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Wie kann man nur, Buch für Buch, ein Meisterwerk nach dem anderen schaffen? Mit seinem neuen Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" ist es dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami wieder einmal gelungen.
Heute erscheint die deutsche Übersetzung des jüngsten Romans von Haruki Murakami, und am Sonntag wird der erfolgreichste japanische Schriftsteller 65 Jahre alt. Doch wie "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" beweist, ist Murakami jung geblieben: jung, weil es ein Buch ist, das einem das faszinierende Gefühl von einem Autor vermittelt, der sich immer noch selbst zu überraschen versteht, und jung auch deshalb, weil Murakami trotzdem an Themen und Konstellationen anknüpft, die am Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn standen.
Das mag seinen Grund im Atemholen nach dem dreiteiligen Opus magnum "1Q84" haben, das im Original 2009 und 2010 erschien und in der deutschen Übersetzung mehr als 1500 Seiten umfasst. Ein solcher Wurf ist nicht zu wiederholen. Darin war ein neuer Murakami zu finden, der wie selbstverständlich das Phantastische zum Bestandteil der Handlung machte, Japans Sagenwelt einbezog, auf klassische Erzählmuster seiner Heimat rekurrierte. Das strafte jene Interpreten Lügen, die gebetsmühlenartig die Rede vom "westlichen Japaner" wiederholen.
Ja, Murakami ist nicht nur ein gegenwärtiger Meister der Weltliteratur, er hat sich auch an seinen Vorgängern geschult. Aber mit "1Q84" hatte er auch die Anstrengung zu vollbringen, divergierende Genres und Traditionen miteinander zu verknüpfen und das doch so leichthändig wirken zu lassen, wie es das Markenzeichen seines Erzählens ist. Wobei die Basis von Murakamis Schaffen stets der Abgrund ist. Und wir als Leser tänzeln mit seinen Figuren daran entlang, ohne zu wissen, wie uns geschieht. Das ist die Murakami-Masche.
Sie funktioniert perfekt. Im Zentrum von "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" steht ein Verbrechen, das nie aufgeklärt wird. Durch Umstände, die gleichfalls nie aufgeklärt werden, ist der damals zwanzigjährige Tsukuru Tazaki aus seiner Clique gerissen worden, der seit der Schulzeit fünf Jugendliche angehörten: zwei Mädchen und drei Jungen. Sechzehn Jahre später bemüht sich Tsukuru endlich darum zu klären, was ihm seinerzeit widerfahren ist und ihn an den Rand des Selbstmords brachte - aber eben auch nicht darüber hinaus. In unnachahmlichem Murakami-Tonfall, den wir seiner Übersetzerin Ursula Gräfe verdanken, heißt es gleich zu Beginn des Buchs: "Vielleicht war seine Sehnsucht nach dem Tod zu wahrhaftig und zu tief, um tatsächlich den Versuch zu machen, sich umzubringen. Auch wenn dieses Problem eher zweitrangig war. Hätte es in seiner Reichweite eine Tür gegeben, die direkt in den Tod führte, er hätte sie ohne Zögern aufgestoßen. Ohne zu überlegen, als natürliche Konsequenz. Doch glücklicher- oder unglücklicherweise konnte er eine solche Tür nicht finden."
Es bleibt meist offen bei diesem Schriftsteller, ob die Dinge Glück oder Unglück bedeuten, vor allem die Liebe. Für diese Erkenntnis aber benötigt Murakami Protagonisten, die schon die notwendige Lebenserfahrung haben. So ist denn auch Tsukuru im Lieblingsalter seines Autors: Mitte bis Ende dreißig. Toru, der Protagonist aus Murakamis erstem internationalen Erfolg, "Naokos Lächeln" (1987), war siebenunddreißig, genauso wie Hajime aus "Gefährliche Geliebte" (1992), dem Buch, mit dem der Japaner in Deutschland bekannt wurde, als es vor dreizehn Jahren übersetzt wurde. Tsukuru nun ist sechsunddreißig.
Das ist kein Zufall, und diese drei Romane haben noch mehr miteinander zu tun als nur die Lebensphase, in der sich ihre Helden befinden. Alle drei Bücher tragen im japanischen2 Original ein Musikstück im Titel, doch das wurde in zwei Fällen von den deutschen Fassungen verleugnet, die mit Verweisen auf die jeweils zentrale Liebeshandlung locken wollten. "Naokos Lächeln" heißt in Japan nach einem Lied der Beatles "Norwegisches Holz" (noruwei no mori), "Gefährliche Geliebte" ist eigentlich "Südlich der Grenze, westlich der Sonne" benannt - die erste Hälfte verdankt sich dem Titel des Standards "South of the Border" von Nat King Cole.
Immerhin trägt dieser Roman seinen authentischen Titel seit vergangenem Jahr endlich auch auf Deutsch, denn Dumont, Murakamis hiesiger Verlag von Beginn an, hat ihn noch einmal übertragen lassen, diesmal von Ursula Gräfe aus dem Japanischen, nachdem 2000 aus Bequemlichkeit noch die englische Übersetzung herangezogen worden war, was damals eine heftige Diskussion über die Zulässigkeit einer solchen Version aus zweiter Hand ausgelöst hatte. Für die willkürliche Änderung des Titels durch den deutschen Verlag - im Englischen heißt er originalgetreu "South of the Border, West of the Sun" - hatte sich dagegen niemand interessiert.
Dabei ist Murakami ein Autor, der es wie kaum sonst einer beherrscht, Stimmungen zu erzeugen, auch und gerade durch Namen. Seine Bücher sind für ihn dabei mindestens ebenso sehr Persönlichkeiten wie deren Figuren, und ihre Titel sind deshalb im buchstäblichen Sinne bezeichnend. Die "Pilgerjahre" aus dem jüngsten Werk zitieren Franz Liszts 1855 veröffentlichte "Années de pèlerinage", einen Zyklus von Klavierstücken, den Tsukuru in seiner Studentenzeit kennenlernte, nach der Verstoßung aus dem Freundeskreis. Besonders beeindruckte ihn davon "Le mal du pays", weil es so genau dem eigenen Zustand entsprach: "Allgemein heißt das so etwas wie Heimweh oder Sehnsucht, aber genaugenommen ist es die ,grundlose Traurigkeit, die eine ländliche Idylle im Herzen der Menschen weckt'. Der Ausdruck ist schwer zu übersetzen."
In "Südlich der Grenze, westlich der Sonne" gibt es eine ähnliche Affinität zur Musik, zum Titelstück wie zu einem anderen amerikanischen Klassiker, "The Star-Crossed Lovers" von Duke Ellington. Sobald das Stück erklingt, erinnert sich auch Hajime an sein Dasein als Student, und man darf angesichts der Wiederkehr dieses Motivs ein autobiographisches Bekenntnis Murakamis darin sehen: "Wann immer die träge, schöne Melodie ertönte, musste ich an diese Zeit denken. Ich konnte nicht behaupten, dass sie glücklich gewesen war. Mein Leben war damals voller unerfüllter Sehnsüchte gewesen. Ich war jünger, hungriger und einsamer, aber auf eine einfache, klare Weise ich selbst. Damals spürte ich, wie jeder Ton der Musik, die ich hörte, jede Zeile der Bücher, die ich las, in mich eindrang. Meine Sinne waren scharf wie Klingen. In meinem Blick leuchtete ein helles Licht, das andere durchdrang. So war ich damals." Diese letzte lapidare, aber entscheidende Bekräftigung fehlte übrigens in "Gefährliche Geliebte", der ursprünglichen Übersetzung des Romans aus dem Englischen.
Man muss die Spuren ernst nehmen, die Murakami in seinen Details auslegt, namentlich in der Musik. Wenn man sich "Le mal du pays" anhört, wird man verstehen, was Tsukuru daran so bewegte. Das Stück beginnt mit einer klagenden Folge von jeweils vier Tönen, und natürlich wird damit die Erinnerung an die vier verlorenen Freunde evoziert. Zudem entstammt das Stück dem ersten Teil von Liszts "Années de pèlerinage", der mit "Suisse" betitelt ist. Die Schweiz aber weckt bei Japanern die Assoziation mit Schnee, und damit sind wir beim "Weiß", wie jenes der beiden Mädchen der Clique auf Japanisch gerufen wurde, in das Tsukuru verliebt war: Shiro (weiß) als Kurzform ihres Nachnamens Shirane (weiße Wurzel). Das andere Mädchen hieß mit Familiennamen Kurono (schwarzes Feld), die beiden Jungen Akamatsu (Rotkiefer) und Oumi (blaues Meer). Nur Tsukuru Tazaki trägt keine Farbe im Namen.
Solch ein Namensspiel mag dem westlichen Leser gesucht wirken, doch die meisten japanischen Namen sind derart sprechend. Auch das ungewöhnliche "1Q84" als Romantitel ist für Murakamis Landsleute sofort verständlich, weil es, japanisch ausgesprochen, genauso klingt wie "1984". Doch über die Vieldeutigkeit der asiatischen Sprachen hinaus ist der Verweis auf die Farben im neuen Buch auch hochsymbolisch. Weiß ist in Japan die Farbe des Todes, und es ist kein Zufall, dass Shiro diesen Namen trägt. Und wenn man über die Farbe nachdenkt, die Tsukuru in diesem Quintett zukäme, so bliebe angesichts von Schwarz, Weiß und den beiden Grundfarben Blau und Rot nur noch Gelb. Das aber ist in Japan die Farbe des Kaisers.
Tsukuru ist gar nicht farblos, er empfindet sich nur so, dabei ist er die farbigste Figur. Kompensation findet er wie auch schon Hajime in "Südlich der Grenze, westlich der Sonne" in erotischen Träumen, doch sie sind verstörend. In ihrer surrealen Welt findet Murakami zu einer Beschreibungsgenauigkeit, die nicht anders genannt werden kann als unheimlich. Ihm gelingt es, Traum und Wirklichkeit in seinen Büchern so ineinander übergehen zu lassen, dass die Grenzen verschwimmen und die Nachtmahre zutage treten. Ein Musterbeispiel dafür ist Murakamis Erzählung "Die unheimliche Bibliothek" aus dem Jahr 2005, die jetzt erstmals auf Deutsch publiziert wird, eigens illustriert von der Berliner Zeichnerin Kat Menschik, die bereits zwei andere Geschichten des Schriftstellers grandios bebildert und ihn damit auch selbst begeistert hat.
"Die unheimliche Bibliothek" erzählt von einem Halbwüchsigen, der sich Bücher ausleihen will und vom Bibliothekar in die tiefsten Keller des Gebäudes verschleppt wird, wo man ihn fortan gefangen hält. In der Person eines ihn mit Essen versorgenden Schafmanns, der direkt der japanischen Geisterwelt der yokai entsprungen sein könnte, findet der Junge eine Vertrauensperson, die ihm zur Flucht verhilft. Doch draußen scheint die Zeit stillgestanden zu sein, und ob alles nicht doch nur ein Traum war, kann nicht einmal der Erzähler selbst entscheiden, dem das Schlimmste noch bevorsteht.
Es sind auch solche Kabinettstückchen der Erzählkunst, die Murakami als einen Meister erweisen, der zu Recht seit Jahren als der heißeste Favorit auf den Literaturnobelpreis gilt. Mit jedem Buch, das er beim Warten auf die überfällige Auszeichnung schreibt, beschämt er das Nobelpreiskomitee aufs Neue.
"Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" endet mit einer der hoffnungsvollsten Erkenntnisse, die Murakamis Protagonisten bislang vergönnt gewesen sind: "Nicht alles verschwindet im Fluss der Zeit", stellt Tsukuru fest. "Damals haben wir bedingungslos an etwas geglaubt. Wir hatten die Fähigkeit, an etwas zu glauben. Sie kann doch nicht so einfach völlig verschwunden sein." Die Zuversicht der Jugend - das ist das, was alle Figuren in diesen Büchern zu bewahren suchen. Das macht die Murakami-Masche so ewig jung.
ANDREAS PLATTHAUS
Haruki Murakami: "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki". Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2014. 318 S., geb., 22,99 [Euro].
Haruki Murakami: "Südlich der Grenze, westlich der Sonne". Roman.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2013. 224 S., geb., 16,99 [Euro].
Haruki Murakami: "Die unheimliche Bibliothek". Mit Illustrationen von Kat Menschik.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2013. 64 S., 20 Abb., geb., 14,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Der neue Roman des japanischen Autors Haruki Murakami ist da:
„Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ ist ein großes Buch voller Ruhe und Spannung
VON BURKHARD MÜLLER
Fünf Elemente kennt das japanische Denken. Vier davon fallen auch einem Europäer problemlos ein: Erde, Wasser, Feuer, Luft. Das fünfte aber gehört dem Osten allein. Es ist die Leere, das am schwersten zu greifende, und doch die eigentliche Quintessenz.
Fünf Freunde haben sich in diesem neuen Buch von Haruki Murakami zusammengefunden, noch während ihrer Schulzeit. Sie genießen die Vorstellung, dass ihr Bund sich in vollkommener Harmonie vollzieht, wie es Menschen nur selten gelingt. Alles unternehmen sie gemeinsam, geradezu ungehörig wäre es, wenn sich etwa zwei privat treffen wollten. Drei sind Jungen, zwei Mädchen – aber die erotische Komponente, die sich bei einer solchen Gruppe von Siebzehnjährigen sonst wohl automatisch einstellen würde, wird von allen sorgsam ausgeblendet, aus Furcht, die vollkommene Fünfzahl zu gefährden.
Vier der Freunde tragen Nachnamen, in denen japanische Farbbezeichnungen enthalten sind: Akamatsu, die Rotkiefer; Oumi, blaues Meer; Shirane, weiße Wurzel; Kurono, schwarzes Feld. Abkürzend allein mit diesen Farben rufen sie einander: Zwei der Jungs heißen Aka und Ao, Rot und Blau also, die beiden Mädchen Shiro und Kuro, Weiß und Schwarz. Nur der fünfte, Tsukuru Tazaki, hat nichts Buntes im Namen, der einfach so viel wie „Macher“ bedeutet. Darunter leidet er sehr. Aus seiner Sicht und aus dem Nachhinein wird der Roman erzählt, der darum auch den Titel trägt: „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ – im japanischen Original, wohl noch umständlicher: „Shikisai wo motanai Tazaki Tsukuru to, kare no junrei no toshi“. Alles scheint also auf eine kosmologische Parabel zuzusteuern. Dass das Buch diese Dimension nicht verliert und dennoch eine zwar ungewöhnliche, aber glaubwürdige und in der alltäglichen Erfahrung wurzelnde Geschichte herauskommt, ist der Kunst Murakamis zu verdanken. Gibt es einen anderen lebenden Autor, der so ruhig und knapp und gleichzeitig mit so viel emotionaler Kraft zu erzählen vermag wie er? Man braucht kein Japanisch zu können, um zu spüren, wie seine Übersetzerin Ursula Gräfe diese gewiss schwer zu vermittelnde Qualität auch im Deutschen zur Entfaltung bringt. In Murakamis mehrbändigem Riesenwerk „1Q84“ war Platz für mancherlei Schnörkel und Längen gewesen. Davon ist hier jede Spur getilgt; trotz seiner mehr als 300 Seiten bewegt sich das Buch mit der unbeirrten Geradlinigkeit einer Novelle.
In seinem Mittelpunkt steht ein trauriges und schreckliches Geheimnis. Das Buch setzt ein sechzehn Jahre nachdem der Freundschaftsbund zerbrochen ist. Tsukuru hatte damals als einziger der fünf ihre gemeinsame Heimatstadt Nagoya zum Studium verlassen und war nach Tokio gegangen. Nagoya ist zwar mit mehr als acht Millionen Einwohnern der drittgrößte städtische Ballungsraum Japans, aber sein Name taucht im Ausland wenig auf. Es scheint so etwas wie das unbeachtete Normal-Japan zu verkörpern, urban zugleich und provinziell, wo Leute ohne besonderen Ehrgeiz ein behagliches Leben führen können. Doch als Tsukuru eines
Tages zu Besuch heimkehrt (nur eineinhalb Stunden mit dem ultraschnellen
Shinkansen-Express), findet er alles verändert. Seine Freunde haben sich von ihm radikal abgewandt, sie lassen sich am Telefon verleugnen und verweigern ihm
jede Erklärung: Er wisse schließlich selbst am besten, was los ist. Aber er weiß es nicht und versinkt in eine tiefe Depression. Er isst nicht mehr und denkt jeden Tag an
den Tod.
Nach und nach gelingt es ihm wieder, ein einigermaßen geregeltes Leben zu führen, er geht ganz in seinem Beruf als Ingenieur von Bahnhöfen auf, schwimmt jeden Tag eine große Strecke und bleibt ansonsten einsam, ohne dass er noch besonders darunter litte – bis er im Alter von 36 auf die ein wenig ältere Sara trifft. Sie merkt, dass mit diesem Mann, den sie sehr mag, etwas nicht stimmt, und ermutigt, ja zwingt ihn geradezu, dem alten Geheimnis nachzugehen.
So wird es, trotz der großen Ruhe seines Tons, ein sehr spannendes Buch. Zuerst sucht Tsukuru die beiden anderen Männer auf, Aka und Ao, was nicht weiter schwer ist, denn sie sind in Nagoya geblieben und betreiben einen Handel für Autos der Marke Lexus respektive eine erfolgreiche Beratungsfirma; den Kontakt miteinander haben sie längst verloren. Von den beiden hört Tsukuru endlich, was sein damaliges Vergehen gewesen sein soll: Shiro hat ihn vor den anderen bezichtigt, sie bestialisch vergewaltigt zu haben.
Dass das nicht stimmt, glauben sie ihm erst jetzt. Aber von seiner Schuld fühlt sich Tsukuru dennoch nicht erlöst, denn von Shiro hat er bis in die Gegenwart intensiv erotische Träume. Es ist also etwas dran an dieser Behauptung, nur eben nicht das, was alle gemeint haben. Tsukuru erfährt, dass Kuro nunmehr in Finnland lebt, und dass Shiro in ihrer Wohnung einem grässlichen Mord zum Opfer gefallen ist – weder einem Raub- noch einem Lustmord, das Motiv bleibt dunkel und der Täter wurde nie gefasst. Das Rätsel, halb gelöst, beginnt sich neuerlich zu vertiefen.
Tsukuru, Mann der Eisenbahnen, der noch nie geflogen ist, entschließt sich, nach Finnland zu reisen, um Kuro aufzusuchen; der Leser, der ahnt, dass sie den Schlüssel zum Ganzen in der Hand hat, wird mit den Details der Reise aufs schönste hingehalten. Wie Murakami die
Freundlichkeit eines Landes einem einsamen Fremden gegenüber darzustellen weiß, und sei es nur in Gestalt einer unerwartet wohlschmeckenden Pizza,
gehört zu den unscheinbaren Höhepunkten des Buchs.
Er findet Kuro in ihrem Haus an einem See, wo sie mit ihrem finnischen Mann, den zwei Töchtern und einem lustigen Hund den Sommer verbringt. Und ja, Tsukuru erfährt, was er wissen will. Nur so viel sei gesagt, dass es sich um etwas Ungeheuerliches handelt, das ihm aber dennoch hilft, den erstarrten Kern seines Wesens endlich aufzuschmelzen. Auch gehen ihm die Grenzen ihres alten gemeinsamen Ideals auf. Harmonie ist nicht alles, und schon gar nicht die tiefstmögliche Verbindung zwischen Menschen, welche sich vielmehr, wie es hier heißt, zwischen Wunde und Wunde, von Schmerz zu Schmerz, von Schwäche zu Schwäche einstellt. Nach der Begegnung steht endlich der Weg offen für Tsukurus eigenes Liebesglück – obwohl ein Körnchen Ungewissheit bleibt, das einem Buch wie diesem gut ansteht. Ganz geheimnislos endet es nicht.
Die emotionale Kraft dieses Buchs ist nicht leicht zu verorten. Am meisten konzentriert sie sich in den Dialogen. Da es schwerfällt, direkt davon zu sprechen (und Japanern anscheinend noch mehr als anderen), nehmen die Gefühle den Umweg über die Dinge. Man lernt bei Murakami viel über dieses japanische Ding-Universum, in dem erlesene Einzelstücke die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Kuro (die sich inzwischen lieber bei ihrem eigentlichen Vornamen Eri nennen lässt) und ihr Mann sind Töpfer geworden; jeder von beiden hat seinen eigenen Stil gefunden, der ihn ganz ausdrückt. Lang verweilen Tsukuru und die Erzählung bei diesen Kunstwerken aus Keramik. Er nimmt eines zur Hand und spricht von sich selbst als einem leeren Gefäß: So fühle sich sein Leben an.
„,Und selbst wenn du ein leeres Gefäß bist, was macht das schon?‘, sagte Eri.
‚Dann bist du eben ein ganz wunderbares, attraktives Gefäß. Wer kennt schon die Wahrheit über sich selbst? Es genügt doch, ein Gefäß mit einer wunderschönen Form zu sein. Das so unwiderstehlich ist, dass man unwillkürlich Lust bekommt, etwas hineinzutun. Meinst du nicht?‘ Tsukuru dachte nach. Er verstand, was Eri sagen wollte.“ Auch die Musik spielt in diesem japanischen Kosmos offenbar eine solche Ding-Rolle, besonders die titelgebenden „Années de Pèlerinage“ von Liszt; sie hilft den Menschen in diesem Buch dabei, einander zu verstehen, indem sie etwas in die Leere hineintun. Jenseits der ganzen modernen Technologie scheint sie das eigentliche Geschenk Europas an dieses von Natur aus verschlossene asiatische Land gewesen zu sein: ein Element, das ihm bis dahin gefehlt hatte.
Harmonie ist nicht alles,
lautet die Botschaft des Autors
an seine Landsleute
Die Heimatstadt der Hauptfigur in Murakamis Roman: Nagoya, mit acht Millionen Einwohnern der drittgrößte Ballungsraum in Japan. Mit Tokio ist es durch den ultraschnellen Shinkansen-Express verbunden. Die Stadt taucht die Menschen in ihr Farbenspiel.
Foto: Getty Images/amana images RF
Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Buchverlag, Köln 2014. 350 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 18,99 Euro.
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