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Haruki Murakamis Roman „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt”
Nach der Lektüre dachte ich: Dieses Buch könnte ich mit erstaunlich geringem Aufwand meinem 15-jährigen Sohn beschreiben. Stell dir vor, würde ich sagen, zwei Romane, ineinander geschoben wie ein Kartenspiel, Kapitel für Kapitel abwechselnd. Der eine Roman, „Hard-Boiled Wonderland”, ist eine Mischung aus einem Mystery- und einem Jump-and-Run-Spiel für den PC. Allmählich entwickelt sich eine äußerst vertrackte Geschichte um Datenverschlüsselung und Datenklau, um neuronale Manipulationen und natürlich um den Krieg zweier Banden oder Systeme mit dem nicht geringen Kriegsziel: Weltherrschaft. Der Held des Spiels, unversehens mitten in die Ereignisse geraten, trägt nach und nach die Teile dieser Geschichte wie die eines Puzzles zusammen, nicht zum wenigsten aber muss er sich mit unterirdischen Schwärzlingen und oberirdischen bad Guys herumschlagen.
Der andere Roman, „Das Ende der Welt”, ist dagegen klassische Fantasy: Ein Mann findet sich in einer seltsamen, vollkommen in sich geschlossenen Welt gefangen. Von seiner Erinnerung in Form seines Schattens getrennt, beginnt er seine Seele zu verlieren, doch er rebelliert gegen diese innere Auslöschung und plant die Flucht aus der Stadt als eine Flucht aus der Seelenlosigkeit. Am Ende aber entscheidet er sich doch fürs Bleiben, aus Liebe zu einer Frau, mit der zusammen er ein, nun ja, richtiges Leben im Falschen versuchen will.
Und jetzt der Clou: Liest man die beiden Texte Kapitel für Kapitel abwechselnd, so versteht man allmählich, dass der Held aus dem PC-Spiel und der aus dem Fantasy-Roman ein und dieselbe Person sind, einmal vor und einmal nach den Folgen des Eingriffs in sein Gehirn. - Nach dieser Beschreibung würde sich mein Sohn wahrscheinlich für das Buch interessieren. Zumal er Murakamis „Kafka am Strand” und „Gefährliche Geliebte” schon gelesen und „richtig gut” gefunden hat.
Ich selbst hingegen mag beides nicht so sehr: Gewisse PC-Spiele und Fantasy-Romane. Die einen opfern in der Regel selbst die dünnste Story dem puren Aktionismus und der grafisch attraktiven Oberfläche. Die anderen huldigen hingegen dauernd und lautstark ihren stofflichen Erfindungen und folgen dabei einer Poetik des universellen „Du darfst”, sprich: die Einfälle reihen sich in fröhlicher Willkür aneinander, bis am Schluss alles, was nicht passt, passend gemacht wird. So als spiele man Schach nach Regeln, die Zug für Zug geändert werden, während allmählich auch die anderen Figuren aus der Großen Spielesammlung mittun dürfen. Ich will ganz offen sein: für mich ist das keine Literatur.
Nun täte ich Haruki Murakami freilich Unrecht, wenn ich aus solch persönlichen Prämissen ein Urteil über „Hard-Boiled Wonderland und Das Ende der Welt” entwickelte. Natürlich ist sein Doppel-Roman mehr als Game plus Fantasy - zumal er bereits vor 20 Jahren, also weit vor der Entstehung der einen bzw. dem Boom der anderen geschrieben wurde. Murakami ist das Original, das die anderen kopieren!
Glück durch Shopping
Im ersten Teil entwirft er mit dem Ich-Erzähler den mittlerweile fast dominierenden Typus des urbanen Singles. Der schaut gern alte Filme und identifiziert sich mit den Helden der Schwarzen Serie, dabei besteht sein täglicher Kampf eher darin, seinem reduzierten Alltag die unbedingt notwendigen Glücksmomente abzuringen, z.B. durch Shopping. Wenn es dann aber richtig über ihn hereinbricht, ist er so erstaunlich widerstandsfähig wie die Helden Hitchcocks. Ein intelligentes Sozialportrait, auch heute noch mit Gewinn zu lesen.
Auch die Story von „Hard-Boiled Wonderland” verschwindet nicht vollkommen in den unterirdischen Action-Szenen. Der Professor, der im Kopf des Helden ein paar Manipulationen vorgenommen hat, um ihn zu einer perfekten Verschlüsselungsmaschine zu machen, ist nicht nur „nutty” oder „evil”; vielmehr entlassen seine seltsamen Forschungen ein nach-aufklärerisches Menschenbild, in dem die Anteile von Prägung, Individualität und freiem Willen neu und nicht gerade erfreulich definiert sind.
Schließlich ist auch der zweite Teil, „Das Ende der Welt”, nicht Fantasy allein um der Fantasy willen. Die stille, hoch verschneite und emotionslose Welt hinter Mauern ist vielmehr eine Großmetapher für das Leben nach der Austreibung der Individualität, nach dem Absterben der Erinnerungen und der Emotionen.
Trotz alldem konnte ich das Buch im Gegensatz zu vielen Murakami-Fans, die zuletzt selbst für die vergriffene Taschenbuch-Ausgabe stolze Preise zahlten, nicht recht lieben. Während es selbst intelligent und unterhaltsam von Geheimnis zu Geheimnis eilte, ließ es mich immer weiter und ohne Fragen zurück. Als sich schließlich die beiden Helden nicht wieder zu einer vollen, ganzen Person vereinigten, war selbst dieses Ende „happy” genug, um mich von der Anteilnahme am Schicksal der Figur zu entheben. Und mein Bild vom autonomen Menschen fand sich in den Forschungen des Professors zwar schwer beschädigt; doch die Hauptfigur lebte mir vor, dass man mit seiner Auslöschung nicht allzu viel zu verlieren hat. Mir klang hier ein religiöser Grundton durch, der nicht meiner ist. Ich schätze Fatalismus gering!
Sie hören es durch meine Sätze hindurch: Der Respekt vor dem großen Kollegen verbietet mir, ex kathedra über das Buch zu urteilen. Ich schicke meinen Geschmack vor, mein Missbehagen zu entschuldigen. Alles an „Hard-Boiled Wonderland und Das Ende der Welt” ist wunderbar gelungen, fantasievoll und zugleich voller kulturpessimistischer Melancholie. Und wenn ich mich bei der Lektüre wie einer fühle, der sich mit einer Glasmurmel zudecken soll, dann ist das sicher mein Fehler und nicht der des Buches. BURKHARD SPINNEN
HARUKI MURAKAMI: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt. Roman. Aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns. Dumont Verlag, Köln 2006. 506 Seiten, 24,90 Euro.
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Foto: NCsoft
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