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Ein einsames Haus in den Bergen und eine Naturkatastrophe, nach der ein Schweizer Kanton sich plötzlich lossagt von unserer Gegenwart: »Sinkende Sterne« ist ein virtuoser, schwebend-abgründiger Roman, in dem eine scheinbare Idylle zur Bedrohung wird und der uns tief hineinführt in die Welt der Literatur selbst.
Thomas Hettche erzählt, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, märchen-haften Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein
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Produktbeschreibung
Ein einsames Haus in den Bergen und eine Naturkatastrophe, nach der ein Schweizer Kanton sich plötzlich lossagt von unserer Gegenwart: »Sinkende Sterne« ist ein virtuoser, schwebend-abgründiger Roman, in dem eine scheinbare Idylle zur Bedrohung wird und der uns tief hineinführt in die Welt der Literatur selbst.

Thomas Hettche erzählt, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, märchen-haften Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt und das Wallis zurück in eine mittelalterliche, bedrohliche Welt. Sindbad und Odysseus haben ihren Auftritt, Sagen vom Zug der Toten Seelen über die Gipfel, eine unheimliche Bischöfin und Fragen nach Gender und Sexus, Sommertage auf der Alp und eine Jugendliebe des Erzählers.

Grandios schildert Hettche die alpine Natur und vergessene Lebensformen ihrer Bewohner, denen in unserer von Identitätsfragen und Umweltzerstörung verunsicherten Gegenwart neue Bedeutung zukommt. Im Kern aber kreist die musikalische Prosa dieses großen Erzählers um die Fragen, welcher Trost im Erzählen liegt und was es in den Umbrüchen unserer Zeit zu verteidigen gilt.
Autorenporträt
Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter 'Der Fall Arbogast' (2001), 'Die Liebe der Väter' (2010), 'Totenberg' (2012) und 'Pfaueninsel' (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman 'Herzfaden' (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2023

Im Vaterland des Schreibens

Thomas Hettches neuer Roman

"Sinkende Sterne" ist Selbstauskunft und

Kartographierung des ureigenen Terrains.

Wer das Werk Thomas Hettches durchpflügt, der stößt dort immer wieder auf Refugien. Schon in Hettches Debüt "Ludwig muss sterben" (1989) erzählte ein Mensch in der Wohnung seines Bruders die Geschichte von dessen vergeblicher Flucht vor dem Tod nach Italien - ein hundertachtzigseitiger Sturz ins Nichts, der aber nur Roman werden konnte, weil er eingehegt war ins Museale eines zurückgelassenen Apartments. "Nox" (1995) - der bis heute vielleicht drastischste Text aus Hettches Feder - ließ dann seinen Erzähler bereits auf der dritten Seite und aus dem Jenseits den Weg seiner Mörderin durch das Berlin in der Wiedervereinigungsnacht rapportieren.

Dass Literatur und Leben nicht nur an den Landschaften hängen, die sie passieren, sondern dass man dem, was geschieht, einen unverrückbaren Ort schaffen muss, an dem es überhaupt denkbar und sagbar werden kann: Das ist ein Kerngedanke dieses Werks, das durch den Gegensatz von historischer wie sozialer Erosion und Statik beherrscht wird. In "Der Fall Arbogast" lag der blinde Fleck, von dem aus die Nachkriegs-BRD neu bespiegelt wurde, in der Zelle des Hans Arbogast, in "Pfaueninsel" (2014) brach sich das Preußentum im von Schinkel erbauten Palmenhaus, "Herzfaden" (2020) wiederum fand seinen Ankerpunkt im klassischsten aller Refugien, nämlich auf dem Dachboden.

Nun also ein neuer Ort: ein Chalet bei Leuk, ehemals im Besitz der Eltern Thomas Hettches, nun verwaist und heimgesucht vom Sohn, der - als Erbe und formell neuer Besitzer der Parzelle - vom Kastellan von Leuk schriftlich aufgeboten wurde. Mit der Rückkehr in das aus der Kindheit noch vertraute Haus beginnt "Sinkende Sterne", Hettches jüngster Roman, und ob sein Erzähler dieses Haus jemals verlassen hat: Wer will es entscheiden? Vorerst erfährt man von einigen Umwälzungen, die das Oberwallis ergriffen haben, vor allen Dingen ein Bergsturz, in dessen Folge sich die Rhone aufgestaut und das Tal überschwemmt hat.

Das trägt natürlich Züge von climate fiction, aber Hettche war immer dafür bekannt, Genres nicht zu bedienen, sondern sie für sich zu nutzen. So auch hier: Man ahnt zwar, was die Katastrophe verursacht haben könnte - zu warme Winter, zu viel Regen, herunterbrechendes Kalkgestein -, aber womöglich liegen die Gründe doch tiefer. Immerhin hat der Bergsturz "auch unsichtbare Veränderungen ausgelöst und mit ihr sei etwas ins Rutschen gekommen, das die Gesellschaft selbst verwandelt habe". Womöglich war der soziale Kollaps weniger das Resultat des ökologischen als vielmehr dessen Ursache.

So findet der in die Fremde Heimgekehrte sich nun in einer zu allem Überfluss auch schlecht beheizten Welt wieder, in der die Uhren rückwärtszulaufen begonnen haben. Nicht allein nimmt die Gemeinschaft der verbliebenen Bergbewohner die Überflutung zum Anlass, alle Verbindungen ins Tal zu kappen und sich zu refeudalisieren. Der politisch-historischen Archaik entspricht auch eine erzählerische: Die Gebirgslandschaft wird wieder zur mythischen Sphäre, Tod und Leben vermischen sich, Gespenster zeigen sich, "arme Seelen", im Notariat, auf dem Berggrat, überall. Die Risse im Gestein reichen tiefer.

Wer in solch eine Landschaft gerufen wird, der wird geprüft. So, wie er daherkommt, weist sie ihn ab: Kein Recht scheint der Erzähler an ihr zu besitzen. Die Kindheitserinnerungen, die er mit ihr verbindet, werden ihm abgesprochen, denn der Kastlan von Leuk hat ihn nur herbestellt, um ihn über seine bevorstehende Enteignung zu informieren. Was wäre dem noch entgegenzusetzen? Das ist die Frage, auf die dieser Text Antworten sucht.

"Sinkende Sterne" ist, wie so mancher seiner Vorgänger, ein poetologischer Roman, der Figuren und Handlungen zum Anlass nimmt, Grundfragen von Hettches Schreiben und der eigenen Werkgeschichte zu reflektieren. So erscheint das Wallis mitsamt seinen alten und neuen Herrschern nicht zuletzt auch als ein allegorisches Reich, in dem der restriktiv-bürokratischen Gestalt des Kastlans (ein ehemaliger Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei, versteht sich) die "Bischöfin" gegenübersteht, ein schwarzer Hermaphrodit mit FFP2-Maske und Haupt einer Kirche, die von der Kunst Beistand bei der Aufgabe erwartet, den Menschen zu bessern.

In der Konkretion wirkt die Szenerie - in Verbindung mit dem Umstand, dass der Erzähler seinen universitären Lehrauftrag infolge eines Mangels an "political correctness" verloren haben will - überzeichnet; ärgerlich ist das freilich vor allem, weil sie die kluge Selbstbefragung zu überdecken droht. Die Überzeugung, dass die Kunst niemandem zu dienen habe, ist nämlich leichter dahergesagt als argumentiert, schon gar nicht von einer Erzählinstanz, deren Name 2005 noch unter einem Manifest des "Relevanten Realismus" zu finden war, in dem vom Gegenwartsroman gefordert wurde, "die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache zu machen".

Es genügt deshalb nicht, Judith-Butler-Phrasen mit Nietzsche zu plätten oder der theoriegewandten Bischöfin ihren "Saint Foucault" zu entheiligen. Der Einspruch gegen die Vereinnahmung der Literatur muss vielmehr in der Literatur selbst gefunden werden. Denn tatsächlich spricht ja einiges für die trügerische Allianz zwischen identitärem und poetischem Engagement, nämlich eben die "Poiesis", die stets in Fertigung begriffene Welt. Man beginnt neu zu lesen, Homer, 1001 Nacht, und stößt dabei auf die eigentümliche Koinzidenz von okzidentaler und orientaler Vorstellungskraft. Odysseus wie Sindbad: Beide verwandeln sich im Angesicht der Gefahr in einen "Niemand", beide entidentifizieren sich, um zu überleben.

Gerade hierin aber erkennt der Erzähler das der Literatur eigene Privileg: "die List, Niemand zu sein". "Niemand zu sein", das bedeutet eben gerade nicht, "alles" oder überhaupt "etwas" sein oder werden zu können. "Niemand zu sein", das bedeutet - und hier kommt man dem Titel des Romans überhaupt erst näher - sich selbst zu verlieren.

Schreiben, das ist ein langsames Versinken, ist Zerfall. Mögen andere ein literarisches Leben für den Triumph der Konstruktionscharaktere halten, so erscheint es bei Hettche als Schwäche, als "fragiles System", dem die Taumelbewegungen der Natur einen sichtbaren Ausdruck verleihen. In diesem allmählichen Schwinden der Kräfte etwas anderes erkennen zu wollen als das Schreckliche, das es eben ist, ihm gar mit Moral zu begegnen, das wäre falsch. Wer sinkt, der sinkt und verdient dafür weder Bewunderung noch Mitleid.

Wenn Männer tatsächlich "sinkende Sterne" sind, wie Isabelle Huppert gesagt haben soll, dann befähigt sie ihr Sinken gerade nicht dazu, etwas anderes oder überhaupt: anders sein zu können. Und so bleibt auch der Mann, der diesen Roman durchlebt, wie beim Schreiben jedes seiner vorherigen Romane hilflos, schambehaftet, gefangen im Strudel von "Gewalt, Sehnsucht und Schuld". Was bleibt, ist die Verzeichnung der Widersprüche, die sich nicht wieder zu Identitäten fügen können. Und ein kluger Satz: Das Gemachte ist nicht das Wahre.

Man kann sich bisweilen in diesen Reflexionssträngen verlieren, denn sie sollen sich ja auch nicht schließen. Irgendwann wehen sie einen dann wieder zurück in die Landschaft und zu jenem Dichter, der sie bewohnt hat und in ihr begraben ist: zu Rilke. Auch dieser ein Sindbad-Leser, auch dieser ein einzig der Kunst Verschriebener, der denjenigen, die er enttäuscht und verletzt, keine andere Medizin weiß als die schöpferische Existenz. Die Lehre der sinkenden Sterne mäandert so durch die Generationen und Künste; aus dem Sohn von Rilkes verstoßener Gefährtin Elisabeth Dorothea Spiro wird der Maler Balthus, den man wiederum am Ende des Romans im Zwiegespräch mit David Bowie wiederfindet.

Man hat dieses Gespräch schon einmal gelesen, nämlich bei Hettche selbst, in einem kurzen, "Mitsou" betitelten Text aus dem Jahr 1994 - und so entpuppt sich die Leuker Phantasmagorie letztlich als ein Kreisen in der eigenen Schrift, ein Irren durch alte blaue Schreibhefte, inmitten derer der Erzähler sich schließlich wiederfindet. Was Erleben und was literarische Erfindung war, das verschwimmt ihm im Rausch des Opioids, das er der Hinterlassenschaft der väterlichen Apotheke entnommen hat - und das auf den tiefsten Grund dieses Buches weist.

Aller Abstraktion und Abschweifung zum Trotz nämlich breitet sich Hettches erzählendes Delirium nicht über irgendeiner "Lücke in der Schöpfung" aus, sondern über einer ganz bestimmten: über dem Tod des Vaters. Geschrieben, halluziniert, analysiert wird hier auf Schmerzmittelbasis; der Schmerz aber gründet in der Erkenntnis, dass der Welt, die dieser Roman bewohnt, etwas abhandengekommen ist. Spuren finden sich noch: altes Werkzeug, Medikamente, Buchstaben. Die unerträgliche Beobachtung, dass die Arve ein Anagramm sein könnte, wenn ihr nicht das "T" fehlen würde, das man selbst im eigenen Namen mit herumschleppt. Das Haus, der Denkraum, aus dem man verwiesen ist und den man dennoch weiter bewohnen möchte. Kein Zweifel: "Sinkende Sterne" kartiert das Vaterland. Vor allem anderen ist es ein Buch großer Trauer. Selten las sich Thomas Hettches Prosa so zerbrechlich, so verletzt. PHILIPP THEISOHN

Thomas Hettche: "Sinkende Sterne". Roman.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. 224 S., geb., 25,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Ein Bergsturz hat im Wallis die Rhone aufgestaut und etliche Täler geflutet. Die Menschen, die überlebt haben, nutzen die Gelegenheit, sich ganz abzuschotten von anderen, vorzugsweise französischsprachigen Wallisern. Dies ist die Ausgangslage von Thomas Hettches Roman "Sinkende Sterne", erzählt Rezensentin Angela Gutzeit. Der Ich-Erzähler, der nach dem Ferienhaus seiner Eltern sehen will, aber auch die Entlassung von seinem Uni-Job verdauen muss, wird von misstrauischen Soldaten empfangen. Seine Entlassung verdankt er seiner Weigerung, Gender- und Identitätsdiskurse in seinen Vorlesungen so zu berücksichtigen, wie die Leitung es wünscht, erfahren wir. Hettche nimmt die Abgeschiedenheit im Wallis zum Anlass, seinen Protagonisten über Ästhetik und Kulturkritik nachdenken zu lassen und vermischt das mit einer teils phantastischen Handlung, erklärt Gutzeit. Ihr gefällt die "Lebendigkeit" von Hettches Überlegungen, aber irgendwann ermüdet sie. Interessante Themen, aber zu viel davon, ließe sich ihre Kritik resümieren.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2023

Ein Haus, dem Untergang geweiht
Und die Rückkehr dorthin gerät dem Erzähler zur Geschichte der Literatur, ja des Planeten. Jeder geringere Autor als Thomas Hettche müsste daran scheitern
Aufklärung ist Thomas Hettches Sache nie gewesen. Selbst in seinen Romanen mit einer vordergründigen Kriminalhandlung wächst das Unklare und Dunkle mit jedem Indiz, jedem Fortschritt der Erkenntnis. Nicht weil die Auflösung eines Rätsels oder die Beantwortung einer analytischen Frage zu den langweiligen unserer weltsichernden Rituale gehörte, sondern weil das Streben nach sicherem Wissen notwendig Verkennungen produziert und Thomas Hettche an eben diesen Verkennungen interessiert ist. Er will sie zugleich verstehen und das Heimliche und Verführerische an ihnen genießen.
Das war schon immer so. Deshalb ist das Obszöne, manchmal Laszive, das Sinnlich-Abstruse bei ihm stets gepaart mit der Theorie seiner Entstehung und Funktion und in dieser Janusköpfigkeit zu einem Markenzeichen seiner Prosa geworden. Schlau und dämonisch, hell und dunkel. „Sinkende Sterne“, der Roman, der eigentlich eine essayistisch begleitete Novelle ist, beginnt einmal mehr mit dem Ungreifbaren, dem Wetter: als Hintergrund, als Ereignis und nach wenigen Zeilen schon als ein Protagonist des Romans. Thomas Hettche ist ein Bewunderer der Wetterinstrumentalisierung in der Prosa, wie er mit seinen Arbeiten zu Wilhelms Raabes Novelle „Zum wilden Mann“ ausführlich demonstriert hat; und nutzt sie nun selber, gleich zum Eintritt in den Roman: Ein Sturm bricht los, als der Held, zurückgekehrt in das Bergdorf seiner Kindheit, an die altvertraute Haustür tritt. Der Wind stürmt durch die Gassen, fährt in die Türlaibung des Vaterhauses hinein und dringt auch schon durch sämtliche Ritzen, und wir rauschen an all den alten Dingen vorbei durch die materielle Innenwelt einer Kindheit. Schon sind wir drin im Roman, wir Lesenden wie der Wind.
Nur der Held nicht, Thomas Hettche mit Namen. Er erzählt das Ganze und versucht, die Tür zu schließen. Ja genau!, kein Lesefehler, der Held und Erzähler, der nach einem halben Leben ins Haus und in seine Kindheit zurück will, macht nicht nur die Tür nicht auf, er schließt sie stattdessen ab. „Vorsichtig steckte ich den Schlüssel ins Schloss, das tatsächlich nicht verstopft war und sich schließen ließ, als wäre ich nur kurz weg gewesen und nun wieder zurück.“ Er, dessen Eltern längst verstorben sind, hat, um einzutreten in deren Haus, die Tür abgeschlossen. Das ist kein Versehen des akribischen formulierenden Autors, sondern eine hintergründige Verkehrung: Seine Welt ist eine ferne, eine versunkene Welt – und soll es sein!
Das entspricht dem ganzen Aufbau der Erzählung. Denn das von der Rhone durchflossene wallisische Alpental seiner Herkunft steht weitgehend unter Wasser. Durch einen Erdrutsch hat sich der Fluss aufgestaut, ein See ist entstanden, dort, wo all die schönen Dörfer mit ihren Kirchen und Rathäusern und Bahnhöfen lockten, von Leuk bis Siders und Sion, von Visp bis zum Rilke’schen Muzot. Von seinem an einem Berghang erhöht gelegenen Haus kann der Erzähler das verführerisch flirrende Desaster sehen. Und wir damit auch den äußeren Grund seiner Rückkehr: Er soll das Ferienhaus der Eltern verkaufen, denn Ausländer dürfen im Katastrophengebiet keinen Grundbesitz mehr halten.
Was der Erzähler aber durch all die Unbill hindurch erkennt, ist etwas anderes: wie nämlich unter dem Wasser des neu erstandenen Sees die alten Zeugnisse der Kultur und die in ihnen geborgenen noch älteren Geschichten in einen neuen traumhaften Zustand geraten sind, der auch ihre ganze Umgebung erfasst. Ein Tal der Toten und Untergegangenen ist entstanden, ein dämonisches Reich, in dem die Spuren des Vergangenen sich in Geistern, alten Ritualen, düsteren Ahnungen verkörpern, ein umgekehrtes Menschenreich. Weil es abgeschlossen ist, sind wir auf irrationale Weise angeschlossen an seine dunklen Kräfte und unbekannten Herrlichkeiten, an die schöne Fremdheit der eigenen Vergangenheit, die zu bergen die Kunst ist, in jedem Sinne. Hettche zitiert einmal die Wendung von der „Trockenlegung der Zuidersee“, die Freud in seinen späten „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ als Analogie gebraucht hat, um deren Aufgabe zu charakterisieren, psychische Energien im Es dem Ich, also dem Bewusstsein zugänglich zu machen; Landgewinnung durch Eindeichen und Poldern wie einst im holländischen Ijsselmeer.
In „Sinkende Sterne“ geschieht, analog zum Abschließen der Haustür, das Gegenteil: Ein wohlgeordnetes Stück Schweizer Geschichte und Gegenwart geht im Wasser unter, und es versinkt mit ihm das stolze Selbstbewusstsein, die instrumentelle Rationalität, die soziale Stabilität. Katastrophe, Untergang, Schiffbruch mit Cicerone. Und unser Cicerone-Erzähler Hettche hat den siebten Sinn für die leisen Töne und blassen Erscheinungen des Untergegangenen, er lässt die Walliser Sagen und Mythen aufleben, von den irrenden „Armen Seelen“, von Hungersnöten und Leichenzügen über die Berge, von lockenden Lichtern und tödlichen Schneewehen. Er erzählt es, anstatt dem Es auf den Grund zu gehen. Und den Grund dafür sagt ein einheimisches Mädchen im fremd klingenden Schwyzerdütsch: „Wä mur däe Sach uf du Grund geit, ischt da nix.“ Frei übersetzt: Wenn man der Sache auf den Grund geht, ist da nichts. Oder noch freier: Die Forschung nach dem Grund bringt ihn zum Verschwinden.
Doch längst schon gilt die Kunst, das Erzählen selbst als Medium der Erkenntnis. In unseren selbstbezogenen, maßstablosen und damit kanonfernen Zeiten ist sie in die Defensive geraten. Und unser stellvertretender Verteidiger des Althergebrachten, Thomas Hettche, besucht mit einem Boot den halb untergegangenen Rilketurm im nahen Muzot, um den Meister im Originalton sagen zu lassen (in einem Brief von 1923), dass er sich eine Psychoanalyse nicht erlaube, weil er fürchte, „wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, – und – fühlen Sie – gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen“.
Von Teufeln und Engeln erzählen auch Marietta und Serafine, Mutter und Tochter, Figuren aus der Vergangenheit, die den Erzähler mitnehmen aufs nahe Maiensäß und die ferne Bergalpe, wo sie Kühe und Schafe hüten, auf umständliche Weise Käse erzeugen, mit Gerüchen von Wiesengräsern und Kräutern. Eine evolutionäre Stufe tiefer steigen wir ein in die Entstehung des Lebens und der Arten, die, anders als von Charles Darwin beschrieben, sich im Zusammenspiel und nicht im Wettbewerb ereignet. Noch eine erdgeschichtliche Stufe tiefer drücken wir mit der afrikanischen Kontinentalplatte die europäische zusammen, bis sie sich auftürmt und zum Alpenkamm faltet. Hettche skizziert die Entwicklung des Planeten aus dem Geist der Erzählung. Selten hat jemand einen höheren Begriff von der literarischen Kunst gehabt und musste ihn dann naturgemäß im Vollzug poetisch beglaubigen. Die Basis von allem ist das Meer von Homer, Odysseus, dann folgt eine wilde Jagd von Sindbad, dem Seefahrer, William Butler Yeats und Proust, Balthus und David Bowie – vor allem führt sie längs durch alle bisherigen Bücher Hettches. Oder in einer anderen, eher essayistischen Filiation zu Sokrates, Lukrez, Heidegger und Wittgenstein. Versehen das alles mit feinsten poetisch und erotisch aufgeladenen Intarsien.
Dies unfallfrei wie aus einer zusammenhängenden Handbewegung ins Werk zu setzen, ist Hettches eigentliches Kunststück. Wenn man in seinem Sprechen drin ist, Wort für Wort betont lesend, gleitet man sanft dahin. Aus der Entfernung staunt man leicht befremdet über die enorme Fülle und artistische Zuspitzung aller Motive, über kulturkritische Absicht und hohe Ambition dieser sehr speziellen philosophisch ausgreifenden und zugleich biografisch intimen Novelle.
HUBERT WINKELS
„Sinkende Sterne“ heißt der neue Roman von Thomas Hettche. Foto: picture alliance/dpa
Thomas Hettche: Sinkende Sterne. Roman.
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2023. 215 Seiten,
25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»ein sehr kluges Buch, ein differenziertes, ein ambivalentes Buch« Denis Scheck WDR 2 Buchtipp 20240204