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Bewertungswiesel

Bewertungen

Insgesamt 32 Bewertungen
Bewertung vom 15.04.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


sehr gut

Man riecht schon das Meer, wenn man das geschmackvolle Cover betrachtet, und dieser Duft bleibt über die gesamten 462 Seiten erhalten. Ein wunderbar atmosphärisches Setting, und ein spannender Plot, der sich immer mehr zuspitzt.
Die Familie, um die es geht, ist ziemlich normal, im Sinne von:
Jede Menge Probleme!
Der alte Meeresbiologe mit bipolarer Störung ist ein konservativer Mann, der immer wieder von Tochter und Enkelinnen in seine Schranken verwiesen wird. Der Sohn politisch ambitioniert und ebenfalls kein Befürworter einer Aufweichung alter Geschlechterrollen. Die Tochter erhält aber schon bald Verstärkung. Mit Auftauchen einer weiteren unehelichen Tochter, noch dazu lesbisch, kommt alles ins Wanken.
Die Charaktere sind teilweise klischeehaft dargestellt, die Lesbe ist Polizistin, die andere Tochter erstaunlich erfolgreiche Künstlerin mit Bindungsangst. Natürlich gibt es auch einen schrulligen Therapeuten, der während der Sitzung Algen verzehrt, aufgeweckte, zwölfjährige Zwillingstöchter, sowie eine sich aufopfernde Familienmanagerin mit Alkoholproblem. Alle leben den amerikanischen Traum.
Indem den Charakteren im Wechsel Kapitel gewidmet werden, fällt es leicht, sich ein Bild von den einzelnen zu machen. Sprache und Struktur sind unmittelbar verständlich und immer eindeutig.
Der Roman greift die politische Stimmung im Jahr 2016 auf, bevor Trump Präsident wurde.
Er folgt dem Trend starker Frauenfiguren. Dies ist lobenswert, schießt allerdings leicht übers Ziel hinaus, und wirkt dadurch etwas unnatürlich und gewollt.
Für einen Strandurlaub das richtige Buch!

Bewertung vom 13.04.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


ausgezeichnet

Das farblich außergewöhnliche Cover präsentiert ein ebenso außergewöhnliches Buch: Ein faszinierendes, tief gehendes Drama über den Vietnamkrieg, und zwar aufwändig über sieben Jahre recherchiert von einer Autorin aus Vietnam. Es hebt sich deutlich von den weit verbreiteten Berichten ab, die traumatisierte US-Soldaten im Fokus haben.
Hier geht es um alle Betroffenen, also auch Frauen, die Kinder von GIs zur Welt brachten, Amerasier genannt. Über sie wird in den westlichen Medien kaum berichtet, viele sind in Heimen aufgewachsen, etliche suchen heute ihre Eltern über DNA-Tests.
Der Roman stellt uns einen davon vor. Wir begleiten sein Leben über Jahrzehnte. Der sehr gut lesbare Schreibstil mit offenbar wörtlich übersetzten vietnamesischen Sprichwörtern sowie kurzen Sätzen in der betonungsreichen Sprache wirkt authentisch, er erzeugt zugleich Spannung und Mitgefühl.
Im zweiten Handlungsstrang beschäftigen wir uns natürlich auch mit einem Veteranen, dessen Frau sich lange Zeit einredete, er sei mit seinem Hubschrauber nur zu Rettungseinsätzen geflogen…
Der dritte, mich am meisten bewegende, erzählt von zwei Schwestern, die ihre verarmten Eltern unterstützen möchten und dabei in der Prostitution landen.
Alles ist miteinander verflochten, ganz nebenbei liefert der Roman unzählige Details der Geschichte und Kultur Vietnams. Vieles davon war mir vorher überhaupt nicht bekannt.
Dies wirkt aber keineswegs ausschweifend oder belehrend, sondern spielerisch mit der durchgehend fesselnden Handlung verknüpft. Somit stellt das kurzweilige Buch ein leicht zugängliches Angebot dar, sich mit dem dunklen Kapitel der Geschichte zu befassen. Die Hoffnung kommt dabei in Gestalt des Lachenden Buddhas nicht zu kurz.
Mein einziger Kritikpunkt ist der metaphorische Titel. Das englische Dust Child bringt den Charakter des Romans erheblich bodenständiger auf den Punkt.
Nicht davon abschrecken lassen, dahinter verbirgt sich ein großartiger Text!!!

Bewertung vom 24.03.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


sehr gut

Das verträumte Cover wirkt etwas zu romantisch für den Inhalt. Hier steht zwar eine Sechzehnjährige mit ihrem gleichaltrigen Freund im Vordergrund, allerdings wird sofort klar, dass die Beziehung der beiden keine Zukunft hat. Es handelt sich bei Hélène um eine bildungshungrige Schülerin, die sich für ihre, klischeehaft elegante Literaturlehrerin aus Paris begeistert. Ein zweites Klischee, der Freund, ein aufmüpfiger Revoluzzer, der von dieser Dame verführt wird. Und Klischee Nummer drei, der charmante Schriftsteller mit Schreibblockade, der für die Sechzehnjährige interessanter als der überambitionierte Aktivisten-Freund ist. Außerdem ein Rückblick in die Vierziger, ein vergewaltigtes Hausmädchen. Leider erzählt der Klappentext schon viel zu viel.
Wie das alles zusammenhängt, weiß man bereits nach dessen Lektüre. Warum also sollte man das ganze Buch lesen?
Es gibt wunderbare Einblicke in das dörfliche Leben der Bretagne. Und zwar nicht den Teil der Bretagne an der Küste, Ziel vieler Touristen, sondern 40 km ins Landesinnere. Die schroffe Landschaft mit ihren wenig offenen Bewohnern, aber auch Personen, die aus dem Rahmen fallen, Hélène und ihr Vater, der als Hausmann allen suspekt ist. Man erfährt eine Menge Einzelheiten aus dem keltischen Erbe, vertreten von der diplomierten Druiden-Oma des Mädchens. Sogar die Sprache der Bretonen wird erläutert.
So hat der Roman, ähnlich wie ein Regionalkrimi, durchaus seinen Reiz für Liebhaber der Bretagne!

Bewertung vom 14.03.2024
Das Befinden auf dem Lande. Verortung einer Lebensart
Vedder, Björn

Das Befinden auf dem Lande. Verortung einer Lebensart


gut

Zwei Gummistiefel, einer rot und glänzend, einer schwarz und schmutzig - mit diesem Cover wird klar, dass es beim Thema Landleben nicht nur um Natur, sondern auch um politische Haltung geht.
Der Autor stellt die These auf, dass ländliche Regionen verstärkt politische Randgruppen anlocken. Gleichzeitig handele es sich bei einem Großteil der Einwohner um weniger weltoffene, auf konservative Werte bedachte Leute mit Neigung zu Ausgrenzung. So hat er es in seiner Jugend auf dem Land erlebt, was ihn trotzdem nicht abgeschreckt hat, wieder aufs Land zu ziehen.
Er betont das Wort gemein, das in Gemeinschaft steckt, und ordnet Dorfbewohnern diese Eigenschaft zu, da sie sich unweigerlich aus dem gemeinschaftlichen Miteinander ergebe. Nach ca. 100 Seiten fällt ihm dann auf, dass ein provinzieller Geist nicht unbedingt nur im bayerischen Dorf vorherrscht, sondern sogar im Kopf eines kanadischen Philosophen, und dass überregional und in sozialen Netzwerken ebenso Menschen beschämt und an den Pranger gestellt werden, wenn sie den vermeintlichen Gemeinwillen nicht teilen. Also hat das Problem sozialer Ächtung doch nichts mit Stadt und Land zu tun, sondern mit dem Menschen an sich. Warum dann dieses Buch?
Mit Zitaten unzähliger Dichter und Denker versucht er seine subjektive Erfahrung geisteswissenschaftlich zu untermauern. So spricht er vor allem Bildungsbürger an.
Er erzählt, dass er als Journalist in einem Interview mit der Süddeutschen seine neue ländliche Nachbarschaft als reichen Pöbel bezeichnet hat, wundert sich anschließend aber über deren Bösartigkeit ihm gegenüber.
Das Ganze ist kein Sachbuch, denn immer wieder rückt die persönliche (und oft selbst ziemlich gemeine) Meinung des Autors in den Vordergrund.
Es ist leider auch keine humoristische Abhandlung, für die man ein wohlwollendes Schmunzeln übrig hätte. Man kann
dem Autor nur raten, möglichst bald in ein urbanes Umfeld zurückzukehren. Ein Buch für den nächsten Philosophenstammtisch!

Bewertung vom 11.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Außen das Bild einer afrikanischen Frau mit rituellen Narben. Damit ist das Thema unmissverständlich visualisiert. Wir lernen Issa als junge, schwangere Frau kennen. Beim Lesen kommt man ihr mittels Ich-Erzählform sofort ganz nah, kann sich wunderbar in sie hineinversetzen, nachvollziehen, warum sie sich auf die, Europäern seltsam anmutenden, traditionellen Rituale einlässt. Schon bald folgt ein Zeitsprung ins Jahr 1903.
In dem durchweg faszinierenden, teilweise erschreckenden Roman erfahren wir jede Menge über die Geschichte Kameruns der letzten 120 Jahre. Die deutsche Kolonialherrschaft und zwei Weltkriege wirken sich unmittelbar auf das Leben der Menschen dort aus. Die Autorin setzt zu Recht den Fokus auf die Rolle der Frauen. Sie sind alle stark, manche streng, nicht immer gewaltfrei, lauter glaubwürdige Charaktere mit ganz viel Energie, jedoch auch Fehlern und ehrlichen Emotionen. Die Autorin verzichtet auf Anklagen oder politische Stellungnahme, lamentiert nicht und interagiert so perfekt über Kontinente hinweg. Probleme Afrikas werden nicht verschwiegen, es wird aber auch nichts zu sehr ausgebreitet.
Die in Europa bisher kaum bekannten Informationen über Geschichte und Kultur des Landes, in diese spannende Form gepackt, machen das Buch absolut einzigartig.

Bewertung vom 09.03.2024
Das Jahr ohne Sommer
Neumann, Constanze

Das Jahr ohne Sommer


sehr gut

Das Buch präsentiert sich mit einem kopfüber schaukelnden Mädchen vor der Kulisse einer Stadt. Das wirkt zunächst einmal beschwingt, unbeschwert.
Das erste Ereignis ist allerdings die misslungene Flucht aus der DDR in die BRD, die für die dreijährige Ich-Erzählerin zunächst im Kinderheim, für die Eltern im Gefängnis endet. Damit ist klar, dass es sich um keine leichte Lektüre handelt, auch wenn es zwei Jahre später eine Familienzusammenführung im Westen gibt.
Es geht um Orientierung, Zugehörigkeit, Ankommen, Anpassung. All das bereitet dem Mädchen Schwierigkeiten. Das Ausmaß der inneren Zerrissenheit zwischen zwei so unterschiedlichen Welten zeigt sich allerdings erst im letzten Drittel.
Über mehr als hundert Seiten wird von einer abwechslungsreichen, fast beneidenswerten Kindheit mit unzähligen Reisen in sämtliche Himmelsrichtungen erzählt. Obwohl der Vater nicht mehr jung und die Mutter krank ist, gelingt es den Eltern, der Tochter überwiegend Unbeschwertheit zu vermitteln. Das erinnert an Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“.
Die Beschreibungen von Schule und Alltag scheinen beinahe banal, wie eine nüchterne Nacherzählung, weitgehend emotionslos, aber geprägt von einer Grundstimmung kindlicher Zuversicht. Sogar die Zugfahrt allein, über den Eisernen Vorhang hinweg, zur Oma von Aachen nach Leipzig ist nicht sonderlich aufregend oder beklemmend für die inzwischen Zehnjährige. Es kommt wenig von der Stimmung rüber, die Bürger des sogenannten grauen Landes gespürt haben müssen. Mir fehlt atmosphärische Dichte. Wer selbst die DDR nicht kannte, kann sich auch nach der Lektüre nicht viel darunter vorstellen. Die Protagonistin erlebt scheinbar eine typische West-Kindheit mit grotesk anmutenden Ostzonen-Extras, die anderen vorenthalten bleiben.
Der letzte Teil, in dem plötzlich psychische und körperliche Probleme deutlich benannt werden, ist eher wenig nachvollziehbar, da diese sich nicht in Zusammenhang zur DDR-Vergangenheit rücken lassen. Könnte das nicht eine ganz normale Pubertät sein? Sind Depressionen nicht ohnehin weit verbreitet, auch ohne DDR-Gefängnis-Erfahrung?
Obwohl hier eine sehr persönliche, gut lesbare Geschichte chronologisch, mit glaubwürdigen Charakteren, erzählt wird, bleibt eine große Distanz.
Nicht die erste Wahl für Leser, die sich über die DDR informieren möchten.

Bewertung vom 28.02.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


ausgezeichnet

Auf dem Cover eine Eierschachtel, ein Ei ist nicht mehr darin, sondern daneben - hier geht es um Herkunft, Zugehörigkeit, Abkehr. Dann einleitend ein Zitat von Didier Eribon, der 2009 in Frankreich mit einem Buch über soziale Herkunft Furore machte. Wir befinden uns nun aber nicht im Nordosten Frankreichs, sondern in Brandenburg, Jahrtausendwende, also nach der Wende, in der der östliche Teil von Deutschland plötzlich für den globalen Westen interessant, von der Politik in den Fokus gerückt, und dennoch in der Peripherie vernachlässigt wurde.
Wie so viele junge Menschen geht die Hauptperson Kathleen fort, ihr gelingt ein sozialer Aufstieg im Ausland. Das Buch ist in zehn Kapitel eingeteilt, die jeweils eine Rückkehr beschreiben. Die Autorin ist dabei ganz nah an den Figuren, man kann sie sich wunderbar vorstellen, und auch mitfühlen, wie zwiespältig sich die Situation für Kathleen darstellt. Einerseits ist sie sehr froh, nicht mehr an diesem wenig anregenden Ort, in solch einfachen Verhältnissen leben zu müssen, andererseits erfährt sie auf schmerzhafte Art jedesmal wieder neu, dass alles, was sie so furchtbar findet, ein Teil von ihr ist und bleiben wird, aber sie selbst als Person immer weniger ein Teil dieser sozialen Gemeinschaft sein kann. Feinsinnig beschriebene Charaktere und ein fließender Erzählstil lassen Sympathie für alle Seiten aufkommen, die, die geblieben sind, und die die es nicht ausgehalten haben.
Die Geschichte verzichtet auf den Klischee-Neonazi, zeigt, dass auch Menschen, die ihr Dorf so gut wie nie verlassen haben, weltoffen sein können. Ein ermutigendes Buch für alle, die nicht immer im Reinen mit ihren sogenannten Wurzeln sind.

Bewertung vom 25.02.2024
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


gut

Das Blättermotiv auf dem Cover ist passend gewählt und farblich ansprechend. Die Themen des Buches sind sehr aktuell, es geht um Grenzen des Wachstums und den Klimawandel. Leider ist der Erzählstil extrem distanziert, die Personen bleiben schemenhaft und ohne Angebot einer Identifikation. Die beiden Kinder, die die Hoffnung symbolisieren, wirken nicht wie Kinder, allein ihre Größe zeichnet sie aus, ansonsten sind sie alters- und gesichtslos, überhaupt nicht lebendig dargestellt. Dora, die Arktis-Forscherin, lebt den Feminismus, zahlt aber einen hohen Preis und kann in der klimatischen und emotionalen Kälte nicht einmal ohne Rauschen mit ihrer Tochter telefonieren. Das sterbende Dorf könnte überall sein, unklar, warum Touristen anreisen, nur wegen dieser Hecke? Die Hecke ist ein gutes Symbol für unkontrolliertes Wachstum, der Getränkeautomat steht für menschliche Versuche, die Lage mittels Technik zu beherrschen. Trotz vieler guter Denkanstöße verharrt die Handlung in einer Starre, wiederum sinnbildhaft für den politischen Umgang mit den gegenwärtigen Weltproblemen. Alles gut gemeint, aber ohne Lösungsansätze sehr deprimierend zu lesen. Wirklich gelungen sind nur die wenig bekannten Fakten über die Arktis und die Tiefsee.
Das Buch ist ein Versuch, den Weltschmerz in eine Parabel zu packen. Leider schmerzhaft.

Bewertung vom 11.02.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


sehr gut

Das Cover mit Getreide und Schmetterling stimmt sehr harmonisch auf einen Roman über das Landleben ein. Es wirkt fast schon etwas langweilig, aber das ist das Buch überhaupt nicht. Durch den lebendigen und humorvollen Schreibstil lesen sich die 321 Seiten fast wie von selbst. Stadtmenschen erfahren sehr viel Neues und sind dabei immer mitten im Geschehen. Die Autorin wechselt zwischen zwei Zeitebenen, wobei besonders ihre Kindheitserinnerungen mit allen Stimmungen sehr packend erzählt werden. Es wird allerdings auch nichts ausgespart oder beschönigt. Einiges ist sehr derb und grausam. Da der Hof extrem abgelegen ist, können die Geschwister keine Freunde besuchen. So sind sie sich im Alltag sehr nah. Leider war aber schon damals das gesellschaftliche Ansehen der Bauern schlecht. Die Kinder spüren das nicht nur, wenn die Sommerferien nahen und wieder nur die anderen verreisen. Sie riechen nach Stall, die Hauptrolle im Krippenspiel erhält die Arzttochter. Wochenlange mühsame Ernte mit zehnstündigen Arbeitstagen, und das Geld reicht am Ende nicht einmal für einen einzigen modischen Pullover.

Bauern haben damals noch nicht gestreikt. Die Bedingungen, gute und bezahlbare Nahrungsmittel zu produzieren, werden immer schwieriger. Zeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Hier gibt es einen unterhaltsamen Einblick in bäuerliches Leben, vor ca. vierzig Jahren und jetzt, ganz ohne Moralisieren oder Lamentieren, ganz ohne ideologische Hintergründe. Die Lektüre ist wie Urlaub auf dem Bauernhof, nur authentischer!

Bewertung vom 11.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


sehr gut

Beim Betrachten des Covers spürt man bereits die drückende Sommerhitze in der westfälischen Landschaft. Und im Innern des Romans schwelen tatsächlich einige jahrelang ungelöste Familienprobleme. Jirka verlor früh seine Mutter, die zuletzt in der Psychiatrie lebte. Er wurde als Kind vom Vater und der älteren Schwester misshandelt. Außerdem hat er eine Großmutter, deren Lieblingsbeschäftigung es zu sein schien, Angst zu verbreiten - bevor sie an Demenz erkrankte. Ertränkte Katzen, erschossener Hund - der überforderte Gutsherr des heruntergewirtschafteten Hofes lässt kaum etwas aus, das man sich über die Nachkriegszeit in der deutschen Provinz so erzählt. Die deutlich später geborene Autorin hat sich hier sozusagen an einem historischen Roman versucht und dabei recherchiert: Requisiten (Taunus, Kassetten mit Italo-Pop) und schwarze Pädagogik/ Schwimmunterricht, der auf eine Art Überraschungsmoment abzielt.
Atmosphärisch ist das Buch ein klarer Fall für fünf Sterne. Die Sprache ist voller ausdrucksstarker Metaphern, die die Stimmung tief unter die Haut des Lesers transportieren. Einen Schwachpunkt sehe ich allerdings in der Handlung, die um einige wenige Personen kreist. Man rechnet mit einem Impuls von außen, aber da kommt nichts. Die tragische Verbindung der Geschwister ist zum Teil widersprüchlich, das Versagen der Eltern unwiederbringlich prägend, die Rolle des Verwaltersohnes unklar. Noch seltsamer: Henning. Die Charaktere agieren nahezu immer unlogisch. Vielleicht soll das alles auf den Grad der Verzweiflung hindeuten. Dieser ist schließlich enorm. Das Buch ist ein ganz guter Griff für Krimi- oder Horror-Fans. Es spielt, etwas unkonventionell unter freiem Himmel, mit einer Hermetik des Raumes im Stil von Edgar Allan Poe. Über allem schwebt ein Hauch vom frühen Ian McEwan/ Zementgarten.
Wer eine psychologisch durchdachte Familiengeschichte lesen möchte, stößt hier an eine Grenze.