24,00 €
24,00 €
inkl. MwSt.
Sofort lieferbar
Versandkostenfrei*
payback
0 °P sammeln
-56%12
10,49 €
Gebundener Preis 24,00 €**
10,49 €
inkl. MwSt.
**Frühere Preisbindung aufgehoben
Sofort lieferbar
payback
5 °P sammeln

Ungelesenes Mängelexemplar: minimale äußerliche Macken und Stempel, einwandfreies Innenleben. Schnell sein! Nur begrenzt verfügbar. Lieferung nur solange der Vorrat reicht!
Neu kaufen
24,00 €
inkl. MwSt.
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
Als Mängelexemplar kaufen
Statt 24,00 €**
10,49 €
inkl. MwSt.
**Frühere Preisbindung aufgehoben
Sofort lieferbar
payback
5 °P sammeln


  • Gebundenes Buch

6 Kundenbewertungen

Das literarische Debüt von Edgar Selge: Ein Zwölfjähriger erzählt seine Geschichte zwischen Gefängnismauer und klassischer Musik. Exemplarisch und radikal persönlich.
Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen. Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Gebannt verfolgt er die politischen…mehr

Produktbeschreibung
Das literarische Debüt von Edgar Selge: Ein Zwölfjähriger erzählt seine Geschichte zwischen Gefängnismauer und klassischer Musik. Exemplarisch und radikal persönlich.

Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Ein bürgerlicher Haushalt, in dem viel Musik gemacht wird. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen.
Überall spürt der Junge Risse in dieser geordneten Welt. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinandersetzungen, die seine älteren Brüder mit Vater und Mutter am Esstisch führen. Aber er bleibt Zuschauer. Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Phantasie.
Dieser Junge, den der Autor als fernen Bruder seiner selbst betrachtet, erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den eigenen Blick auf die Welt. Wenn sich der dreiundsiebzigjährige Edgar Selge gelegentlich selbst einschaltet, wird klar: Die Schatten der Kriegsgeneration reichen bis in die Gegenwart hinein.
Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich. Voller Witz und Musikalität. Ob Bach oder Beethoven, Schubert oder Dvorák, Marschmusik oder Gospel: Wie eine zweite Erzählung legt sich die Musik über die Geschichte und begleitet den unbeirrbaren Drang nach Freiheit.

Autorenporträt
Edgar Selge gehört zu den bedeutendsten Charakterdarstellern Deutschlands. 1948 geboren, wuchs er im ostwestfälischen Herford als Sohn eines Gefängnisdirektors auf. Seine Schauspielausbildung schloss er 1975 an der Otto Falckenberg Schule in München ab. Zuvor studierte er Philosophie und Germanistik in München und Dublin sowie klassisches Klavier in Wien. Für seine Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Edgar Selge lebt mit der Schauspielerin Franziska Walser zusammen. Die beiden haben zwei Kinder. 'Hast du uns endlich gefunden' ist sein literarisches Debüt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2021

Es funktioniert nur, wenn man es tut

Der Schauspieler Edgar Selge hat das herausragende Debüt dieses Herbsts geschrieben, über Familie, Tod, Musik und Erinnerung - und einen kleinen Jungen, der seinen Namen trägt.

Plötzlich verwandelt sich der Wohnzimmertisch in eine Lesebühne, ein Augenblick wie aus heiterem Himmel. "Ich geh mal üben, sagt mein Vater", sagt Edgar Selge. Und wie dieser gefeierte Schauspieler diesen Satz sagt und damit in einen Text hineingleitet, den er selbst geschrieben hat: Da verschwindet um uns herum am Wohnzimmertisch kurz der ganze Münchner Spätsommernachmittag.

Es ist wirklich ein herrlicher Spätsommernachmittag in München, der Himmel tatsächlich heiter, das Reihenhaus, das Edgar Selge mit seiner Frau Franziska Walser bewohnt, steht gleich ums Eck vom Nymphenburger Kanal, draußen, auf der ruhigen Straße, spielen die Nachbarsjungen. Edgar Selge hat für seinen Besuch Käse und Brot und Zwetschgenkuchen besorgt, aber man kommt kaum zum Essen, weil es so viele Fragen gibt zu dem Buch, das er geschrieben hat: "Hast du uns endlich gefunden" heißt es.

Es ist ein Erinnerungsbuch an Familie, Tod und Leben und die Kunst, literarisch im Ton, autobiographisch im Stoff: Man erfährt daraus einiges aus der Kindheit und frühen Jugend des Schauspielers. Dass er seinen Bruder beklaut und die Klassenkasse veruntreut hat, um ins Kino zu gehen. Dass er im Birnbaum des elterlichen Gartens die Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe nachgespielt hat. Dass zwei seiner vier Brüder auf dramatische Weise gestorben sind. Und dass sein Vater ihn geschlagen hat, wieder und wieder. Man erfährt aber vor allem, dass in dem großen Schauspieler Edgar Selge offenbar auch ein großer Autor steckt. Den hat er jetzt zum Leben erweckt.

Es geht deswegen am Münchner Wohnzimmertisch auch darum, ab wann Selge wusste, dass er für sein Buch den richtigen Ton gefunden hat. Und Selge antwortete darauf also mit dem ersten Absatz dieses Buchs. Fiel aus dem Interview direkt in seine eigene Prosa hinein. Es war nicht die erste Passage, die er für das Buch geschrieben hatte, aber Selge wusste, als er sie hatte, dass er es hatte.

"Ich geh mal üben, sagt mein Vater, verschwindet im Flügelzimmer und macht hinter sich die Tür zu. Beinahe jede freie Minute verbringt er an seinem Instrument und übt. Ich bleibe im Flur stehen und habe eigentlich nichts zu tun. Es ist aber gar nicht so langweilig für mich. Ich kann zuhören oder Selbstgespräche führen. Manchmal kommt auch jemand vorbei und unterhält sich mit mir."

Edgar Selge spricht diese Sätze mit jener beiläufigen Intensität, die sein ganzes Buch trägt. Man sucht, automatisch, nach Parallelen zur Darstellungskunst des Schauspielers, stellt dann aber schnell fest, dass diese Parallelen nur oberflächlich sind: Schauspieler und Autor verbinden die gleiche Intelligenz und Intensität im Ausdruck, aber der Autor ist eine eigenständige Figur und zudem eine neue Erscheinung: Edgar Selge hat erst vor fünf Jahren zu schreiben begonnen. Der Schauspieler Selge, 73, schaut dagegen auf eine mehr als vierzig Jahre lange Karriere auf der Bühne und vor der Kamera zurück.

Die Perspektive des Buchs, jedenfalls an dieser rezitierten Stelle, ist die eines aufmerksamen Kindes, das es schafft, von unten auf andere zu schauen, aber trotzdem den Überblick über alles zu haben, was um ihn herum geschieht, freie Sicht, freier Kopf, Eigensinn, Quatsch auch, ein bisschen Größenwahn, Träume. "Es ist ein Buch über die subversive Kraft eines Kindes", sagt Selge. "Mir war es wichtig, dass ein Kind erzählt. Aber das ist eine Fiktion - denn das Kind ist ja nicht mehr da. Also ist es auch eine Form von Rollenprosa - ich spiele dieses zwölfjährige Kind, das viel mit mir zu tun hat, mehr als andere Kinder -, aber es ist nicht das Kind, das ich war. Es ist eine Vorstellung."

In kurzen Kapiteln erzählt er gleich von mehreren Edgar Selges. Da ist der junge Edgar Selge, er ist hier meistens zwölf, hin und wieder auch etwas jünger, und lebt mit seiner Familie im ostwestfälischen Herford, Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre der alten Bundesrepublik.

Und da ist der Vater, er heißt auch Edgar Selge, Dr. Edgar Selge, Direktor der Jugendstrafanstalt Herford: ein Jurist, der mit seiner Frau Signe am Ende des Kriegs aus Ostpreußen nach Ostwestfalen geflohen ist. Die Selges haben fünf Söhne, von denen der zweitälteste, Rainer, als Kind beim Spiel mit einer Handgranate getötet wird und der jüngste, Andreas, als junger Mann an einer Gefäßerkrankung stirbt. Dr. Selge liebt Theater und Musik und gibt Hauskonzerte für die Gefangenen, daher die Auftaktszene, sie spielt in der Direktorenwohnung auf dem Gefängnisgelände, eine "große Totale", wie Selge es im Gespräch nennt, um das Ambiente gleich zu Anfang einzufangen, die Kinderwelt Selges: das Gefängnis, dessen Insassen und Angestellte, die Wohnung, Selges Brüder, seine Mutter, den Vater - und die Kunst. Musik und Tod sind wesentliche Leitmotive in diesem Buch.

"Ich geh mal üben, sagt mein Vater": Daran, dass Selge den Auftakt auswendig hersagen kann, merkt man natürlich, dass ein Schauspieler einen Text, den er selbst geschrieben hat, nie einfach herunterrattern würde. Er muss ihn vortragen, verkörpern. Aber vor allem erkennt man am Auswendighersagen mit konzentrierten Augen, dass es Selge in diesem Buch um alles geht. Dieser Text ist ein Herzenstext. Selge hat mit seinem Verlag lange überlegt, das Buch einen "Roman" zu nennen, wie das auch andere gemacht haben, die ihr Leben fiktionalisierten. Auch mit seinen Schwägerinnen habe er darüber gesprochen, er lebe ja, wie Selge sagt, am Rande der Schriftstellerfamilie Walser. Die Entscheidung fiel am Ende gegen den Begriff Roman. "Es ist etwas Eigenes geworden", sagt Selge, "und jetzt will ich dazu zu stehen, dass es das ist, was es ist."

Es sind jedenfalls keine Schauspielererinnerungen. Selge verneint das mit aller Entschiedenheit, auch deshalb, weil sein Buch in einer Zeitung sogar schon so angekündigt worden sei. Es sind nicht die Memoiren eines Stars, der bei Dieter Dorn an den Münchener Kammerspielen groß wurde. Der unvergessliche Auftritte in Dietl-Filmen wie "Rossini" hatte - da spielt er einen Bankbeamten, der um sein Geld betrogen wird, aber trotzdem "ein gutes Gefühl" hat, "ein gutes Gefühl!". Und der später, als einarmiger Kommissar Tauber, im Münchner "Polizeiruf" brillierte. Vom Beruf oder Berufswunsch berichtet Selge in seinem Buch fast nichts. Davon zwar, dass der kleine Edgar andere Leute gern imitiert und alle Brüder sich untereinander nachäffen, davon, dass Edgar Lügengeschichten erzählt und kreative Unruhe stiftet. Aber das Buch verfolgt einen anderen Zweck: "Gegen die ungeheure Gleichgültigkeit anzuschreiben, die sich in einem Leben ausbreitet, so wie wir es führen", so sagt es des Autor selbst. Da reden wir schon zwei Stunden, aber jetzt wird Edgar Selge noch einmal extra deutlich und ernst.

Sein Buch sei der Versuch, "noch einmal danach zu suchen: Wo warst du ganz lebendig? Deswegen ist dieser Zwölfjährige so wichtig für mich, und von dem gibt es noch einiges in mir. Das funktioniert aber nur, solange man es tut. Das ist wichtig, was ich gerade sage. Das funktioniert nur, solange man es tut: Solange man schreibt, solange man spielt, ist die Lebendigkeit da. Und das Gefühl der Intensität. Aber es geht ganz schnell vorbei. Kaum ist das letzte Wort geschrieben, kaum ist der Vorhang gefallen, saugt einen die Gleichgültigkeit wieder auf."

So, wie Selge es erklärt, hat sein Buch also doch einen performativen Charakter. Aber vor allem hat es nichts Rückwärtsgewandtes, es ist keine Vergangenheitsvergegenwärtigung um ihrer selbst willen, nicht Nostalgie, nicht sentimental. Im Akt des Schreibens - und damit im Akt des Lesens - versucht der Autor Edgar Selge einen Effekt zu erzeugen, für ihn und sein Publikum: auch das Sinnliche, das Dramatische der Erinnerung wieder zugänglich zu machen, in jedem Kapitel wieder von Neuem. Und damit auch: Vitalität freizulegen.

Selges Buch hat deswegen auch keinen herkömmlichen, abgerundeten Plot. Er habe vielmehr drauflosgeschrieben, ermutigt von Lebenserinnerungsbüchern wie denen des französischen Autors Édouard Louis. "Ich habe eben nicht gewusst, welche Geschichte ich erzähle", sagt Selge. "Ich wusste, ich will schreiben. Ich will ein Stück Leben so in meinen Sätzen abbilden, dass etwas lebendig wird. Das mich selbst zum Leben erweckt, während ich es schreibe - und hoffentlich auch die, die es dann lesen." Heraus kam ein Text, der sich aus Biographie speist, aber lebendig erst dank der erzählerischen Kraft wird, mit der er geschrieben worden ist.

Zugleich erforscht dieses Buch, wie das überhaupt gehen soll: Erinnerungen zu erzählen. "Dass mein Vater Hauskonzerte für die Inhaftierten gegeben hat, habe ich sicher fünfzigmal in Interviews erzählt", erklärt Selge. "Damit ist aber für mich nichts gesagt. Erinnerungen sind vielleicht nichtsprachlich in ihrem Kern, stecken im Körper, in der Muskulatur, im Kreislauf, in den Nerven. Und wenn man wieder an das herankommen will, was man vor sechzig Jahren einmal empfunden hat: Da reicht 'Erinnern' nicht. Dann muss man auch erfinden oder mindestens montieren. Dann kommt das Emotionale zurück."

Wie wahr muss etwas sein, um echt zu wirken? Muss man tatsächlich sogar etwas dazuerfinden, um wahrhaftig sein? Edgar Selge hat das herausragende deutschsprachige Debüt dieses Herbstes geschrieben - auch, weil er darin erprobt, was für eine Macht ein Buch besitzen kann, Grenzen zu überwinden. Die Grenzen zwischen Ort und Zeit, Leben und Tod, zwischen denen, die ein Buch lesen, und dem, der es geschrieben hat, und zuletzt die zwischen dem Autor und seinen Figuren.

Und das wäre dann der dritte Edgar Selge, von dem dieses Buch handelt: Es ist der Edgar Selge, der ein Buch schreibt und auch von der Situation erzählt, in der er das tut, der Pandemie des vergangenen Jahres zum Beispiel. Dieser Edgar Selge von heute meldet sich hin und wieder auch zu Wort, wenn es um den jungen Edgar Selge geht. "Wenn ich das lese", heißt es einmal, "fühlt sich der alte Mann wie ein erkalteter Planet, der von früheren Naturereignissen träumt." Die interessantesten und wundersamsten und schrecklichsten Dinge geschehen in diesem Buch - und alle, versichert sein Autor, sind sie wahr. "Das denkt man sich nicht aus. Deswegen hat das Buch diese Form. Das ist so, das war so, und deswegen heißen die auch so und ich auch."

Die Mutter fährt nach 255 Fahrstunden bei ihrer Führscheinprüfung in das Schaufenster ihres Herforder Lieblingsgeschäfts, das Krippenfiguren verkauft. Der Vater hat im britischen Militärgefängnis in Werl deutsche Kriegsverbrecher wie den zum Tode verurteilten und später begnadigten Generalfeldmarschall Kesselring betreut - bis die Briten den Vater wieder rauswerfen, weil er zu lasch ist. Die Eltern sind beide von Nationalsozialismus und Judenhass tief geprägt, werden diese Prägung lange nicht los, reisen dann aber später, reumütig, nach Israel. Die Mutter, auch davon erzählt Selge, besucht im hohen Alter die Wehrmachtsausstellung in München - und erleidet danach einen Magendurchbruch. Der ewig hungrige, kunstsehnsüchtige Vater schlägt den kleinen Edgar. Und hin und wieder reibt er im Vorbeigehen auch seinen steifen Penis an ihm. Mit allen seinen Söhnen hat Direktor Selge das getan. "Was soll ich dazu sagen?", antwortet Edgar Selge, wenn man ihn nach diesen sexuellen Übergriffen fragt. "Es hat sie gegeben."

Aber Selge sagt auch: "Das ist keine Abrechnung - für eine Abrechnung fehlen mir die Kraft und die Lust. Ich sehe mich nicht als Opfer, obwohl es Situationen gab, wo dieser Junge viel aushalten musste." Lange geht es am Münchener Wohnzimmertisch dann noch um das Erbe der Geschichten, das Familien von Generation zu Generation weitertragen, Kriegsgeschichten, deutsche Opfermythen, deutsche Tatverleugnung. Edgar Selge hat diese Konflikte in seinem grandiosen Buch erzählt, aber sich damit nicht von einer Last befreien müssen. Er sagt, mit jedem Satz: Wir haben nur dieses eine Leben, also leben wir es.

TOBIAS RÜTHER.

Edgar Selge, "Hast du uns endlich gefunden". Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro. Ab 19. Oktober im Handel.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Bewegt liest Rezensentin Claudia Ingenhoven den ersten Roman des Schauspielers Edgar Selge, der ihr hier fiktionalisiert aus seiner Kindheit erzählt. Sie blickt mit dem zwölfjährigen Edgar in eine Kindheit in Westfalen in den fünfziger und sechziger Jahren und erlebt das strenge Regiment der Eltern - der Vater ist Gefängnisdirektor und "tobt sich an Edgar aus", resümiert Ingenhoven. Die Kritikerin spürt die jahrelange Arbeit, die Selge in dieses Buch gesteckt hat deutlich: Geradezu körperlich erfahrbar erscheinen ihr Edgars Erfahrungen. Nicht zuletzt lobt sie, wie der Autor immer wieder Reflexionen aus der Distanz des Alters einflicht und sich mit Witz und Offenheit den eigenen Gefühlen stellt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2022

Eine Kindheit
in Deutschland
Edgar Selge ist ein Schauspieler mit feinem Sensorium. Die Reflektiertheit, Verschmitztheit und Menschenkennerschaft, die sein Spiel auszeichnen, machen auch sein literarisches Debüt stark. Nein, keine Memoiren. In „Hast du uns endlich gefunden“ erzählt Selge, Jahrgang 1948, von (s)einer Kindheit in einer Bildungsbürgerfamilie der Nachkriegszeit. Fünf Brüder, der älteste stirbt früh. Der Vater ein klavierspielender Gefängnisdirektor, die Mutter Hausfrau. Sie lieben die Kunst, hassen Juden. Hausmusik. Prügel. Väterliche Dominanz. Das alles erzählt aus der Perspektive des 12-jährigen Edgar, der sucht, fragt, liebt, lügt und sich seine eigenen Ausbrüche erlaubt. Die Sprache: klar, leicht, lakonisch. Doch wie tief geht das! Und hallt nach.
CHRISTINE DÖSSEL
Edgar Selge:
Hast du uns endlich gefunden. Rowohlt, Hamburg 2021.
302 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine Kindheit
in Deutschland

Edgar Selge ist ein Schauspieler mit feinem Sensorium. Die Reflektiertheit, Verschmitztheit und Menschenkennerschaft, die sein Spiel auszeichnen, machen auch sein literarisches Debüt stark. Nein, keine Memoiren. In „Hast du uns endlich gefunden“ erzählt Selge, Jahrgang 1948, von (s)einer Kindheit in einer Bildungsbürgerfamilie der Nachkriegszeit. Fünf Brüder, der älteste stirbt früh. Der Vater ein klavierspielender Gefängnisdirektor, die Mutter Hausfrau. Sie lieben die Kunst, hassen Juden. Hausmusik. Prügel. Väterliche Dominanz. Das alles erzählt aus der Perspektive des 12-jährigen Edgar, der sucht, fragt, liebt, lügt und sich seine eigenen Ausbrüche erlaubt. Die Sprache: klar, leicht, lakonisch. Doch wie tief geht das! Und hallt nach.

CHRISTINE DÖSSEL

Edgar Selge:
Hast du uns endlich gefunden. Rowohlt, Hamburg 2021.
302 Seiten, 24 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

„Wir leben von den
Gesetzesbrechern“

Großer Ernst, fabelhafte Lakonie und ein siebter Sinn für den richtigen Ton:
Edgar Selges Erstling über die unmusikalische Mutter und den klavierspielenden Vater,
der ein latent antisemitischer Gefängnisdirektor war. Von Michael Krüger

Dieses Buch handelt vom Wertvollsten, Schönsten und Schlimmsten, das einem im Leben passieren kann.

Seit kurzer Zeit erst und lange nach ihrem Tod träumt der Autor davon, dass die Eltern verloren gegangen sind: „Sie irren umher und suchen mich verzweifelt. Und träumend quält mich der Gedanke, dass sie nicht zurückfinden können, weil sie die Orientierung verloren haben... Oder sie denken, ich will sie nicht mehr sehen... Langsam haben sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass Kinder irgendwann von ihren Eltern nichts mehr wissen wollen. Das ist wohl der Lauf der Welt, trösten sie sich gegenseitig.“

Aber plötzlich nimmt der Traum eine Wendung, und Edgar findet sich in einem billigen Hotelzimmer wider, in dem die Eltern leben. Er erkennt ihre Gegenstände, die Schuhe, die Jacke des Vaters über dem Stuhl. Und dann steht die Mutter vor einem geöffneten Schrank: „Sie dreht sich um, hat mich gehört, ich sehe ihr erstauntes, mädchenhaftes Gesicht, das in der langen Zeit, seit ich sie vermisse, eher jünger geworden ist. (...) Sie freut sich, aber sie ist gar nicht mal so überrascht. Eine sanfte Freundlichkeit schimmert auf ihrem Gesicht, und mir wird bewusst, dass dies das Wertvollste, Schönste ist, das ich je kennengelernt habe. Aber die Freundlichkeit bleibt bei ihr, sie wiegt sich in den Zügen ihres Gesichts, sie reicht nicht bis zu mir. Die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz und können diesen Ausdruck nicht bis in mein Herz tragen.“

Und dann fällt der Satz, der dem Buch den Titel gegeben hat: „Wie schön, sagt sie. Hast du uns endlich gefunden.“

Am Ende des Buches, dieses zu Herzen gehenden, manchmal sehr komischen Porträts of the actor as a young man, in dem die Jugend von Edgar und seiner Familie in Herford beschrieben wird, kommt in einem Epilog der Tod des Bruders Andreas zur Sprache. Mit Andreas, dem etwas „zurückgebliebenen“ jüngsten von insgesamt fünf Buben, hat der Autor das Zimmer und den Rest geteilt.

Der älteste, Rainer, ist beim Spielen mit einer Handgranate ums Leben gekommen, jetzt liegt Andreas mit Nierenversagen in der Klinik. Warum, fragt sich Edgar, habe ich mir so oft die Frage gestellt: „Was ist das Schlimmste, was mir überhaupt passieren kann?“ und sich selber stets die Antwort gegeben: „dass dir etwas passiert, Andreas! Das ist das Schlimmste.“ Nachdem Andreas gestorben ist, das wird Edgar klar, beginnt die Suche nach seinem eigenen Leben. Das Buch ist den beiden überlebenden Brüdern gewidmet.

Zwischen diesen beiden extremen Gefühlslagen spannt Edgar Selge mit großem Ernst, fabelhafter Lakonie und einem siebten Sinn für den richtigen Ton und den Rhythmus der Sätze die Familiengeschichte des Oberstaatsanwalts und Gefängnisdirektors Dr. Edgar Selge und seiner Frau Signe aus. Gleich das erste Kapitel ist ein unvergessliches Tableau: Der Vater lädt die jugendlichen Strafgefangenen zu einem Nachmittagskonzert mit anschließendem Imbiss in sein Privathaus ein (Schnittchen und Apfelsaft), am Abend dann spielt er mit einem Profi aus Hamburg vor den Freunden, „Akademikerpaare aus unserer Kleinstadt“.

Ob der Vater davon träumt, Pianist zu sein, weiß der Sohn nicht. Er vermutet, dass er ganz zufrieden damit ist zu sein, was er ist: ein besonders gut klavierspielender Gefängnisdirektor. „Mein musizierender Vater inmitten seiner Strafgefangenen. Wie vielen Menschen habe ich schon davon erzählt. Immer wieder neu, immer wieder anders. Mein ganzes Leben geht das schon so. Jetzt sitze ich hier und schreibe das auf. Hoffentlich verschwinde ich nicht zwischen den Sätzen. Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir.“

Die Musik ist der eigentliche Motor in der Familie, der alles antreibt. Alle Kinder spielen ein Instrument, alle verstehen etwas von Musik und können darüber reden, auch die Mutter, die umblättert. Sie ist die Schwachstelle, wenn es um das Spielen geht. „Wenn man so süchtig nach dem schönen Geigenton ist wie mein Vater, wird es zur Qual, diese Frau zu begleiten.“ Dann ist die sonst enge Beziehung bedroht. „Sie sprechen es nicht aus. Niemand will es wahrhaben: sie selbst nicht, meine Brüder nicht – und ich? Ich kann einfach nicht darüber hinweggucken.“ Und während also der Direktor Dr. Selge Beethoven spielt, stellen die Strafgefangenen verblüfft fest, dass die von ihnen hergestellten Möbel im Privathaus des Direktors stehen. „Genau genommen ist es so, dass die Eingesperrten uns ernähren“, sagt der altkluge Edgar, „nicht nur, weil sie unser Gemüse und unser Obst anbauen. Grundsätzlich, einfach weil sie da sind. Wir leben von den Gesetzesbrechern. Meine Eltern sehen das natürlich anders. Aber ich muss ihre Ansichten umdrehen, damit ich zu meinen eigenen komme.“

Doch auch die Schwachstelle des Vaters kommt bald zur Sprache: Seine Tätigkeit während der NS-Zeit und sein Antisemitismus, der wie eine nicht heilbare Krankheit beschrieben wird. Es sind die härtesten Seiten in diesem Buch, wenn die Kinder die Eltern mit ihrer Vergangenheit quälen; wenn sie scheinheilig fragen, ob die Musik von Mendelssohn auch „ohne Tiefe“ sei wie die übrige „jüdische Musik“. Beim Mittagessen behauptet der Vater, die Juden seien nachschöpferisch, aber nicht schöpferisch. Damit will er seine Bewunderung für die gesamte russisch-jüdische Geigentradition ausdrücken, aber im Sinne von: Schuster, bleib bei deinen Leisten; ihr Juden könnt toll Geige spielen. Aber bildet euch nicht ein, komponieren, dichten oder malen zu können.

Edgar, der renitente Junge, an dem die gängigen Erziehungsmethoden nicht gut haften, hat Mitleid mit dem Vater: „Er will nicht als Nazi rüberkommen, aber sein ganzes Denk- und Sprachgebäude ist in dieser Zeit errichtet worden, und so schnell findet er kein anderes. Von der völkischen Bewegung, die ihn mal getragen hat, ist nichts mehr übrig. An ihm klebt nur noch Hurrageschrei, Rausch, Taumel, leeres Pathos vom deutschen Wesen, Größenwahn, Hass auf die Juden und alle Andersdenkenden, und vor allem die Lager! Wie soll er damit umgehen, dass er mehr gewusst hat, als er zugibt? Er weiß nicht, wie er da wieder rauskommen soll, ohne einen Teil seines Lebens durchzustreichen. Bei unserer Mutter ist es ähnlich.“

Sie schüttelt den Kopf, weil die Kinder ja keine Ahnung haben, wie die Juden sie damals von allen Plätzen gedrängt hätten. „Im Theater, in der Oper, in Konzertsälen, in den Universitäten, in den feinen Restaurants, in den Zeitungen, in der Politik, ach, überall, wo man hinsah: Die Juden waren immer schon da. Überall haben sie einem vor der Nase gesessen.“

Und Edgar? Er schummelt sich so durch. Am Abend klettert er aus dem Fenster, um in die Spätvorstellung des Kinos zu kommen, wird aber gesehen und verpetzt. Und wo hat er das Geld her für den Kinobesuch? Geklaut, leider, aber da er von den pädagogischen Fähigkeiten von Lehrern und Eltern nicht viel hält, muss er zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen. Sogar die Klassenkasse hat er zur Selbstbildung verbraucht.

Geh mal runter zu deinem Vater und entschuldige dich, sagt die Mutter. „Diese Treppe. Mit jeder Stufe abwärts bewege ich mich in den Trichter der Bestrafung hinein. Warum tue ich das? Immer wieder einen Fuß vor den anderen setzen, um mich zu entschuldigen, um etwas wiedergutzumachen? Weil ich die anderen an den Punkt bringen möchte, die Sinnlosigkeit ihrer erzieherischen Bemühungen selbst zu erkennen.“

Einer der großen Vorteile dieses Buches ist, dass es durchgehend im Präsens geschrieben ist; wir wachsen also mit Edgar auf und sehen mit ihm in die Welt: Wir erörtern mit ihm die Frage, ob er womöglich eine kriminelle Energie hat (und was das eigentlich ist), wir schütten mit ihm einer verehrten Klassenkameradin eine Flasche Kakao in die Haare, und als der Lehrer ihn anschreit: „Willst du dich nicht entschuldigen, du Scheusal?“, schütteln wir mit ihm den Kopf; und wir hätten uns mit ihm am liebsten die Zunge abgebissen, wenn er seine Mutter mal wieder mit der Vergangenheit gequält hat.

Aber vor allem verstehen wir, wenn wir so intensiv durch seine Brille geschaut haben, die Ambivalenz, mit der Edgar seine Eltern behandelt: „So stehen sie beide unter der Wohnzimmerlampe. Mit ihren schönen ernsten Gesichtern. In denen falsche Entscheidungen noch etwas bedeuten. Meine Mutter mit ihrem enttäuschten Leben. Und mein Vater mit der Angst, dass sein Leben mit ihrem zerbricht. Seine Angst geht mir nahe. Und ihre Pflichterfüllung, ihre nicht ausgelebte Wut über diese Pflichterfüllung, erschreckt mich so sehr, dass ich ihre Liebe ganz vergesse.“

Ein Erstling? Mag sein. Vor allem anderen aber: ein hinreißend erzähltes, ein bedeutendes Buch.

Michael Krüger, 1943 geboren, prägte als langjähriger Leiter des Münchner Hanser Verlags das literarische Leben in Deutschland. Er ist zudem Lyriker und Romancier. Zuletzt erschien im Sommer bei Suhrkamp sein Gedichtband „Im Wald, im Holzhaus“.

Nachdem Andreas gestorben ist,
das wird Edgar klar, beginnt die
Suche nach seinem eigenen Leben

„Geh mal runter zu
deinem Vater und entschuldige
dich, sagt die Mutter

„Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir“: Der Schauspieler Edgar Selge hat über seine Familie und eine Jugend geschrieben.

Foto: Muriel Liebmann

Edgar Selge:
Hast du uns
endlich gefunden.
Roman. Rowohlt,
Hamburg 2021.
304 Seiten, 24 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de

…mehr
»[Edgar Selge] zuzuhören, wie er als reifer Mann noch einmal in seine eigenen Kinderschuhe schlüpft und in den Flur, das Klavierzimmer, die Nachbarhäuser der Nachkriegszeit trippelt, das hat gleichermaßen erzählerische wie darstellerische Größe.« Sabine Busch-Frank Passauer Neue Presse 20220427