Ungewöhnlich kombinierter, in sich nicht ganz stimmiger, abwechslungsreich erzählter Roman
Als Schriftstellerin Ruth am Strand spazieren geht, findet sie dort das angeschwemmte Tagebuch der jungen Nao aus Tokyo. In den Einband von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat Nao ihre Gedanken
niedergeschrieben, weil sie wohl nicht mehr lange leben wird. Indem ihr die eigene Vergangenheit…mehrUngewöhnlich kombinierter, in sich nicht ganz stimmiger, abwechslungsreich erzählter Roman
Als Schriftstellerin Ruth am Strand spazieren geht, findet sie dort das angeschwemmte Tagebuch der jungen Nao aus Tokyo. In den Einband von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hat Nao ihre Gedanken niedergeschrieben, weil sie wohl nicht mehr lange leben wird. Indem ihr die eigene Vergangenheit bedeutungslos erscheint, entschließt sie sich von ihrer Urgroßmutter Jiko zu erzählen. Die ist eine 104 Jahre alte Zen-buddhistische Nonne, zu der sie ein enges Verhältnis pflegt.
“Geschichte für einen Augenblick” wird aus Sicht von Nao in Gestalt der von ihr verfassten Tagebucheinträge und von Schriftstellerin Ruth geschildert, während eben diese Tagebucheinträge von ihr gelesen werden. Beim Lesen entwickelt sich eine interessante Dynamik zwischen den beiden ungleichen Frauen. Nao spricht in ihrem Tagebuch wiederholt dessen zukünftigen Leser an, obwohl der ihr unbekannt ist. Ruth hingegen versucht den Hintergrund der Tagebucheinträge zu recherchieren, wenn sie mehr über Naos Familie anhand der gegebenen Informationen erfahren will. Ruth googelt etwa, ob Naos Familie zu den Opfer des Tsunami gehört. Denn die erste These, die zum Tagebuch von Ruths Mann Oliver aufgestellt wurde, besagt, dass das als Vorbote des Tsunami-Trifts bei ihnen angekommen ist.
Die Kapitel von Nao geben einen tieferen Einblick in die japanische Lebensweise, etwa in die Pop-Kultur sowie über von Naos Urgroßmutter Jiko gelieferte Erklärungen in buddhistische Weisheiten. In ihren Tagebucheinträgen schreibt Nao ihre Gedankengänge einfach herunter. Erläuterungen dazu werden in Gestalt von diversen Fußnoten nachgeschoben, mit denen Ruth das Gelesene kommentiert. Ihre Anmerkungen betreffen japanischen Gerichte wie Omaraisu, Stadtteile wie Akihabara oder Harajuku, die japanische Höflichkeitsform oder auch die gesundheitlichen Vorteile von Ginkgoblättern. Darüber hinausgehende Ausführungen finden sich in mehreren Anhängen, die sich u.a. mit Zen-Augenblicken oder der Namensgebung japanischer Tempel auseinandersetzen.
Die von Ruth Ozeki in ihrem Roman "Geschichte für einen Augenblick" angesprochenen Themen sind an sich recht tragisch. So schildert Nao zu Beginn die Schicksalsschläge, die ihre Familie erleiden musste, als sie ihr Leben in den USA verloren hat. Eine der Konsequenzen, die das nach sich gezogen hat, ist das grausame Mobbing von Nao in der Schule. Denn sie hinkt im Stoff hinterher, weil sie zuvor nur auf eine amerikanische Schule gegangen ist. Ruth hingegen sorgt sich um ihren erkrankten Mann Oliver, während sie sich mit ihren Memoiren befasst. In diesen verarbeitet sie den Verlust ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter, um die sie sich gekümmert hat. Dennoch ist der Roman eher locker-leicht geschrieben, was dem Drama einen Teil seiner Wirkung nimmt und einen eigenwilligen Touch durch die nebenher einfließenden Zen-meditativen Betrachtungen erhält.
Mit Ende des ersten Teils kippt die Stimmung aber. Der eingangs noch so positive Ton, indem selbst abgründige Themen abgehandelt wurden, wird deutlich düsterer, als das Leid der Tsunami Opfer in eindringlichen, vor Ort aufgenommenen Videos beschrieben wird, die Ruth sich online anschaut. Insgesamt fällt der Roman morbider aus, wenn Nao sich nach einer von ihrer Klasse mit Unterstützung des Lehrers für sie abgehaltenen Totenfeier bemüht ein lebendiger Geist zu werden, um in der Nacht die Mitschüler, die sie gequält haben, heimzusuchen.
Im Verlauf von "Geschichte für einen Augenblick" entwickelt Ruth Ozeki ihre Handlung mehrfach in eine für mich unerwartete Richtung, wenn sie darin überraschende Elemente integriert. Da lässt die Autorin etwa das Milieu der japanischen Pop-Kultur auf Informationen zum Walsterben, Wiederaufforstungsprojekte auf einen nach seinem zu programmierenden Gewissen entscheidenden Algorithmus, im zweiten Weltkrieg ausgebildete Himmelssoldaten auf japanischen Zen-Buddhismus und westliche Philosophie, das systematische Mobbing einer Schülerin auf Mystery-Elemente treffen und wiederholt schlägt die Stimmung um, in der der Roman wiedergegeben wird. Dabei will die Autorin jedoch zu viel auf einmal. Denn es ist ihr leider nicht geglückt ihre so interessante Sammlung unterschiedlichster Themen zu einem in sich stimmigen, übergeordneten Ganzen zusammenzuführen. "Geschichte für einen Augenblick" hätte ich als gelungener empfunden, wenn daraus zwei separate Bücher geworden wären. In einem davon hätten als Historien-Drama mit buddhistisch-philosophisch angehauchter Betrachtungsweise die Lebensgeschichte von Naos Urgroßmutter Jiko und deren Sohn, dem Himmelssoldaten Haruki, behandelt werden können. Ein weiteres Buch hätte ein Coming-of-Age Roman mit besonderer Meta-Ebene und Mystery-Elementen sein können, in dessen Verlauf die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwommen wären, bis diese in die Einbindung quantenmechanischer Theorien gegipfelt hätten.