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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der legendäre Verkehrsminister
Andreas Scheuer und der Schlüsselroman
seines Ex-Sprechers: „Geheimnisse,
Lügen und andere Währungen“.
Es gibt gewiss so manche Figur des öffentlichen Lebens und so manche Episode der Zeitgeschichte, die mittels eines Schlüsselromans mal anständig ausgeleuchtet gehört. Tatsächlich erschienen ist nun ausgerechnet der Schlüsselroman einer, puh, Ära, die in der Vergessenheit auch nicht völlig falsch aufgehoben wäre. „Geheimnisse, Lügen und andere Währungen“ ist laut Untertitel ein „Ministeriumskrimi“, ein sehr unterhaltsamer sogar, das nur nebenbei, aber im Kern ist das Werk natürlich etwas ganz anderes: ein Andreas-Scheuer-Drama.
Es ist gut, dass es jetzt ein zweites Scheuer-Buch gibt, denn das erste ist Scheuers Doktorarbeit („Die politische Kommunikation der CSU im System Bayerns“), und die ist selbst bei wohlwollender Betrachtung unterirdisch. Schriftstellerdebütant Wolfgang Ainetter, der ehemals Nachrichtenchef bei der Bild war, hat seinen 300 Seiten einen Hinweis vorangestellt, den man als Startschuss zu einem raffinierten, in seiner Uneindeutigkeit auch ziemlich bösen Spiel mit Fakt und Fiktion verstehen darf: „Die handelnden Personen existieren tatsächlich – in der Halluzination des Autors.“
Aufmerksame Leserinnen und Leser werden sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass die Halluzination hier und da (und da und da und da) womöglich von sehr realen Erfahrungen des Autors inspiriert sein könnte. Immerhin war die aus Österreich zugewanderte Fachkraft Ainetter drei Jahre lang Pressesprecher des Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer, von 2018 bis 2021, eine tumultuöse Periode, in der Ainetter die Pressestelle des Hauses schwungvoll und unter Auslassung der Evolutionsstufe Newsroom zum „Neuigkeitenzimmer“ entwickelte. Die Mediendienste gerieten in Dauerekstase, was allerdings Scheuers einst hoffnungsvolle Karriere nicht daran hinderte, im Zuge des sogenannten Mautdebakels einen reißenden Bach runterzugehen. Nach Dafürhalten des politischen Berlin lag das weniger am Wiener Schmäh des Sprechers Ainetter, sondern fast ausschließlich an der Nonchalance, mit der Minister Scheuer 243 Millionen Euro Steuergeld in den Schredder warf.
Inzwischen ist Scheuers politische Karriere in die Abklingphase eingetreten, 2025 kandidiert er nicht mehr für den Bundestag, auch weil selbst seine Passauer CSU ihn mit grausam hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr als Kandidaten aufgestellt hätte. Ainetter hat sich dagegen stimulierende neue Laufbahnwege erschlossen, als Sonderbeauftragter bei der unter anderem von Scheuer ruinierten Bahn, Kommunikationsberater und nun satirisch ambitionierter Romancier.
Zunächst mal ist sein Buch eine heitere, dabei durchgehend fiese Milieustudie der politischen Hauptstadtszene zwischen Bundestag und Borchardt, wo sich Abgeordnete und Beamte den lieben langen Tag nach oben schleimen und boxen und gelegentlich auch arbeiten. Die Krimihandlung dreht sich um ein Ekelpaket von einem Spitzenbeamten, der auf jeden Fall zu Recht entführt wird – man weiß nur lange nicht, von wem. Die Spannung drückt einen jetzt nicht gerade mit Mach 10 in den Sessel, dafür kann man sich in Ruhe am skurrilen Personal vom treuen Chauffeur bis zum hypergeizigen Ministerialdirigenten erfreuen.
Wie lebensnah die Figuren wirken, hängt stark vom persönlichen Insidertum der Leserinnen und Leser ab. Wer da auf einen hohen Einblicksgrad kommt, hat immer wieder mal eine Idee, wer das reale Vorbild für den Abteilungsleiter sein könnte, der standesbewusst die Zeile „Graduate of the University of Cambridge“ in seiner E-Mail-Signatur führt. Auch der Minister Felix Rohr ist eigentlich nur eine dieser vielen Nebenfiguren – und dann halt doch das Zentrum des Interesses.
Ainetter stellt diesen Rohr als „Bundesfiaskominister“ vor, der „mit seinen Entscheidungen Hunderte Millionen Steuergeld versenkt“ und zu dessen größten politischen Erfolgen der Sieg beim Bürostuhlrennen am Tag der offenen Tür seines Ministeriums gehört. Ein „Mann des Volkes, des Partyvolkes“, mit besonders ausgeprägtem Interesse am „weiblichen Partyvolk“, praktisch lebenslang Junge Union, dazu modisch versiert und kulinarisch aufgeschlossen.
Es ist – zumal, wenn man als Journalist eine Weile über ihn berichtet hat – wirklich extrem schwierig bis sogar unmöglich, bei all dem nicht an das Geselligkeitsmonster Andreas Scheuer zu denken, der einmal beim feinen Italiener Il Punto an seinem damaligen Parteichef Horst Seehofer verzweifelte, weil dieser alle dargebotenen Köstlichkeiten ausschlug und auf Pizza Schinken bestand.
Ainetter hat vorsorglich ein paar Sicherheitsnetze aufgespannt, sodass er reinen Gewissens auf den Halluzinationsfaktor verweisen kann: Im Gegensatz zu Minister Rohr ist Scheuer nicht fünfmal geschieden und hat auch nicht „Brauwesen und Getränketechnologie“ studiert (obwohl er sich bisweilen so anhört). Die für Scheuer-Exegeten maßgebliche Passage ist ein Gedächtnisprotokoll von Rohrs Pressesprecher, das ohne richtig zwingende dramaturgische Funktion im Buch herumsteht. Verdächtig, verdächtig! Kenner der Scheuer’schen Ministerjahre werden darin so viele kleine Anker in der Realität finden, dass man das Ganze für Ainetters Tagebuch halten könnte. Aber das ist es ja selbstverständlich überhaupt nicht.
Da erleben wir also einen Sonnyboy von Minister, der im bis zur Unerträglichkeit düsteren Ministeriumsbau in der Invalidenstraße (hier: „Versehrtenstraße“) einfach nicht glücklich wird, vor Wut über seine schlechte Presse gegen die Bürotür tritt und „Fuck! Fuck! Fuck!“ brüllt. Oder der einen schweren Abend bei Markus Lanz erleidet („Der ZDF-Moderator grillt den Minister bei 290 Grad, höchste Flamme“), eine Begebenheit, die sogar einen Riesenanker in der Realität hat. Auf der Rückfahrt, im Auto von Hamburg nach Berlin, ist Minister Rohr „außer sich vor Zorn“ und macht seinen Pressesprecher rund („Mich kotzt eure schlechte Kommunikation an“), bis dieser sich im Wagen schlafend stellt.
Die Abenteuer des Felix Rohr werfen Frage um Frage auf: Hat auch der entnervte Scheuer einen Mentaltrainer gebucht? Hat auch Scheuer den mit seinen Untergebenen hadernden römischen General Strategus aus „Asterix“ zitiert: „Sie sind alle so dumm, und ich bin ihr Chef“? Hat auch Scheuer einen Spiegel-Reporter (Connaisseure achten natürlich auf die Initialen „G. T.“, die eine Brücke aus der Halluzination ins Leben schlagen) am Telefon derart unflätig beschimpft und bedroht, dass er nur von dessen Gnaden Minister bleiben konnte?
Gott sei Dank hat Ainetter klippundklargestellt, dass alles wirklich nur Fantasie ist, sonst wären einige Stellen etwas verstörend. Der Minister Rohr verhilft etwa einem „Wahlkreis-Kumpel“ zu einem staatlichen Millionenauftrag. Er verhindert einen arabischstämmigen Schauspieler als Gesicht einer Imagekampagne fürs Ministerium, um die bürgerliche Stammwählerschaft nicht zu verschrecken („nur über meine Leiche“). Er fasst sturzbetrunken einer Kellnerin „von hinten an die Brüste“, bringt aber noch die Geistesgegenwart auf zu fragen: „Hat mich jemand gefilmt?“
Sein Buch sei keine „Abrechnung“ mit seinem früheren Chef, hat Wolfgang Ainetter versichert, was nichts daran ändert, dass es sich stellenweise so liest. Zumindest wirkt das alles auf angenehme Weise frei von Bitterkeit, wobei natürlich interessant wäre zu wissen, ob Andreas Scheuer das auch so sieht. Zwischen den Zeilen stellt sich die Frage, ob jemand so uneingeschränkt Totalversager und Depp der Nation sein kann, wie Scheuer es in der öffentlichen Mehrheitsmeinung war und vermutlich ist. Das Brandzeichen der mit Ansage gescheiterten „Ausländer-Maut“ wird Scheuer ein Lebtag tragen, wohlverdient, und gerade deshalb darf man sich auch mal an einen Minister erinnern, dessen Nahbarkeit und Gutgelauntheit ja schon auch Qualitäten waren. Und dem, bevor die Mautspirale ihre volle Drehgeschwindigkeit erreichte, selbst manche Grüne zubilligten, dass er von Verkehrspolitik mehr verstehe als seine Amtsvorgänger.
Im Buch ruft der Minister Rohr einmal nach Mitternacht einsam und bekümmert seinen Pressesprecher an und beklagt sich, dass er „wie der letzte Depp rüberkomme – nur weil Sie nicht verhindern, dass alle über mich lachen! Ich bin doch nicht in die Politik gegangen, um jede Woche in der ,Heute-Show’ oder der ,Anstalt’ zu landen.“ Dann will der Minister noch wissen, warum Journalisten ihn bitteschön „nicht leiden können“. Und genau da kommt einem ein Satz in den Sinn, mit dem Scheuer mal gegenüber Reportern einen Mitarbeiter verteidigte, der in Bedrängnis geraten war: „Nehmt’s mich, aber lasst’s ihn leben.“
Was auch immer Wahrheit ist und was Erfindung, das ist eine wunderbar universale Empfehlung. Lasst’s ihn leben.
ROMAN DEININGER
Es ist als Zeitzeuge schwer,
nicht immer wieder an
Andi Scheuer zu denken
Dieses Buch soll
keine „Abrechnung“ mit
seinem früheren Chef sein
Andreas Scheuer, CSU, 2020 in Berlin.
Foto: IMAGO/IPON
Wolfgang Ainetter: Geheimnisse, Lügen und andere Währungen. Haymon Verlag, Innsbruck 2024. 312 Seiten, 13,95 Euro.
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