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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

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Insgesamt 359 Bewertungen
Bewertung vom 22.04.2024
Die Entführung
Grisham, John

Die Entführung


gut

REZENSION – Wir erinnern uns: Nach seinem Romandebüt „Die Jury“ aus dem Jahr 1989 gelang dem amerikanischen Schriftsteller John Grisham (69) zwei Jahre später mit seinem Thriller „Die Firma“, erfolgreich verfilmt 1993 mit Tom Cruise, bereits der internationale Durchbruch und machte ihn zum Bestseller-Autor, so dass er noch im selben Jahr seinen Beruf als Rechtsanwalt aufgeben konnte. Fast im Jahresrhythmus veröffentlichte er daraufhin weitere Justizthriller, mit denen er eine Gesamtauflage von 275 Millionen Exemplaren erreichte, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden. Im Februar erschien nun beim Heyne Verlag Grishams neuer Roman „Die Entführung“, der sowohl im englischsprachigen Markt als auch bei uns als „große Fortsetzung des Weltbestsellers »Die Firma«“ angekündigt wurde und 15 Jahre später spielt.
Der Rechtsanwalt Mitch McDeere, der seine damalige Anwaltsfirma - lediglich eine Fassade und Geldwaschanlage für die Mafia - hatte auffliegen lassen, ist nach Jahren der Flucht inzwischen Partner bei der weltweit größten Anwaltskanzlei in Manhattan mit Filialen in vielen Ländern. Glaubte sich der junge Familienvater nach so langer Zeit in Sicherheit, werden er und seine Frau erneut Zielscheibe des Verbrechens: Mitch übernimmt das Mandat eines großen türkischen Unternehmens, dem die libysche Regierung unter Diktator Muammar al-Gaddafi nach dem Bau einer Autobahnbrücke in der Wüste vier Millionen Dollar schuldig bleibt. Um sich vom Bauprojekt ein genaues Bild zu verschaffen, reist er mit der in der Londoner Filiale angestellten Rechtsanwältin Giovanna, Tochter des römischen Filialleiters Luca, nach Libyen. Nach einer Lebensmittelvergiftung kommt Mitch ins Krankenhaus, weshalb Giovanna allein, allerdings mit bewaffneter Begleitung, zur Brücke fährt. Auf dem Weg dorthin werden die Begleiter von Terroristen getötet und Giovanna entführt. Die anonym bleibenden Entführer fordern von der Anwaltskanzlei hundert Millionen Dollar Lösegeld.
So weit, so gut. Doch warum dieser neue Band unbedingt als Fortsetzung zum Bestseller „Die Firma“ angenommen werden soll, wissen wohl nur der Autor und seine Verlage. Denn außer einigen für die Handlung des aktuellen Romans völlig unwichtigen Bezügen zum einstigen Bestseller hat „Die Entführung“ überhaupt nichts mit diesem zu tun. Lediglich die Protagonisten Mitch McDeere und seine Ehefrau treten hier erneut auf. Doch da die Handlung des neuen Romans im Kern absolut nichts mit der des alten zu tun hat, auch die Charaktere der Protagonisten in keiner Weise weiter ausgeprägt werden, darf man „Die Entführung“ getrost als eigenständigen Roman und die Verlagsaussage „große Fortsetzung“ als reine Werbung ansehen. Hoffte man vielleicht, damit an den früheren Erfolg der 1990er Jahre anknüpfen zu können, dürfte sich dieser „Trick“ bei den Lesern eher negativ auswirken, da man bei einem Vergleich unweigerlich vom Ergebnis enttäuscht sein muss.
„Die Entführung“ ist kein von Grisham gewohnter Justizthriller, da es hier nicht um juristische Tricks zur Lösung eines Rechtsstreits geht. Andererseits ist der Roman aber auch kein echter Politthriller, da die politisch-globalen Zusammenhänge, die sich bezüglich des Gaddafi-Regimes, der labilen Situation in Libyen und - daraus folgend - der politischen Abhängigkeiten und Konfliktsituation westlicher Länder, im Roman nur oberflächlich angerissen werden. Es bleibt somit ein reiner Spannungsroman, der durch einige brutale Szenen angereichert ist. Doch selbst die Spannung bleibt teilweise auf der Strecke, der Roman wirkt gelegentlich langatmig und die Handlung löst sich durch ihr völlig überraschungsfreies Ende letztlich in Wohlgefallen auf. Grisham hätte seinen Roman besser um 150 Seiten zu einer Erzählung kürzen sollen. Der einstige Welterfolg seiner „Firma“ dürfte ihm bei der „Entführung“ sicherlich versagt bleiben.

Bewertung vom 05.04.2024
Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt
Henneberg, Nicole

Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt


ausgezeichnet

REZENSION – Seit etwa zehn Jahren befasst sich die Literaturwissenschaftlerin Nicole Henneberg mit Werk und Leben der zeitlebens um ihren Erfolg gebrachten und zu Unrecht vergessenen jüdischen Schriftstellerin Gabriele Tergit (1894 bis 1982), die in jungen Jahren in Berlin als Gerichtsreporterin bekannt war. Mit der kommentierten Neuausgabe des satirischen Romans „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (erstveröffentlicht 1932) ließ uns Henneberg im Jahr 2016 die Berliner Schriftstellerin wiederentdecken. Nach weiteren Neuausgaben wie Tergits Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“ (2018) oder ihres inzwischen zum Bestseller gewordenen zweiten Romans „Effingers“ (2019) sowie der Erstausgabe des dritten Tergit-Romans „So war's eben“ (2021) war Hennebergs Veröffentlichung einer ersten umfassenden Biografie „Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt“, erschienen im Februar beim Verlag Schöffling & Co, nicht nur folgerichtig, sondern sogar notwendig, um der literarischen Gesamtleistung Gabriele Tergits erstmals umfänglich gerecht zu werden.
Nach intensiver Recherche und Sichtung von fast 50 Materialkästen im Deutschen Literaturarchiv Marbach mit umfangreicher Korrespondenz Tergits, Originalmanuskripten und wieder verworfenen Texten bringt uns Henneberg auf 400 Seiten einschließlich eines 30-seitigen Anhangs mit Quellen-, Literatur- und Namensverzeichnissen nicht nur das Leben Gabriele Tergits näher, sondern schildert auch eindrücklich deren in Flucht, Emigration, lebenslänglicher Heimatlosigkeit und fehlender Anerkennung als Schriftstellerin begründete Verzweiflung und letztlich auch Resignation.
Noch zu Kaisers Zeiten in einem Berliner Fabrikantenhaushalt geboren, arbeitete Elise Hirschmann ab 1924 unter dem Pseudonym Gabriele Tergit als Journalistin und heiratete 1928 den jüdischen Architekten Heinz Reifenberg (1894 bis 1968), Nachkomme wohlhabender Fabrikanten- und Bankiersfamilien. Deren Leben und Lebensumfeld bildete später die Grundlage ihrer stark autobiografisch geprägten Werke. Nach der Machtergreifung der Nazis konnte sich Tergit im November 1933 nur knapp ihrer Verhaftung entziehen und nach Prag entkommen. Noch im selben Jahr emigrierte sie mit ihrem Mann widerwillig nach Palästina, das für die deutsche Bildungsbürgerin kein „gelobtes Land“ war, und zog 1938 nach London, wo sie bis zu ihrem Tod (1982) lebte, nur schlecht als Journalistin und Schriftstellerin arbeiten konnte, vor allem aber viele Jahre als Sekretär (Geschäftsführerin) des Exil-PEN aktiv war, des Verbands deutschsprachiger Autoren im Ausland. Henneberg: „Die Mitglieder des Clubs bildeten ihren Freundeskreis und ersetzten zumindest ein bisschen das, was sie durch die Vertreibung verloren hatte.“
In der Nachkriegszeit besuchte Gabriele Tergit mehrmals ihre alte Heimatstadt („Der erste Zug nach Berlin“, 2000/2023), wurde aber häufig durch antisemitistische Äußerungen verschreckt. Tergit: „Hitler schwebt immer noch wie ein dunkler Geist über Deutschland.“ Dennoch versuchte sie wiederholt, als Schriftstellerin in Deutschland Anerkennung zu finden, war dies doch trotz jahrelangen Exils ihre Heimat geblieben: „Mein Leben in Berlin, das hat mich lebenslänglich geprägt.“ Doch ihr endlich veröffentlichter Roman „Effingers“ kam 1951 zur Unzeit und wurde kaum beachtet. Henneberg: „Nur wenige Buchhändler nahmen ihn überhaupt in ihr Sortiment, und die Menschen wollten von einer jüdischen Familie nichts lesen.“ Von einer Berliner Kulturdezernentin musste Tergit sich sogar sagen lassen: „Wer sind Sie überhaupt? Habe den Namen noch nie gehört.“
Auch 20 Jahre später bleibt trotz positiver Resonanz auf die Neuausgabe ihres Käsebier-Romans die erhoffte Anerkennung aus. Als sie 1977 einem Verlag das Manuskript ihres dritten Romans „So war's eben“ über die Blütezeit jüdischen Lebens anbietet, dem Deutschland viele Geistesgrößen und Mäzene verdankte, lehnt dieser eine Veröffentlichung ab: Dies sei ein „Buch für Insider, aber das werden nicht mehr sehr viele sein“. So kam es, dass dieser dritte Roman Tergits erst ein Jahr nach ihrem Tod nur in gekürzter Fassung und endlich 40 Jahre später (2021) durch Tergit-Expertin Nicole Henneberg in seiner originalen Fassung veröffentlicht wurde.
Mit den Neu- und Erstausgaben der Werke Gabriele Tergits, vor allem aber jetzt mit ihrer akribisch erarbeiteten, literaterarisch und historisch interessanten Tergit-Biografie hat Nicole Henneberg die jüdische Schriftstellerin nicht nur der Vergessenheit entrissen, sondern ihr das verdiente literarische Denkmal gesetzt. Wer Tergits Bücher inzwischen kennt, kommt um diese Biografie nicht herum, trägt sie doch viel zum besseren Verständnis ihrer Romane bei. Wer ihre Bücher noch nicht kennt, wird nun zweifellos zum Lesen ihrer Werke animiert. Die Biografie „Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt“ ist also in jedem Fall eine unbedingt empfehelenswerte und zweifellos lohnende Lektüre.

Bewertung vom 24.03.2024
Hundswut
Alvarenga, Daniel

Hundswut


sehr gut

REZENSION – Erst nachdem Daniel Alvarenga (37) die Dreharbeiten seines nach eigenem Script selbst produzierten Kinofilms „Hundswut“ abgeschlossen hatte, schrieb er als „Buch zum Film“ seinen gleichnamigen Roman, der im Februar als sein literarisches Debüt im Verlag HarperCollins erschien. Dies war eine gute Entscheidung. Denn während der Film wohl nur in bayerischen Kinos läuft, ist sein packender Psychothriller nun überall zu lesen. Nur seien allzu zart besaitete Leser gewarnt!
Der seit seiner Jugend in Bayern wohnende Autor schildert einen fiktiven Vorfall aus dem Jahr 1932 in einem kleinen Bergdorf in der tiefsten bayerischen Provinz. Man lebt dort, als sei die Zeit irgendwann stehen geblieben. Mit der Großstadt München will man nichts zu tun haben und schon gar nichts von dem wissen, was die Nazis dort neuerdings treiben. Alles bleibt im Dorf und wird von Bürgermeister Bernhard „Hartl“ Aichinger und Großbauer Georg Steiner geregelt. Dies gilt auch, als eines Tages vier Kinder bestialisch ermordet und zerfleischt im Wald gefunden werden. Eine Meldung nach München kommt für den Bürgermeister nicht in Frage: „Bevor i dene wos meld und dann oan vo dene Nazis im Dorf hob, regel i's liaber selber.“ So beginnt er seine Ermittlung, unterstützt von Großbauer Steiner, Landgendarm Xaver und Gastwirt Lugg.
Anfangs glauben die Dörfler noch, ein Wolf könne für die grausame Bluttat verantwortlich sein. Die Dorfälteste setzt im Waschhaus das Gerücht in die Welt, es sei ein Werwolf: „Wenn di a kranker Wolf beißt, und due überlebst as, dann host du die Hundswuat a. Dann bist du verfluacht und musst wia a Wolf lebm.“ Doch weder einen Wolf noch einen Werwolf, sondern einen Menschen hält der Bürgermeister für den Mörder: „Mir wissn olle ganz genau, das des koa Wolf war! Aa koa tollwütiger! A Wolf jagt, wenn er Hunger hod! A Wolf zerfetzt ned vier Kinder und lassts dann im Wald verrecken. Und a Wolf vergeht si aa ned an am junga Madl, bevor ers umbringt. … Des war koa Viech, des war a Mensch!“
Schon bald gibt es weitere Mordfälle gleicher Brutalität. Ein Mörder muss schnell gefunden werden, um das Dorf zu beruhigen. Als Verdächtigen machen Bürgermeister und Großbauer den ohnehin schon von allen Dörflern misstrauisch beäugten Einsiedler Joseph Köhler aus, der seit dem Tod seines Sohnes und später auch seiner Frau schwermütig ist und mit Tochter Mitzi einsam am Wald wohnt. Man verschleppt ihn in den Bierkeller des Wirtshauses, um ihm den Prozess zu machen. Obwohl Köhler standhaft seine Unschuld beteuert, sind sich die Dörfler schnell einig, den Schuldigen gefunden zu haben. „Nichts hielt eine Gemeinschaft so effektiv zusammen wie der gemeinsame Hass auf jemand anderen.“ Als aber alle Versuche scheitern, Köhler zu einem Geständnis zu bewegen, meint Dorfpfarrer Hias Lechner in ihm einen vom Teufel besessenen Hexer zu erkennen, und zieht den aus dem Mittelalter berüchtigten „Hexenhammer“ zu Rate. Köhler soll nach Kirchenrecht als Werwolf angeklagt und verurteilt werden. Die Stimmung im Dorf nimmt nun eine bedrohliche Wendung: Der Wahn erfasst auch die eigentlich vernünftigen Bewohner und die Gewalt setzt sich durch. Als der Fall für das Dorf endlich abgeschlossen ist, geht das normale Leben weiter, als habe sich niemand schuldig gemacht, „weil es das immer tat, weil es das musste“.
In drastischen Bildern schildert Alvarenga sehr plastisch und authentisch den allmählichen, durch haltlose Gerüchte angefeuerten Gesinnungswandel unter den einfachen, meist ungebildeten Dorfbewohnern, wie sie sich in ihrer Bigotterie vom Pfarrer leicht beeinflussen und zum Äußersten treiben lassen. Sehr glaubhaft, in ihrer Düsternis ungemein realistisch und lebendig wirkt die erschreckende Handlung nicht zuletzt durch die drastischen Dialoge in bayerischer Mundart. Die wirklichkeitsnahe Schilderung macht in ihrer erschütternden Brutalität auch vor den grausamsten Szenen nicht Halt, wovon mancher Leser sich vielleicht abgestoßen fühlen kann. Doch andererseits ist es gerade diese Direktheit in der szenischen Darstellung sowie die psychologisch tiefgreifende Charakterisierung der Personen, wodurch Daniel Alvarengas Debütroman „Hundswut“ so eindrucksvoll ist, seine Leser so fasziniert und packt.

Bewertung vom 20.03.2024
Allmen und Herr Weynfeldt / Johann Friedrich Allmen Bd.7
Suter, Martin

Allmen und Herr Weynfeldt / Johann Friedrich Allmen Bd.7


gut

REZENSION – Mit „Allmen und Herr Weynfeldt“ erschien im März beim Diogenes Verlag bereits der siebte Band der beliebten Krimireihe des Schweizer Schriftstellers Martin Suter (76), die 2011 mit „Allmen und die Libellen“ begann und deren erste drei Bände mit Heino Ferch für das Fernsehen verfilmt wurden.
Schon der Name Johann Friedrich von Allmen, mit dem sich der über 40-jährige Hans Fritz von Allmen gern vorstellt, um dann in gespielter Bescheidenheit anzufügen „Allmen reicht“, zeigt das Motiv „Mehr Schein als Sein“ des kunstverständigen und belesenen Hochstaplers, der seiner Umwelt den längst verlorenen Reichtum weiterhin erfolgreich vorgaukelt. Trotz Zwangsverkaufs seiner Villa lässt er sich in deren Gartenhaus mit umgebautem Treibhaus unverändert von dem ihm ergebenen Diener Carlos und dessen Ehefrau Maria als Haushälterin umsorgen. „Reichtum misst man nicht daran, wie viel Geld man hat, sondern daran, wie viel Geld man ausgibt“, ist Allmens Motto. Zur notwendigen Auffrischung der Haushaltskasse übernimmt Allmen – „Ich bin kein Detektiv. Ich bin eher ein Künstler.“ – mit seiner Firma Allmen International Inquiries hin und wieder lukrative Aufträge zur Auffindung gestohlener Kunstobjekte. Gleichberechtigter Partner ist Carlos, der seinem auf zu großem Fuß lebenden Patron immer mal ein paar Geldscheine „zur Festigung seiner Kreditwürdigkeit“ zustecken muss. Doch letztlich ist Maria als Finanzchefin des Unternehmens diejenige Person dieses ungewöhnlichen Trios, die sämtliche Fäden in der Hand hält und als einzige zur rechten Zeit die richtige Idee hat.
Eines Abends trifft Allmen in einer Bar einen kultivierten Herrn ähnlichen Alters – den Kunstsachverständigen und Sammler Adrian Weynfeldt. Als dieser Tage später bemerkt, dass in seiner Wohnung ein Bild fehlt, beauftragt er Allmen mit der Suche. Anfangs schließt Weynfeldt seinen engeren Bekanntenkreis, mit dem er sich statt wie üblich im Restaurant nur wenige Tage zuvor erstmals in seiner Wohnung im Obergeschoss eines Bankhauses getroffen hat, als Tatverdächtige grundsätzlich aus. Bevor die Kunstbuchhändlerin Karin Winter, die diesem Kreis angehört, Allmen etwas Wichtiges mitteilen kann, kommt sie bei einem Treppensturz zu Tode. Jetzt sind alle verdächtig. Allmen hat seinen ersten Mordfall.
Im neuen Krimi lässt Suter die Figur des Adrian Weynfeldt wieder aufleben, Hauptfigur aus dessen bereits 2008, also noch vor dem Allmen-Krimis veröffentlichten und 2010 verfilmten Roman „Der letzte Weynfeldt“. Amüsant zu lesen ist nun das Zusammenspiel dieser beiden Protagonisten – Weynfeldt tatsächlich reich, Allmen nur scheinbar. Um dieses „Spiel“, das Allmen einiges abverlangt, geht es eigentlich im Roman, während die Suche nach dem Gemälde zur Rahmenhandlung verblasst.
Dennoch kann der neue Band nicht so recht überzeugen: Wieder und wieder erfahren wir von den Eigenarten des scheinreichen Lebemannes, die doch inzwischen bestens bekannt sind. Es fehlt das Neue, das Überraschende. Mag auch das Auftreten der früheren Romanfigur Adrian Weynfeldt im Allmen-Krimi vielleicht überraschen, ist aber auch über diese Figur in „Der letzte Weynfeldt“ schon alles gesagt, so dass es im neuen Allmen-Band, in dem Suter sogar Weynfeldts Freundin Lorena und den mittellosen Kunstsammler Rolf Strasser erneut auftreten lässt, bei bereits Bekanntem bleibt.
Bei Suter nichts Neues? „Allmen und Herr Weynfeldt“ ist wie die früheren Bände mit leichter Hand locker geschrieben, doch intellektuell nicht gerade überfordernd. Der Roman genügt als entspannende Feierabend-Lektüre. Man muss also schon ein bedingungsloser Fan des Autors und seiner Krimis sein, um dem siebten Band etwas Besonderes abgewinnen zu können.

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Bewertung vom 07.03.2024
'Mich wundert, dass ich so fröhlich bin' Johannes Mario Simmel - die Biografie
Graf-Grossmann, Claudia

'Mich wundert, dass ich so fröhlich bin' Johannes Mario Simmel - die Biografie


ausgezeichnet

REZENSION – Es ist der Autorin Claudia Graf-Grossmann als Verdienst anzurechnen, anlässlich des 100. Geburtstags des österreichischen Schriftstellers Johannes Mario Simmel (1924-2009) endlich eine eigentlich längst überfällige Biografie über den zu Lebzeiten von Kritikern so geschmähten, beim Publikum umso beliebteren Bestseller-Autor veröffentlicht zu haben. In ihrem Band „Johannes Mario Simmel. Mich wundert, dass ich so fröhlich bin“, der im vertrauten Layout aller Simmel-Romane im März beim Droemer Verlag erschien, lässt die Biografin neben den Resultaten ihrer Archiv-Recherche auch Verwandte, Freunde, Weggefährten und Geschäftspartner zu Wort kommen. Diese Biografie ist nicht nur eine willkommene Neuerscheinung für die vielen Simmel-Fans, sondern muss gerade den zahlreichen Kritikern des Schriftstellers als Pflichtlektüre empfohlen werden.
Denn im Ergebnis wird deutlich, dass Simmel, einer der populärsten deutschsprachigen Schriftsteller, keineswegs ein Autor seichter Trivialliteratur war, sondern – geprägt durch Weltkrieg, Nazi-Regime und sein persönliches Schicksal als Halbjude, der sogar als Jugendlicher aus Eigenschutz seinen jüdischen Vater verleugnen musste – ein ernsthafter Chronist seiner Zeit, der sich um die Zukunft sorgte und mit seinen Werken vor Gefahren für Staat und Gesellschaft warnte. Oft war Simmel mit seinen Ansichten der Zeit voraus, stellt die Autorin fest: „Drei Jahre bevor der Club of Rome gegründet und eine erste Konferenz über die Zukunftsfragen der Menschheit organisiert wird, spricht Simmel diese Themen bereits an [Bevölkerungsentwicklung und drohender Atomkrieg sind Themen seines Romans „Lieb Vaterland magst ruhig sein“] und beweist einmal mehr seinen fast prophetischen Sinn für drängende Zeitfragen.“ So nimmt der Schriftsteller oft Themen vorweg, die erst Jahre oder Jahrzehnte später zum Mainstream werden, erkennt die Biografin. Simmel will warnen und aufklären, formuliert oft dramatisch zugespitzt und bewusst bedrohlich. „Er weiß, dass er mit Grautönen und Relativierungen weniger Beachtung findet als mit radikalem Schwarz-Weiß-Denken.“ Dennoch hat der Autor als langjährig erfahrener Illustrierten-Reporter Themen und Handlungsorte immer sorgfältig recherchiert: Bis zu 250 000 D-Mark investierte Simmel in die Recherche zu einem Roman und spannte dazu auch sein international aufgebautes Netzwerk aus Freunden und Bekannten ein.
Gerade seine Art, gesellschaftspolitische Themen wie „Krieg, Umweltzerstörung, Verletzung der Menschenrechte, Ausländerfeindlichkeit oder Exzesse des Kapitalismus“ mit „philosophischen Überlegungen und Gedankengängen“ in romantische oder leidenschaftliche Liebesgeschichten zu „verpacken“, wie es die Autorin formuliert, was Kritikern oft Anlass zum Verriss seiner Bücher gab, machte Simmels Romane für die Nachkriegsgesellschaft leicht lesbar: „Die Liebesgeschichte mildert nicht nur das häufig sperrige Thema seiner Romane, lockert die Handlung auf und sorgt für die nötige Prise Menschlichkeit. Sie gibt auch Hoffnung, denn für Mario bedeutet Liebe stets Zukunft und Glauben an eine bessere Welt.“
Darin gleicht Simmel seinem Vorbild Hans Fallada, der ebenfalls soziale Missstände seiner Zeit in Romanen aufgriff, damals gemieden und heute als Chronist jener Zeit geschätzt wird. Erst spät, man ist versucht zu sagen „viel zu spät“, erfährt Bestseller-Autor Simmel nach Erscheinen seines Romans „Mit den Clowns kamen die Tränen“ (1987) und vor allem seines letzten Werks „Liebe ist die letzte Brücke“ (1999) endlich verdientes Lob seitens der Kritiker. Sogar Marcel Reich-Ranicki kommt nicht umhin, Simmels „fabelhaften Blick für Themen, Probleme und Motive“ zu würdigen.
Claudia Graf-Grossmann hat es mit ihrer nach Themen gegliederten Biografie geschafft, Johannes Mario Simmel aus der vermeintlichen „Schmuddelecke“ der Trivialliteratur herauszuholen und seine wahre Persönlichkeit als ernsthaften, kritischen Chronisten zu offenbaren. „Wenn unsere Regierung fortfährt, derart unmoralisch zu handeln“, sagte Simmel bereits vor drei Jahrzehnten im Wahljahr 1994, „arbeitet sie Nazis und Rechtsextremen direkt in die Hände. Dann wird sie bei der Wahl die Quittung bekommen, von Protestwählern und sehr vielen Nichtwählern.“

Bewertung vom 03.03.2024
Das Lächeln der Königin
Gerhold, Stefanie

Das Lächeln der Königin


sehr gut

REZENSION – Bislang kannte man Stefanie Gerhold (57) als Übersetzerin aus dem Spanischen. Im Februar veröffentlichte sie nun anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der ersten Ausstellung der dreieinhalbtausend Jahre alten Nofretete-Büste ihren biografischen Debütroman „Das Lächeln der Königin“ (Galiani Verlag) über Leben und Wirken des Berliner Textilkaufmanns, Wohltäters und Kunstmäzens James Simon (1851-1932). Zwölf Jahre zuvor hatte der Archäologe Ludwig Borchardt (1863-1938) diese Büste zusammen mit anderen Kunstschätzen bei Grabungen in der antiken Stadt Tell el-Amarna entdeckt und nach amtlicher Fundteilung im Jahr 1913 nach Berlin bringen lassen, wo sie James Simon als alleiniger Finanzier dieser Grabungen entgegennahm. Doch politische Streitigkeiten zwischen Frankreich, Ägypten und Deutschland verhinderten über ein Jahrzehnt die Ausstellung dieser Büste, weshalb sie erst Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs endlich 1924 erstmals gezeigt werden konnte: „Nach fünf mageren Jahren als Republik hatten die Berliner wieder eine Königin. Alle verehrten sie. Die Fachwelt stand kopf.“ Bis heute ist die Nofretete-Büste eines der bekanntesten Exponate der Berliner Museumsinsel.
Stefanie Gerhold lässt in ihrer Romanbiografie das Berliner Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebendig werden mit besonderem Blick auf die soziale Stellung der längst assimilierten jüdischen Oberschicht. Sowohl James Simon als auch Ludwig Borchardt waren Juden. Doch beide sahen sich trotz ihrer herausragenden Leistungen - im Falle Simons trotz seiner privater Stiftungen gemeinnütziger Einrichtungen - nach verlorenem Weltkrieg und wieder erstarkendem Nationalismus immer häufiger teils verdecktem, teils offen gezeigtem Antisemitismus' ausgesetzt. „Immer gab es jemanden, dem es nicht gefiel, dass jetzt auch Juden mit am Tisch saßen. Das war in den Kunstvereinen so, und in den Wirtschaftsverbänden und wahrscheinlich auch in den Sportclubs.“ Vor allem diese gesellschaftliche Schieflage zwischen der seit der Gründerzeit im Kaiserreich gewachsenen wirtschaftlichen und kulturellen Kraft des jüdischen Bürgertums und dem gleichzeitigen Erstarken des meist im Neid begründeten Antisemitismus bildet einen Schwerpunkt des Romans. So lässt Gerhold den Archäologen Ludwig Borchardt, Bruder des damaligen Bestseller-Autors Georg Hermann („Die daheim blieben“, Erstveröffentlichung 2023), nach seiner Anstellung als Attaché im deutschen Konsulat in Kairo erzählen: „Aber jetzt kommt dieser von Bissing [Anm.: Friedrich Wilhelm von Bissing (1873-1956) war ein deutscher Ägyptologe und somit Konkurrent Borchardts] und will das um jeden Preis verhindern. Er lässt die übelsten Verleumdungen auf mich los. Ich sei jüdisches Geschmeiß, … , unsereins würde Deutschland zersetzen.“
Im Zuge der Weltwirtschaftskrise und Hyperinflation verarmte auch James Simon. Er verlor nicht nur sein Unternehmen und seine Villa in der Tiergartenstraße, sondern auch gesellschaftlichen Wert und Ansehen als ehemals finanzstarker Kunstmäzen. Jetzt bekam er deutlich zu spüren, was viele zuvor nur hinter seinem Rücken gedacht haben mögen: „Denn eines galt gestern wie heute: Sie konnten machen, was sie wollten. Es war nie genug. Immer blieben sie, was sie waren. Geduldete Juden.“
Als einer der reichsten Berliner und größter Wohltäter zu Kaisers Zeiten umschwärmt, bewundert und auch beneidet, geriet der nun verarmte James Simon bald in Vergessenheit. Letzte Erinnerungen an ihn vernichtete dann noch das Nazi-Regime. Angesichts der latent unsicheren Stellung des jüdischen Bürgertums vermutet Autorin Stefanie Gerhold hinter der Selbstlosigkeit Simons einen gewissen Selbstschutz. Deshalb müssten Menschen wie James Simon wieder ins rechte Licht gerückt und gewürdigt werden. „Ich sehe meinen Roman als einen Beitrag in diese Richtung“, sagte sie in einem Interview. Dies ist ihr mit ihrer historisch interessanten, lebendig geschriebenen und unbedingt lesenswerten Romanbiografie „Das Lächeln der Königin“ absolut gelungen.

Bewertung vom 25.02.2024
Der Goldhügel
Roller, Tobias

Der Goldhügel


ausgezeichnet

REZENSION – Pünktlich zum „Erich-Kästner-Jahr 2024“ – vor 125 Jahren wurde der deutsche Schriftsteller und Dichter in Dresden geboren, vor 50 Jahren starb er in München – gelang dem Volk Verlag mit der Veröffentlichung des Debütromans „Der Goldhügel“ von Tobias Roller ein literarischen Glücksgriff, zu dem man sowohl dem Verlag als auch dem Autor nur gratulieren kann und der zu Recht mit der Verlagsprämie des Freistaates Bayern ausgezeichnet wurde. Als Hintergrundinformation ist interessant, dass Roller, Gamnsiallehrer für Deutsch und Englisch, schon seit Studienzeiten ein Liebhaber der Werke des vielfach ausgezeichneten Büchner-Preisträgers ist und sich schon in der Staatsexamensarbeit mit Kästner befasst hatte. So wundert es nicht, dass Rollers Debütroman eine liebevolle Hommage auf den Dichter ist, ohne dass allerdings der Autor den sachlich-kritischen Blick auf die zwiespältige Persönlichkeit Kästners vermissen lässt.
Roller konzentriert sich in seinem Roman auf den im Jahr 1962 ersten Kuraufenthalt Kästners im Sanatorium „Deutsches Haus“ auf dem verschneiten Collina d’Oro, dem „Goldhügel“ in Agra am Luganer See, einer Heilstätte für Tuberkulose-Patienten. Die Wahl des Schauplatzes beruht auf Rollers eigener Isolation während des Corona-Lockdowns 2021, als er seinen Roman zu schreiben begann und sich in die „Kasernierung“ Kästners gut hineinversetzen konnte. In einer Art Kammerspiel begleitet er den an schwerer Tuberkulose erkrankten 62-jährigen, seit Jahren von Depression, Alkoholsucht und starkem Tabakgenuss gezeichneten Kästner auf engstem Raum – in seinem Zimmer, auf den Fluren und im Speisesaal des Sanatoriums.
In wenigen Szenen und in wohlklingender Sprache, die in ihrer Wortwahl auch jene Kästners sein könnte, gelingt es Roller uns die verzweifelte Situation des an sich selbst zweifelnden Dichters zu veranschaulichen. Nach dem Krieg war es Kästner nicht gelungen, den Anschluss an die Nachkriegsliteratur zu schaffen. Manche Kollegen und Kritiker hatten ihm seinen Verbleib in Nazi-Deutschland und sein recht erfolgreiches Wirken – wenn auch meistens unter Pseudonym – während dieser Jahre verübelt. Der Öffentlichkeit war er lediglich als erfolgreicher Kinderbuch-Autor der Vorkriegszeit in Erinnerung geblieben. Frustriert hatte sich Kästner deshalb dem Alkohol hingegeben und befand sich nun in einer Schaffenskrise. Roller schafft es, uns diesen Frust, diese Verzweiflung und den Zwiespalt zwischen dem einst gefeierten Literaten und Frauenheld („So er die Wahl hätte, würde er es selbstredend vorziehen, zwischen den Brüsten einer ihm liebevoll zugeneigten Dame das Zeitliche zu segnen.“) und dem jetzt gealterten Mann aufzuzeigen: „Das vormalige Hengstchen ist zum Ackergaul gealtert, …, ein Gaul, der vom Trab in den Schritt gewechselt hat. … Und sie hält die Zügel.“ Gemeint ist die ihn beherrschende Luiselotte „Lotte“ Enderle (1908–1991), die sich den Schriftsteller mit dessen zweiter Lebensgefährtin Friedel Siebert (1926–1986) teilen muss.
Wir erleben Kästner, wie er mit seinen Schuldgefühlen als der beiden Frauen unterlegene und hörige Eigenbrötler kämpft, zugleich aber auch mit seiner eigenen Entscheidungsschwäche, begleitet von depressiven Gefühlen und gelegentlichen Wahnvorstellungen gepeinigt wird. Nur einmal – und dies ist eine Schlüsselszene des Romans – verlässt der einst gefeierte Schriftsteller den goldenen Olymp und steigt hinab ins Dorf, wo er in Tonis Gasthaus einfach Mensch sein darf. „In all den Jahren ist man stets auf ihn zugegangen. Zumeist hat man sich ihm vorgestellt, dem Gepriesenen. … In ein kleines Gasthaus im Tessin musste er geraten, um darauf zu kommen, dass er die Beleuchtung in seinem Leben verändern muss.“
Tobias Roller schafft es auf unterhaltsame Art, in einer gelungenen Mischung aus Fakten und Fiktion uns trotz der Kürze seiner Momentaufnahme aus Kästners Leben dennoch einen ungemein tiefen Einblick in die damalige Verfassung und Persönlichkeit des Dichters zu vermitteln. In Verbindung mit dem knapp vierseitigen Nachwort, das sich wie der Roman ebenfalls nur auf wichtigste Fakten beschränkt, ist „Der Goldhügel“ vor allem für jene Freunde der Werke Kästners besonders zu empfehlen, die sich scheuen, eine allzu ausführliche Biografie zu lesen und dennoch mehr über ihren Lieblingsschriftsteller erfahren wollen. „Der Goldhügel“ beweist wieder einmal, dass es sich doch lohnt, einen Debütroman zur Lektüre zu wählen und neuen Autoren eine Chance im hart umkämpften Buchmarkt zu geben.

Bewertung vom 21.02.2024
Die Schuld, die man trägt / Sebastian Bergman Bd.8
Hjorth, Michael;Rosenfeldt, Hans

Die Schuld, die man trägt / Sebastian Bergman Bd.8


ausgezeichnet

REZENSION – Vor bald 15 Jahren starteten die beiden schwedischen Drehbuch-Autoren Michael Hjorth (60) und Hans Rosenfeldt (59) mit ihrem ersten gemeinsamen Psychothriller „Der Mann, der kein Mörder war“ eine Kriminalreihe, die recht schnell zu einer Kultserie wurde, von der man mit jedem weiteren Band immer wieder aufs Neue gefangen wurde. Grund war die Figur des hochintelligenten Polizeipsychologen und Profilers Sebastian Bergmann, dessen meist abweisende Haltung anderen Menschen gegenüber nicht nur auf sein direktes Umfeld unausstehlich wirkt, sondern dessen Überheblichkeit und fehlende Empathie es auch dem Leser schwer macht, Sympathien für diesen gebrochenen Anti-Helden aufzubringen. Dies gilt gleichermaßen, vielleicht sogar erst recht für den aktuellen, im November beim Wunderlich Verlag veröffentlichten und in seiner Handlung wieder recht komplexen achten Band „Die Schuld, die man trägt“.
Eigentlich soll die bisher so erfolgreiche Reichsmordkommission unter Leitung von Sebastians Tochter Vanja Lithner aufgelöst werden, nachdem deren junges Team-Mitglied Billy nur durch Bergmans Talent endlich als Serienmörder entlarvt werden konnte. Doch bevor es zur Auflösung kommt, muss die Sondereinheit in einem neuen Fall ermitteln: In einem Schweinemastbetrieb wurde eine Frau ermordet aufgefunden. An der Stallwand hatte der Mörder in blutroten Buchstaben die Aufforderung hinterlassen: „Löse den Fall, Sebastian Bergman!“. Vanja und ihr Team nehmen die Ermittlungen auf, auch um ihre Sondereinheit zu rehabilitieren. Doch vor allen anderen ist in diesem Fall ihr bei den Kollegen nicht sonderlich beliebter Vater zur Mitarbeit gefordert, der nun wirklich alles andere als ein Teamworker und schon längst nicht mehr im Polizeidienst tätig ist.
Bergman war nicht immer so, wie man ihn heute kennt: Bei der Tsunami-Katastrophe 2004 verlor er seine junge Frau und die kleine Sabine, die er im Wasser anfangs noch im Arm hielt, sie dann aber verlor. Seitdem lebt er in der Überzeugung, er sei an ihrem Tod schuld und es nicht mehr wert, glücklich zu sein. Zerfressen vom Schuldgefühl, handelt er ohne Rücksicht auf sich und andere, wodurch er, meist ohne es zu wissen, an deren späterem Unglück schuld ist. Alle Indizien des neuen Mordfalles weisen darauf hin, dass sich einer dieser Unglücklichen nun an Bergman zu rächen scheint und ihn daran erinnern will, wie vielen anderen Menschen er durch sein Verhalten geschadet hat.
Auch dieser achte Thriller um Sebastian Bergman überzeugt wie seine sieben Vorgänger durch seine ausgesprochen „starken“ Charaktere und seine psychologische Tiefenwirkung. Während der Lektüre entsteht ein Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Man läuft Gefahr zu vergessen, dass es sich doch nur um einen Roman handelt. Man lebt, leidet und liebt mit den Personen – vor allem natürlich mit dem Anti-Helden Sebastian Bergman, der mit seinem Tun und Lassen beim Leser einen Widerspruch auslöst: Eigentlich mag man ihn nicht, darf man ihn nicht mögen. Andererseits muss man mit diesem gebrochenen Mann unweigerlich Mitleid empfinden. „So viele Jahre hatte er ständig falsche Entscheidungen getroffen, ohne an den Folgen interessiert gewesen zu sein. Aber dies war wohl der Moment, in dem man die richtige Wahl treffen sollte“, heißt es am Schluss. „Er traf seine Entscheidung. Alles oder nichts. Dann begann er zu gehen.“ Ist die von Sebastian Bergman gewählte Richtung also das Ende dieser stilistisch und athmosphärisch bemerkenswerten und deshalb unbedingt empfehlenswerten Thrillerreihe? Oder müssen wir wieder zwei, drei Jahre auf einen nächsten Band warten? Fest steht jedenfalls, dass diese Psycho-Reihe auch mit ihrem achten Band „Die Schuld, die man trägt“ nicht an Spannung nachgelassen hat. Wer also wirklich gute Psychothriller lesen mag, kommt am schwedischen Autoren-Duo Hjorth & Rosenfeldt und ihrem Profiler Sebastian Bergman nicht vorbei, anderenfalls würde er wirklich etwas versäumen.

Bewertung vom 07.02.2024
Unsereins
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins


ausgezeichnet

REZENSION – Schon ihrem mit dem Deutschen Buchpreis 2018 ausgezeichneten Roman „Archipel“, der Geschichte mehrerer Familien über fünf Generationen hinweg auf Teneriffa, wurde damals eine Nähe zu Thomas Manns „Buddenbrooks“ nachgesagt. Einen direkten, diesmal von Inger-Maria Mahlke (46) sogar gewollten Bezug erkennt man nun in ihrem im November beim Rowohlt Verlag erschienenen Roman „Unsereins“. Darin beschreibt die in Lübeck aufgewachsene Schriftstellerin nicht nur das gesellschaftliche Leben des hanseatischen Großbürgertums sowie deren Hauspersonals, der Lohndiener und Handwerker in den Jahren zwischen 1890 und 1906 in Lübeck, dem „kleinsten Staat“ des deutschen Kaiserreichs. Ganz konkret erscheint in ihrem Roman sogar der junge Thomas Mann als Autor eines damals in der Lübecker Gesellschaft Aufsehen erregenden Familienromans. Dennoch sollte man „Unsereins“ völlig losgelöst und frei von dieser literarischen Bürde lesen – als eine Familiengeschichte, die mir in ihrem modernen Stil sowie in ihrer historischen Authenzität und Komplexität der Handlung ebenfalls preiswürdig erscheint.
Im Vordergrund dieses inhaltlich üppigen Gesellschaftsromans steht vor allem das Leben der kinderreichen Familie von Friedrich Lindhorst - „protestantisch, konservativ, kaisertreu“ - und dessen Ehefrau Marie, Tochter des „berühmtesten Dichters aller Zeiten“, deren jüngste Tochter Marthe als deren achtes Kind im Jahr 1890 im großen Patrizierhaus in der Königstraße geboren wird. Schon Friedrich Lindhorst ist als Rechtsanwalt in gewisser Weise ein Außenseiter seiner Kaufmannsfamilie, folgten doch seine Brüder, der Senator Achim und der Konsul Heinrich Lindhorst, noch der beruflichen Familientradition. Doch der gesellschaftliche Umbruch jener Zeit wird weitere Veränderungen bringen.
Der Patrizierfamilie gegenüber stellt Mahlke die Handwerker und Lohndiener wie Charlie Helms oder Ratsdiener Isenhagen und das Hauspersonal der Lindhorst-Familie, allen voran deren Dienstmädchen Ida. Wir begleiten Ida von ihrem Dienstbeginn im Hause Lindhorst, erleben mit ihr die schrittweisen Veränderungen jener Jahre, die auch an der Familie Lindhorst ihre deutlichen Spuren hinterlassen bis hin zum Tod des an Syphilis erkrankten Sohnes Cord und der manischen Depression seiner Mutter Marie. Es braucht Jahre bis sich Ida aus ihrem Dienstmädchen-Leben zu befreien versucht, heimlich Steno und Schreibmaschine lernt, um ein selbstbestimmtes Leben führen und als Büroschreibkraft arbeiten zu können. „Ich werde nicht in Diensten sterben“, hämmert sie immer wieder in Großbuchstaben als Mahnung an sich selbst in die Maschine.
Mahlke beschreibt in „Unsereins“ ein beeindruckend komplexes Gesellschaftsbild um die Wende ins 20. Jahrhundert, die auch vor der konservativen Hansestadt nicht Halt macht. Wir erfahren, wie festgefügte Rollen und damit verbundene konservative Erwartungen an Politik und gesellschaftlichen Stand aufbrechen und Hoffnungen auf Veränderung zu keimen beginnen.
Zwar zwingt die Vielzahl von Mahlkes Protagonisten anfangs mehrmals zum Zurückblättern auf die im Vorspann zum Glück eingefügte Liste handelnder Personen, zumal verschiedene Handlungsstränge sich erst später zum komplexen Gesellschaftsbild fügen, doch bald gewinnt man dann doch den Überblick, kann die Figuren jeweils zuordnen und vollends in die Geschichte und ihre Zeit eintauchen. Man lebt mit Mahlkes Figuren und bedauert schließlich das Ende der Geschichte, die sich auch gut verfilmen ließe. „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang“, lautet Mahlkes letzter Satz im Buch. Damit kann das weitere Leben ihrer Protagonisten gemeint sein. Der Satz kann aber auch Mahlkes doppeldeutiger Hinweis auf eine Fortsetzung ihres Romans „Unsereins“ sein.

Bewertung vom 17.01.2024
Die Bibliothek im Nebel
Meyer, Kai

Die Bibliothek im Nebel


sehr gut

REZENSION – Auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Bestseller „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ (2022) erschien im November wieder im Knaur Verlag mit „Die Bibliothek im Nebel“ ein zweiter bibliophiler Roman des Schriftstellers Kai Meyer (54), dessen Handlung zum Teil wieder im Graphischen Viertel in Leipzig spielt, der historischen Heimat Hunderter Verlage, Druckereien und Buchhandlungen, wenn auch 20 Jahre früher als der erste. Man kann also, wenn man einen Zusammenhang zwischen beiden Romanen herstellen will, diesen zweiten in gewisser Weise als Vorgeschichte zum ersten sehen, zumal wir jetzt erst erfahren, wie und warum der Russe Grigori zum Gehilfen des Buchhändlers im Leipziger Antiquariat Montechristo wurde. Doch ist dies auch schon die einzige Gemeinsamkieit beider Romane, so dass „Die Bibliothek im Nebel“ völlig unabhängig vom früheren Band als eigenständiger Roman gelesen werden kann.
In einer „Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte, Familiensaga und Krimi“, wie der Verlag diesen neuen Roman Meyers bewirbt, tauchen wir ein in das vorrevolutionäre Russland und lernen in Sankt Petersburg die wohlhabende Familie Kalinin kennen sowie deren Tochter Ofeliya und ihren ebenfalls im Haus lebenden Cousin, den jungen Bibliothekar Artur. Noch genießt die Familie ihren Wohlstand und verbringt viele Urlaubswochen im Luxushotel Château Trois Grâces an der Cote d’Azur – dort gemeinsam mit der deutschen Druckerei- und Verlegerfamilie Eisenhuth aus Leipzig. Doch nach Ermordung der Eltern und Tochter Kalinin durch Schergen des allmächtigen Geheimdienstes des Zaren, flieht Artur als einziger Überlebender nach Deutschland. In Leipzig hofft er seine heimliche Liebe Mara wiederzutreffen, die vor Jahren von den Kalinins aufgenommen worden war, seit einiger Zeit aber als Verlobte eines Eisenhuth-Sohnes in Leipzig lebt. Zehn Jahre später (1928) findet die kleine Liette auf dem Dachboden des Hotels Château Trois Grâces in zurückgelassenen Reisekisten der während der Revolution ermordeten Russen ein altes, mit Schloss gesichertes Buch. Weitere 30 Jahre später (1957) bauftragt Liette – inzwischen Alleinerbin und Direktorin des Hotels, den deutschen „Gentleman-Ganoven“ Thomas Jansen mit der Suche nach Mara, der früheren Eigentümerin dieses Buches und Erbin der neben dem Hotel stehenden und seit dem Ersten Weltkrieg verfallenden Villa der Eisenhuths mit ihrer gelegentlich im Nebel versinkenden Bibliothek.
Auch wenn der Roman sehr eindringlich den Alltag von Arm und Reich im vorrevolutionären Sankt Petersburg schildert, ebenso das scheinbar unbelastete Jetset-Leben der Reichen und Schönen an der Cote d’Azur, während an den Fronten der Erste Weltkrieg tobt, ist „Die Bibliothek im Nebel“ kein typischer historischer Roman. Die Historie liefert allenfalls die Kulisse für einen spannenden Unterhaltungsroman, der vielmehr durch seine geheimnisvolle, stellenweise sogar unheimliche Atmosphäre und Szenerie besticht. Meyer schreibt sehr authentisch wirkend, schreibt auch recht lebhaft, lässt uns gelegentlich erschauern, löst dann aber wieder die düstere Stimmung durch amouröse Szenen auf, in denen er die Verliebtheit Arturs mit der von einem unergründlichen Geheimnis umgebenden Mara einfließen lässt oder auf anderer Zeitebene das sich zu einem Liebesverhältnis langsam wachsende Vertrauen zwischen Liette und Thomas.
Einem direkten Vergleich mit dem früheren Band „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ hält dieses neue Buch nur bedingt stand: Der leider viel zu häufige Szenen- und Zeitenwechsel zwischen den Jahren 1917, 1928 und 1957 ist manchmal so verwirrend, dass es nach Lesepausen schwerfällt, sich spontan wieder in der Handlung zurechtzufinden. Es empfiehlt sich also zügiges und pausenloses Lesen. Vor allem aber enttäuscht: Während der Roman doch gerade von seiner unterschwellig und stellenweise unheimlich düsteren Atmosphäre lebt, gleitet das Buch gegen Ende durch die unnötige „Parade“ vieler grausam zugerichteter Toter leider auf das Niveau eines schlechten Krimis ab. Wer sich davon nicht stören lässt, für den bleibt „Die Bibliothek im Nebel“ ein absolut spannender und abwechslungsreicher Unterhaltungsroman vor historisch interessanter Kulisse.