REZENSION – Bücher über die Jahre des Nazi-Regimes, über Judenverfolgung, den Holocaust und die deutsche Schuld gibt es zuhauf. Doch Maxim Leo (49) hat es mit der Niederschrift seiner bis in letzte Feinheiten recherchierten Familiengeschichte „Wo wir zuhause sind“ [im Februar bei Kiepenheuer &
Witsch erschienen] auf ungewöhnlich berührende Weise geschafft, den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“…mehrREZENSION – Bücher über die Jahre des Nazi-Regimes, über Judenverfolgung, den Holocaust und die deutsche Schuld gibt es zuhauf. Doch Maxim Leo (49) hat es mit der Niederschrift seiner bis in letzte Feinheiten recherchierten Familiengeschichte „Wo wir zuhause sind“ [im Februar bei Kiepenheuer & Witsch erschienen] auf ungewöhnlich berührende Weise geschafft, den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ aus einer ganz anderen Warte zu beschreiben. Denn nicht nur die Täter hatten Jahrzehnte lang ihre Schwierigkeit damit. Auch viele Opfer, sofern sie die Schreckensherrschaft überlebten, hatten aus seelischen Eigenschutz diesen Lebensabschnitt im Herzen verschlossen und schwiegen. Im neuen Leben, das sie sich irgendwo in der Welt oder in Deutschland aufbauen mussten, wollte man keine Störung durch Erinnerungen. Dies ging Jahre lang gut, bis dann die Enkel begannen, sich für die ungewöhnliche Geschichte ihrer Eltern und Großeltern zu interessieren, bis die heutige Generation endlich begann, nachzufragen und nachzuforschen.
So erging es auch Maxim Leo, wie er eingangs erzählt, als er bei der Hochzeit seines Bruders plötzlich einer Vielzahl von Verwandten aus aller Welt gegenüber stand, von denen er viele kaum kannte, die nach der Feier auch wieder gingen. „Familie ist für mich, wenn vier Menschen um einen Tisch sitzen.“ Doch diese Hochzeit war für Leo der Auslöser, die Geschichte seiner Familie zu erforschen – einer jüdischen Familie, deren Angehörige, seit Generationen christlich getauft, längst dem akademisch gebildeten Großbürgertum angehörten, bis die Nazis zur Macht kamen. Leo recherchierte also „die unvergessliche Geschichte einer jüdischen Familie, die auf der Flucht vor den Nazis in alle Winde zerstreut wurde, und deren Kinder und Enkel zurückfinden nach Berlin, in die Heimat ihrer Vorfahren“.
Irmgard und Hans, zwei Berliner Jura-Studenten wanderten 1934 nach Palästina aus und gründeten im Kibbuz ihre Familie. Zunächst nach Frankreich hatte es die junge Schauspielerin Hilde verschlagen, in frühen Jahren mit KPD-Gründer Fritz Fränkel verheiratet. Später floh sie mit Sohn André nach London. In Frankreich traf Leo auf seine Tante Susi, deren Mutter Ilse während der Kriegsjahre im französischen Internierungslager ihren späteren Ehemann kennengelernt hatte und nach geglückter Flucht bis zum Kriegsende im Untergrund leben musste.
In jedem Kapitel des Buches, jeweils die oft ungewöhnliche Lebensgeschichte eines Familienmitglieds erzählend, spürt man die persönliche Neugier des Autors, der darin auch Antworten auf eigene Fragen sucht und findet. Dieselbe Neugier erwacht durch stundenlange Gespräche auch bei seinen ausländischen Angehörigen. Auch die Cousins und Cousinen beginnen sich für das Leben ihrer emigrierten Großeltern und deren Gründe zu interessieren, wozu es vorher keinen Anlass gegeben hatte. Unerwartet wird sich Maxim Leo einer bisher unbekannten familiären Zusammengehörigkeit bewusst. Er entdeckt Eigenarten an den anderen, die er bislang nur an sich allein kannte. Und seine Cousins und Cousinen im europäischen Ausland und in Übersee beginnen eine mentale Verbindung zu Deutschland zu spüren. „Ich frage mich, ob es so eine Art Familiengedächtnis gibt, etwas, das uns hält und den Weg weist, das uns tröstet und mahnt.“ Alle zieht es irgendwann und irgendwie zurück nach Berlin, in die Stadt ihrer Vorfahren, „wo wir zuhause sind“, die die ausländischen Enkel heute aber mit ganz anderen Augen sehen, entdecken und erfahren, als ihre deutschen Großeltern zum Zeitpunkt ihrer Emigration.
Maxim Leos Familiengeschichte ist nicht nur spannend, offen und ehrlich geschrieben, sondern zudem historisch interessant: Wir erleben die Exilanten Hannah Arendt, Walter Benjamin und Klaus Mann bei ihren gemeinsamen Hausabenden mit den Leos in Paris. Wir erfahren viel über den mühseligen Aufbau des Staates Israel. Auch der Humor kommt nicht zu kurz.