testet immer wieder seine Grenzen aus, als Kind bereits, aber auch immer noch als erwachsener Mann. Die Aufarbeitung der Vergangenheit seiner Eltern ist ihm wie ein Zwang, auch hier übertritt er Grenzen, ist sich dessen bewusst und bereut, um es das nächste Mal genauso zu machen.
„Seine Angst geht mir nahe. Und ihre Pflichterfüllung, ihre nicht ausgelebte Wut über diese Pflichterfüllung, erschreckt mich so sehr, dass ich ihre Liebe ganz vergesse.“ (Seite 237)
Was für ein wunderbares Buch, ganze Sätze wollte ich markieren, rausschreiben und behalten. Die Erzählweise ist so intensiv, so eindringlich, oft war es für mich sehr emotional und schwer auszuhalten, wenn es erzählt, dieses manchmal so undurchschaubare Kind. Edgar urteilt nicht, weder verurteilt, noch beurteilt er. Er erzählt und stellt fest, er spricht zum toten Vater, erklärt gedanklich etwas einem der Brüder, er reflektiert sein Verhalten und stellt sich so bloß. Dies ist dermaßen interessant und spannend, dass ich gerne weiter zugehört, dringend weitere Episoden erfahren hätte aus seinem Leben. Ich wäre für eine Fortsetzung bereit. Volle Punktzahl und eine Leseempfehlung gibt es dafür von mir.
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Momentan ist es sehr beliebt, sich autobiografisch mit seinem Leben auseinanderzusetzen - was dem Leser wiederrum neben tiefen privaten auch Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt des Autors ermöglicht.
Nun also das Buch "Hast du uns endlich gefunden" des bekannten …
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Momentan ist es sehr beliebt, sich autobiografisch mit seinem Leben auseinanderzusetzen - was dem Leser wiederrum neben tiefen privaten auch Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt des Autors ermöglicht.
Nun also das Buch "Hast du uns endlich gefunden" des bekannten Schauspielers Edgar Selge.
In Erwartung der durch den Titel suggeriertenThematik war der Einstieg für mich recht zäh und ich war kurz davor abzubrechen. Zum Glück habe ich mich jedoch durchgerungen weiter zu hören, denn mit dem Hörfortschritt wurde das Buch für mich zunehmend interessanter. Eine Verbindung des Titels mit dem Inhalt konnte ich jedoch nicht wirklich herstellen.
Nach dem etwas unspektakulären Einstieg mit der Arbeits- und Familiensituation dringt der Autor immer tiefer in die Problematik der Nachkriegsjahre, in der neue politische Ausrichtungen mit der Vergangenheit, explizit bestimmten Personen, korrelieren, alle alten Werte falsch plötzlich falsch sind und man seinen Platz erst wieder finden muss. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Eltern, deren tief verwurzelten Ansichten immer wieder zu Konflikten mit den Söhnen führen, die auch über die Vergangenheit reden wollen, anstatt sie totzuschweigen. Es wird sehr deutlich, das es noch ein weiter und schwerer Weg sein wird, sich diesem Thema unbefangen stellen zu können, die Auswirkungen des Krieges noch lange in die Gegenwart ausstrahlen werden.
Der Autor liest sein Buch selbst - und das ist in meinen Augen (oder wohl besser Ohren) sehr gelungen. Es ist vor allem die angenehme Stimme des alten Mannes, der zurückblickend mit viel Schalk von seiner Kindheit und Jugend erzählt, die sehr fesselt. Dadurch wirken die Schilderungen sehr authentisch.
Hatte ich anfänglich noch Schwierigkeiten mit dem Buch, war ich zum Schluss schon fast traurig, das es zu Ende war. Ich hätte Edgar Selge noch ewig zuhören können.
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Die Erinnerungen des Schauspielers Edgar Selge beginnen1958, als er 10 Jahre alt war.
Er erzählt von seiner Kindheit. Ganz zentral im Blickpunkt stehen dabei seine Eltern, vor allen sein charismatischer Vater, ein Direktor eines Jugendgefängnisses, der sich sehr um seine jugendlichen …
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Die Erinnerungen des Schauspielers Edgar Selge beginnen1958, als er 10 Jahre alt war.
Er erzählt von seiner Kindheit. Ganz zentral im Blickpunkt stehen dabei seine Eltern, vor allen sein charismatischer Vater, ein Direktor eines Jugendgefängnisses, der sich sehr um seine jugendlichen Insassen kümmert.
Edgar Selge liest den Text selber ein und dadurch wird umso mehr die Sympathie spürbar, die er für seine Familie empfand, aber auch für das nicht immer brave Kind, das er war.
Klassische Musik ist in der Familie wichtig, auch für Edgar, aber mehr noch lebt er für das Schauspiel und er schildert viele Passagen als kleine Dramen und fast immer voller Witz.
Manchmal sind aber auch ernste Themen dabei, z.B. Edgars schwierige Beziehung zum Vater. Er wurde als Kind häufig vom Vater geschlagen wurde oder immer wieder die schwierige Vergangenheitsbewältigung.
Die sechziger Jahre werden spürbar.
Als Zuhörer ist man stark von den Episoden gefangengenommen.
Es sind Erinnerungen von Ausmaßen eines Marcel Proust, aber mit Tempo und sehr unterhaltsam. Die 8,5 Stunden Spieldauer des Hörbuchs vergehen wie im Flug.
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„Edgar Selge … wer ist das nochmal?“ Der Name sagte mir nichts, da musste ein Bild her. Gesagt, getan und wer grinste mir da auf einmal ganz verschmitzt entgegen? Der einarmige Polizeiruf 110 Kommissar Jürgen Tauber! Und schon wurde die Sache höchstinteressant, denn er …
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„Edgar Selge … wer ist das nochmal?“ Der Name sagte mir nichts, da musste ein Bild her. Gesagt, getan und wer grinste mir da auf einmal ganz verschmitzt entgegen? Der einarmige Polizeiruf 110 Kommissar Jürgen Tauber! Und schon wurde die Sache höchstinteressant, denn er hat seinen autofiktionalen Roman nicht nur selbst geschrieben, sondern auch selbst gelesen. Meist geht das schief, denn Autoren sind keine Sprecher, wie eben auch Sprecher keine Autoren sind. Anders gelagert ist das bei Edgar Selge, der dank seiner fundierten Schauspielausbildung durchaus vortragen kann. So erzählt er dann über unterhaltsame achteinhalb Stunden die Geschichte seiner Familie und welche Rolle ihm darin zuteilwurde. Oft reduzierte sie sich ein wenig auf die des Außenstehenden. Zu jung, um mit dem Vater Debatten zu führen und wiederum zu alt, um Mutters Nesthäkchen zu sein. Auch leidet er oft unter der Strenge der Eltern, besonders der des Vaters, der gerne auch mal den Gürtel als Mittel der Bestrafung wählt. Der Vater führt schon von Berufswegen ein unnachsichtiges Regiment und zeigt selten emotionale Regungen. Zuhause fünf Söhne und im Gefängnis ein ganzes Regiment von Delinquenten, da schien ihm ein hartes Durchgreifen erforderlich. Die Familie ist aber auch geprägt durch ihr wunderbares musikalisches Talent und die vielen Hauskonzerte, die regelmäßig stattfinden und so wächst der junge Edgar zwischen Butterbrot und Peitsche auf, muss denn herben Verlust zweier Brüder verschmerzen und so ganz nebenbei auch noch zu sich selbst finden.
Ich habe es geliebt ihm zuzuhören, war nicht eine Minute gelangweilt oder gar enttäuscht und vergebe gerne mit fünf Sternen die Bestnote. Wer Edgar Selge auf seine Rolle des Kommissars reduziert, tut ihm wirklich unrecht. Er ist ein intelligenter und ehrgeiziger Mensch, der stets auch das Wohl der anderen im Sinn hat. Ich habe mich jedenfalls gefreut, durch das Hörbuch nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht zu haben und empfehle sein Buch – besonders in der Hörbuchfassung - gerne weiter.
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Broschiertes Buch
Wie nannte er das Werk? "Biografische Fiktion"? Einerseits gut zu lesen, trotz der etwas ermüdenden Einseitigkeit, Ichbezogenheit hauptsächlich in Bezug auf das große Trauma: Der prügelnde Vater, mit dem er aber auch lachen kann. Ob dessen sexuelle Versuche bei den …
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Wie nannte er das Werk? "Biografische Fiktion"? Einerseits gut zu lesen, trotz der etwas ermüdenden Einseitigkeit, Ichbezogenheit hauptsächlich in Bezug auf das große Trauma: Der prügelnde Vater, mit dem er aber auch lachen kann. Ob dessen sexuelle Versuche bei den älteren Brüdern weiterkamen, bekommt der Leser nicht heraus. Sollen Krieg, juristische Bildung, musikalisches Talent den Familientyrannen, der sich hinter völkisch geprägter Erziehungsideologie versteckt, entschuldigen? Anfangs mehr in Kindersprache, als später. Natürlich kann der vorletzte Sohn der Eltern stolzes Mitmachen nicht beschreiben, aber er hätte erzählen können, was seine Brüder darüber wussten. Passend dazu die Magenstiche der Mutter, deren Leben in einem schwachen Moment die Wendung in die persönliche Sackgasse nimmt. Aber ab wann erkennt sie die, regelmäßig einmal im Jahr?
Trotz wertvoller Stellen, meist flapsig formuliert, wirkt alles fragmentarisch, darstellend, ohne Antworten, Deutungen, Festlegungen - butterweich.
Gelungen ist die Musikbeschreibung zu Dvoraks Cellokonzert, das Werner übt, aber vielleicht auch nur weil ich es gut im Kopf habe.
Wie immer spart die scheinbar gepflegte Offenheit auch Dinge aus, über die man trotz aller freimütiger anderer Erzählungen nichts verlauten lässt. Da wirkt Scham. Warum manchmal ehrlich, aber bei anderen Schilderungen nicht?
So sehr diese Selbsterkenntnis mutig und soweit sie bewundernswert ist, sowenig ist es literarisch, zu sehr wird die Fiktion durch Realismus verwischt.
Der Verkauf lebt natürlich von der Fernsehbekanntheit und die harmlose, unkritische Nennung von Coronamaßnahmen, ist ein weiterer Hinweis auf Feigheit, unter der seine Eltern nicht litten.
Vielleicht liegt da der direkte Wert? Die Elternart des "damals kann nicht alles falsch gewesen sein", gibt ihm keine Idee, von dem, was in der alten Bundesrepublik mit Grundgesetz, freier Meinungsäußerung und öffentlich-rechtlichem Rundfunk auch nicht falsch gewesen sein kann, er aber ohne Rührung aufgegeben hat.
Eine Feigheit im Mut der Bekenntnis, wie soll man bewerten? Also kein Vergleich zu Juli Zeh, was weiteren Punktabzug in Sachen Glaubwürdigkeit ergibt.
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Broschiertes Buch Diese Biographie beeindruckt in Sprache und Stil.Tiefe,mitfühlende Blicke in das Familien- und Seelenleben eines Heranwachsenden bauen eine große emotionale Spannung auf, der man sich nicht entziehen kann.
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