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Auf der Suche nach dem Osten im Westen - Gregor Sander in Gelsenkirchen
Seit dreißig Jahren betrachtet der Westen den Osten. Dreht und wendet die Ostdeutschen wie Schnitzel in der Pfanne. Es ist an der Zeit zurückzugucken. "Sander du musst in den Westen", mit diesen Worten seines besten Freundes Schlüppi beginnt die Reise von einer goldenen Pommesbude in Ostberlin nach Gelsenkirchen. Sander wohnt hier bei Zonengabi im Glück (BRD) und ihrem Freund Ömer in einem alten Bergmannshaus. Er versucht sich zu orientieren zwischen alten Abraumhalden, nagelneuen Leninskulpturen und einer…mehr

Produktbeschreibung
Auf der Suche nach dem Osten im Westen - Gregor Sander in Gelsenkirchen

Seit dreißig Jahren betrachtet der Westen den Osten. Dreht und wendet die Ostdeutschen wie Schnitzel in der Pfanne. Es ist an der Zeit zurückzugucken. "Sander du musst in den Westen", mit diesen Worten seines besten Freundes Schlüppi beginnt die Reise von einer goldenen Pommesbude in Ostberlin nach Gelsenkirchen. Sander wohnt hier bei Zonengabi im Glück (BRD) und ihrem Freund Ömer in einem alten Bergmannshaus. Er versucht sich zu orientieren zwischen alten Abraumhalden, nagelneuen Leninskulpturen und einer Vergangenheit, die 1000 Meter unter der Erde liegt.

Gregor Sander, eine der wichtigsten Stimmen der gesamtdeutschen Literatur, nimmt uns in »Lenin auf Schalke« mit dorthin, wo der Westen arm dran ist. Keine Zeche mehr, keine Kokerei und kein Stahlwerk, die Ruhrpottluft dank Arbeitslosigkeit gereinigt und auch Schalke 04 ist inzwischen zweitklassig. Hintersinnig, klug beobachtend und mit humorvollem Ernst erzählt Sander von einem Ort, der in allen Negativstatistiken führt: ärmste Stadt Deutschlands, höchste Arbeitslosigkeit, geringstes Pro-Kopf-Einkommen. Staunend entdeckt Sander eine Welt, die von der alten Bundesrepublik vergessen wurde. Nur ist Gelsenkirchen deshalb wirklich der Osten im Westen?
Autorenporträt
Gregor Sander, geboren 1968 in Schwerin, lebt als freier Autor in Berlin. Für seine Romane und Erzählungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Sein Romandebüt »Abwesend« war für den Deutschen Buchpreis nominiert, sein Roman »Was gewesen wäre« wurde prominent besetzt verfilmt. Bei Penguin ist zuletzt sein Roman »Alles richtig gemacht« erschienen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensentin Insa Wilke sieht in Gregor Sanders Reisebericht in den Ruhrpott den Versuch, den Ossis mal die Wessis zu erklären. Dafür lässt der Autor seinen Protagonisten von Berlin ins trostlose Gelsenkirchen reisen. Dass Sander das Elend zwischen zugenagelten Schaufenstern, Brachland und Neubauzonen nicht zynisch betrachtet und seine Figuren nicht sabotiert, sondern in aller Tragikomik und ohne Kitsch inszeniert, gefällt Wilke. Auch wie der Autor das Büdchen als Begegnungsort feiert und sich selbst als Figur in schöner Sprachlosigkeit einbringt, scheint Wilke gekonnt und wahrhaftiger als etwa bei Moritz von Uslar, wenn der den Osten erkundet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2022

Wurst ist alle
Gregor Sander hat genug davon,
Ost-Erklärer zu sein, und erzählt
in seinem Roman „Lenin auf Schalke“
jetzt mal den Wessis, was sie verdrängen.
Wer waren zum Beispiel die „Gäste“,
die man all die Jahre die schmutzige Arbeit
machen ließ?
VON INSA WILKE
Für viele Biografien markieren die „Wende“-Jahre eine brachiale Erfahrung. Die Autorin Ines Geipel hat in einem ihrer Bücher eine ganze „Generation Mauer“ ausgemacht. Literarisch werden diese Jahre von ostdeutschen Autoren aber nach wie vor oft aus der Perspektive komisch-naiver Figuren erzählt. „Peter Holtz“ von Ingo Schulze und auch Lutz Seilers Roman „Stern 111“ waren zuletzt Beispiele dafür. Schon klar: Satire. Aber stellt sich nicht doch, spätestens seit dem 24. Februar 2022 und der notwendigen Neubewertung der 1990er Jahre auf europäischer Ebene, die unbehagliche Frage, ob die zumindest für Westdeutsche gut verdauliche Erzählweise ausgereizt ist?
Gregor Sander, 1968 in Schwerin geboren, zitiert den Charakter des tumben Toren in seinem neuen Buch „Lenin auf Schalke“, dreht den Spieß aber um. Nicht die ostdeutsche Seele wird seziert, sondern die westdeutsche, die in den dreißig Jahren seit der „Wende“ zu kurz kam: „Sander, jetzt kein Pardon! Da musst du ran.“ Der da zur Tat ruft, ist Schlüppi, ein Prachtexemplar der von Ines Geipel beschriebenen Generation, das bei Sander allerdings recht lässig „im Zwischendeck des Mauerfalls hängen geblieben“ ist und da hinreißend anarchisch seine Dinger dreht. Wer will, kann andere Dimensionen einer durch den historischen Bruch gekennzeichneten Existenz mitlesen.
Der Autor Gregor Sander hat sich zuletzt gegen die Erwartung verwahrt, den Osten erklären zu müssen: „Das nervt“, sagte er 2020 im Deutschlandradio. Aus der Not hat er jetzt also eine Tugend gemacht: „Lenin auf Schalke“ ist ein Reisebericht, eine literarische Aktion, ein kalauerndes Schelmenstück mit dann doch feinem Biss. Denn Schlüppi schickt Freund Sander eines frühen Berliner Morgens auf humanitäre Mission, als man gerade gemütlich zwischen Späti und Konnopke beim letzten Bierchen im „Hackepeterrot“ der Schnapsideen versackt. Es geht um Gelsenkirchen, die kranke Frau am Rhein-Herne-Kanal, den traurigsten Ort einer an sich schon tristen Zone, für die der städtische Marketing-Chef in den Kampf gegen Windmühlen zieht.
Ach, der Ruhrpott! Was wurde er verherrlicht in seinem Dämmerlicht. Von Autoren wie Feridun Zaimoglu, von Filmemachern wie Dominik Graf, der am Beispiel der Stadt Marl und des Grimme-Preises mit seinem großartig melancholischen Film-Essay „Es werde Stadt“ eben nicht nur bundesdeutsche Fensehgeschichte erzählt, sondern auch städtebauliche Hybris bezeugt hat. Gregor Sander hingegen verfolgt eine bestimmte Absicht: den Wessis ihren Westen und ihr eigenes Verdrängtes zu erklären.
Mit so einem Projekt kann man ganz schön baden gehen und gleich dem ganzen Ruhrgebiet auf die Füße treten. Aber „Lenin auf Schalke“ ist eine komplizenhafte Hommage an ein Heimatgefühl aus dem Geiste des Jetzt-erst-recht. Und letzteres braucht es: Geschlossene Kneipen, wohin man blickt, zugenagelte Schaufenster, desolate Nobel-Neubaugebiete und elende Brachen mit peinlicher Hochkulturnutzung. Und mittendrin: lauter redliche Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck und zugleich auf der Zunge haben.
„Treuhand, Treuhand, Treuhand!“ ist das Mantra, das Schlüppi seinem Freund mit auf den Weg gegeben hat, sollten ihm die Tränen kommen angesichts der vorzeitig abgeblasenen Lebensträume, beispielsweise manifestiert in einer handbeschriebenen Tafel, die traurig im verstaubten Fenster einer schon lang geschlossenen Metzgerei baumelt: „Die Wurst ist alle.“
Sander bietet jede Menge solcher komischer Momente, die eigentlich nicht komisch sind. Ihre Komik entsteht aus dem Gegensatz zwischen Beschreibung und Bewertung, zwischen Elend und Expertise, was erstaunlicherweise nicht ins Zynische kippt: „Auf der anderen Seite der Bochumer Straße, die uns nach Ückendorf führt, steht ein kleines Haus mit einer leeren Apotheke im Erdgeschoss. ‚Engel‘ hieß die mal, was für eine verlassene Apotheke natürlich doppelt poetisch klingt. Das musst du erst mal schaffen. Mit einer Apotheke pleitegehen, dachte ich anerkennend.“ Da kennt sich einer aus, in den Abstufungen der Bankrotterklärungen.
Das alles aber ist Kulisse, unterhaltsames Beiwerk. Wie auch die titelgebende Szene, die das Fest der lokalen Kommunisten anlässlich des Imports einer ausrangierten tschechischen Lenin-Statue auf die Schippe nimmt. Geschenkt. Die eigentliche Zentralfigur und Sanders Kontrahent heißt Ömer. Boy meets girl, West liebt Ost, also Ömer die Gabi, alias Zonen-Gaby, die Frau, die es mit einer Gurke in der Hand auf das Cover der Titanic und in die Geschichte schaffte. Sie heißt im fiktiven echten Leben, das Sander der Titanic-Figur Zonen-Gaby andichtet, Gabriele Wolanski und ist Schlüppis Cousine, wohnhaft in Gelsenkirchen, wo sie erstens Ömer getroffen und zweitens ihr Auskommen als „Historienperformerin“ gefunden hat.
Gabi besticht durch entwaffnende (eigentlich klassisch westliche) Äußerungen. Etwa, wenn Ömer beschreibt, wie sein türkischer Vater Anfang der 1960er Jahre, angeworben für den Steinkohleabbau unter Tage, die „Gesundheitsprüfung“ über sich ergehen lassen musste: „Die haben denen die Zähne auseinandergebogen, die Muskeln vermessen und die Eier abgetastet.“ Gabi zieht die Schultern hoch und sagt: „Das ist natürlich nicht so schön.“ Diese Mischung aus Hilflosigkeit, Liebe und Aufrichtigkeit bei gleichzeitig eklatantem Unverständnis – das wiederum muss man als Schriftsteller erstmal in einem einzigen Satz hinkriegen. Zumal der Autor seine Figur nicht sabotiert, sondern ihre Leser, die sich teilweise mutmaßlich wiedererkennen werden.
Mit Geschichten wie der von Ömer haben übrigens Fatma Aydemir und Özkan Ezli gerade einen neuen Standard für das kollektive Gedächtnis hierzulande gesetzt. Aydemir durch ihren Roman „Dschinns“, Ezli durch seine beeindruckende Analyse „Narrative der Migration. Eine andere deutsche Kulturgeschichte“. Wenn Gregor Sander nun seinen Ömer tragikomisch inszeniert, ist das heikel.
Etwa wenn der Autor Gabi und Ömer stolz die Aussicht über das „Ruhegebietsmeer von Moers bis Hamm, von Marl bis Hagen“ präsentieren lässt – wohl auch eine stille Referenz auf Wolfgang Hilbigs Gedicht „Das Meer in Sachsen“. Oder, wenn Ömer den Sander ins „Büdchen“ einlädt, das er von seinem Vater übernommen hat. Der hatte auf Trinkhalle umgesattelt, als er „völlig kaputt und im Arsch war von eurer Scheißkohle“, wie Ömer sagt. Gregor Sander gelingen Balance-Akte ohne Kitsch und ohne Entwertung: Das Büdchen als milieuübergreifende Begegnungsstätte der westdeutschen Gesellschaft; ein Heimatgefühl, das eher ein Stockholm-Syndrom ist.
Vor allem aber legt er fast beiläufig dem Westen den Finger in die Wunde. Eine Wunde, die ohne und mit Migrationsvordergrund unsere Geschichte ist – nicht die „der Anderen“. Was Gregor Sander anders macht als beispielsweise Moritz von Uslar, wenn der den Osten beschreibt: Er bezieht sich selbst ein und legt die eigene Schwäche offen, als Solbruchstelle seines Buchs. Diese Solbruchstelle ist die Sprachlosigkeit zwischen Ömer und Sander. Sander Autor vermeidet es, ein wirkliches Gespräch oder gar eine Solidarisierung zwischen ihnen zu inszenieren, wie es Naika Foroutan und Jana Hensel mit ihrem Buch „Gesellschaft der Anderen“ nahegelegt haben. Ömer und Sander halten Abstand, scheinen keine Lust zu haben, nun auch noch diese Rolle im großen Wiedervereinigungsdrama zu spielen.
Mehr noch: Ömer bleibt Objekt, Sander beschreibendes Subjekt. Damit macht sich der Autor Gregor Sander angreifbar, denn gerade die jüngere Generation des Literaturbetriebs tut sich schon länger schwer damit, Verständnis aufzubringen für solche Sprachlosigkeit auf nur einer Seite. Und was macht Sander? Er holt sich eine von ihnen in sein Buch. Im ausschlaggebenden Kapitel zitiert er die Schriftstellerin Enis Maci, zufälligerweise Gelsenkirchnerin. Maci wurde mit dem Essayband „Eiscafé Europa“ auf einen Schlag zu einer der wichtigen Stimmen, wenn es um eine gegenwärtige, also ihre Migrationsgeschichten anerkennende deutsche Kulturgeschichte geht. Gregor Sander zitiert sie wie verwundert aus der Distanz, als wüsste er, dass von diesen Jüngeren etwas zu lernen ist, was den Figuren seines Buches noch nicht bewusst und ihrem Autor nicht möglich ist, solange er sich noch mit den eigenen Fremd-Zuschreibungen rumschlägt. Genau durch diese Unterströmung wird „Lenin auf Schalke“ aber zu sehr viel mehr als eine lustigen Schnapsidee.
Migrationsvordergrund hin oder
her, das ist unsere Geschichte,
nicht die „der Anderen“
„Ich bin aber hier geboren“ hieß das Debüt des 1968 geborenen Schriftstellers Gregor Sander, ein Erzählungsband, der 2002 erschien.
Sander lebt heute in Berlin.
Foto: Thorsten Futh
Zugenagelte Häuser und elende Brachen mit peinlicher Hochkulturnutzung: Strukturschwäche West, hier in Gelsenkirchen.
Foto: Rupert Oberhäuser/imago
Gregor Sander:
Lenin auf Schalke.
Penguin, München 2022. 192 Seiten, 20 Euro.
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»Sander, gebürtiger Schweriner, guckt sich um. Findet eine Stadt der liegen gebliebenen Geschichten. Die schreibt er auf, mit präzisem Blick. Liebevoll, selbstironisch.« Welt am Sonntag, Literarische Welt, Elmar Krekeler