Im Roman Treibgut von Adrienne Brodeur lernen wir zunächst die Mitglieder einer, auf den ersten Blick, beneidenswerten Familie kennen.
Da ist Adam Gardner (69), brillanter Walforscher kurz vor seiner Pensionierung, sowie sein Sohn Ken (42,) der erfolgreiche Immobilienentwickler auf dem Sprung in
den Senat und seine Tochter Abby (38), die schwangere Malerin kurz vor ihrem künstlerischen…mehrIm Roman Treibgut von Adrienne Brodeur lernen wir zunächst die Mitglieder einer, auf den ersten Blick, beneidenswerten Familie kennen.
Da ist Adam Gardner (69), brillanter Walforscher kurz vor seiner Pensionierung, sowie sein Sohn Ken (42,) der erfolgreiche Immobilienentwickler auf dem Sprung in den Senat und seine Tochter Abby (38), die schwangere Malerin kurz vor ihrem künstlerischen Durchbruch. Diese, sowie Ken’s Frau Jenny (mit ihren bezaubernden 12-jährigen Zwillingstöchtern Tessa und Franny) werden, in sich abwechselnden, Kapiteln beschrieben, die mit dem jeweiligen Namen betitelt sind.
In vier Monaten ist der 70. Geburtstag des egozentrischen Patriarchen und so strebt alles auf diesen Tag zu.
Broudaine beschreibt ihre Protagonistin so treffend, daß man das Gefühl hat, bereits jeden von ihnen schon Jahre zu kennen.
Exquisite Landschafts- und Naturbeschreibungen bereichern diese kluge Familienanalyse, der es nicht an Humor fehlt. Klug und immer genau auf den Punkt.
Schon zu Anfang läßt uns die Autorin hinter die Fassade blicken:
Adam versucht mit Psychopharmaka seine bi-polare Störung zu steuern, Ken ist traumatisiert vom Tod seiner Mutter als er vier Jahre alt war und seine einzige Motivation ist, es den anderen zu zeigen, da er als Kind gemoppt wurde und nie die Anerkennung seines Übervaters bekam. Abby ist verhuscht und ohne Selbstvertrauen. Der Grund dafür wird sich noch zeigen. Zudem kriselt es in Ken’s Ehe mit Jenny.
Schnell treten weitere Protagonisten hinzu: Steph (38), Polizistin aus einfachen Verhältnissen, die erst jüngst, als sie zum ersten Mal Mutter wurde, erfahren hat, daß sie die Frucht eines Fehltritts von Adam ist, der aber davon keine Ahnung hat. Sie ist lesbisch und mit Toni verheiratet.
Wie stark unsere Kindheitstraumata unser Handeln als Erwachsene beeinflussen, ist das Kernthema dieses großartigen Romans.
Der Roman spielt auf Cape Cod einer Landzunge, die in den Atlantischen Ozean ragt.
Die Beschreibung der Figuren kommt so natürlich und lebensecht daher, daß diese uns nach kürzester Zeit vertraut sind.
Dieses Buch habe ich verschlungen.
Der Stil ist fließend, so natürlich und unaufdringlich und selbstverständlich wie das Ein- und Ausatmen des Meeres mit Ebbe und Flut. Die an genau passender Stelle eingestreuten Bemerkungen sind klug und witzig, was einem als Leser leider selten begegnet.
Die Dialoge sind so lebensecht und figurenspezifisch, daß die direkte Rede (in meinen Augen die Königsdisziplin beim Schreiben) von den Lesenden an keiner Stelle als störend empfunden wird.
Die Autorin beschenkt uns den ganzen Roman hindurch mit klugen und poetischen Metaphern.
So ganz nebenbei und sehr klug behandelt die Autorin auch Fragen der bildenden Kunst und des künstlerischen Ringens und Schaffens. Eine unbedingte Bereicherung.
Die Autorin in meinen Augen bei der Beschreibung des großen Ereignisses des 70. Geburtstages von Adam, auf den ja im Buch alles zusteuert, eine große Chance vertan, indem sie die tragische Komik, die sich durch das Aufeinanderprallen der verschiedenen Charaktere und Erwartungshaltungen ergibt, zu wenig zelebriert. Schade, wo sie doch den ganzen Roman über gezeigt hat, über welch klugen und feinsinnigen Humor sie verfügt.
Schreibende müssen nicht jede aufgeworfene Frage eines Romans beantworten, man darf durchaus das ein oder andere offen lassen. Doch wenn sich ein Buch dadurch auszeichnen läßt, daß sich die Wahrheitsliebe und Aufklärung als einer der roten Fäden durch das Werk zieht, dann kann man als Autorin nicht einfach am Ende die Beantwortung der Kernfrage nur andeuten, sie muß explizit und unmissverständlich ausgesprochen werden. Man kann sich dann auch nicht einfach hinter US-amerikanischer Prüderie verstecken, um Leser nicht zu verprellen, denen es unangenehm wäre, wenn sie nicht die Möglichkeit bekämen, eine unangenehme Wahrheit zu verdrängen. Daß man als Leser will, daß eine so bedeutende Frage vom Autor nicht unbeantwortet bleibt, hat nichts mit voyeuristischer Neugier zu tun, sondern ist dem Umstand geschuldet, daß die Lesenden ein Recht auf diese Wahrheit haben, um das Geschehene beurteilen und einordnen zu können.
Mir erscheint es ein wenig so, als wäre der Autorin gegen Schluß zu, etwas die Puste ausgegangen.
Wie leider so oft, beschreiben der Klappentext und die Kurzbeschreibung auf der Rückseite des Umschlages den Charakter des Buches nicht ganz zutreffend. Das Buch ist wesentlich reichhaltiger, als man nach dieser Beschreibung erwartet.
Eine der Botschaften dieses Buches ist für mich, daß sich eine Familie nicht primär über das gemeinsame Blut definiert, sondern über die Liebe, die die Menschen einander geben und, daß ein liebevoller Mensch in bescheidenen Verhältnissen ein besseres Familienoberhaupt ist, als ein egozentrisches Genie.
Diese sensible, unbeschwerte und dennoch tiefschürfende Beschreibung einer Familie ist eine unbedingte Leseempfehlung.