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kaffeeelse

Bewertungen

Insgesamt 548 Bewertungen
Bewertung vom 21.04.2024
Die Wut, die bleibt
Fallwickl, Mareike

Die Wut, die bleibt


ausgezeichnet

Alte Rollenbilder und die Wut

Ein drastisches Buch! Helene, Ehefrau und Mutter dreier Kinder, leidet in ihrer Ehe schon recht lange. Sie macht das, was wir alle machen. Sie funktioniert. Aber eben nur das. Denn die Freude am Tun ist ihr abhanden gekommen. Sie erstickt in dem Bild, welches sie sich selbst auferlegt hat. Aber nicht nur sie selbst. Auch ihr Umfeld macht dies. In ewig gestrigen Erwartungshaltungen wird uns Frauen schon recht früh beigebracht, wozu wir gedacht sind. In den Rollenbildern, in der seichten Belletristik und in filmischen Schätzen a la Hollywood wird uns suggeriert, was wir wollen sollen. In bestimmten weiblich assoziierten Berufen mit niedrigen Löhnen werden wir wirtschaftlich mehr oder weniger gezwungen Bündnisse mit anderen Menschen einzugehen, um über die Runden zu kommen, um etwas abzubekommen vom großen wirtschaftlichen Kuchen. Sich dem zu entsagen kostet Kraft. Denn es wird Fragen geben. Warum hast du keine Kinder? Zum Beispiel. Und nach der Antwort folgen dann schnell gefällte Urteile. Frau gerät ins Abseits, wird stigmatisiert, wenn sie sich traut, ein anderes Lebensbild zu propagieren. Und die, die sich nicht trauen gegen den Strom zu schwimmen landen in dieser Falle. Aber auch diejenigen Frauen, die eine Familie wollen, können sich schnell in dieser Situation wiederfinden. In einer Situation wie Helene.

Und sie können daran zerbrechen. Wie Helene. Denn Helene springt vom Balkon in die Tiefe, sie springt vom Balkon in den Tod. Und die Familie ist schockiert. Aber nicht nur die Familie, auch ihre engste Freundin, Sarah. Das Buch fängt dann die Reaktionen von Helenes Umfeld auf. Und zeigt hier einen schon recht kranken Umgang mit dem Verlust.

Die 14-jährige Tochter Lola soll laut dem Vater Johannes die Sorgearbeit im Haushalt und in der Kinderbetreuung der beiden Geschwister Lucius und Maxi übernehmen. Dies mag vielleicht etwas überzeichnet wirken. Aber ich bin mir sicher, dass es solche Sichtweisen immer noch recht oft gibt. Und nicht nur solche Sichtweisen. Sondern auch Handlungen.

Und noch etwas Überzeichnetes, die Freundin Sarah macht sich Vorwürfe und aus diesen Vorwürfen heraus handelt sie und unterstützt in ihren Augen Helenes Familie, übernimmt Helenes Rolle, übernimmt Helenes Care-Rolle, übernimmt die weibliche Pflicht. Besser kann es Johannes nicht treffen. Denn Sarah übt sich in der weiblichen Pflicht zur Selbstaufopferung. Was Lola wütend macht. Und diese Wut muss raus. Und hier kommen wir zum dritten überzeichneten Aspekt des Buches.

Da ist viel Überzeichnetes. Ja. Aber dennoch hat dieses Überzeichnete einen wahren Kern. Denn ein großer Teil unserer Gesellschaft denkt genau so. Dies muss man leider sagen. Und dies ist nicht überzeichnet. Denn wir leben nicht nur in den Städten und sind fortschrittlich und aufgeschlossen. Mitnichten. Gerade in der heutigen Zeit merkt man dieses Gefälle zwischen den fortschrittlichen Geistern und den ewig Gestrigen. Leider ist dies auch nicht überzeichnet. Siehe Paragraf 218. Oder manche Diskussion zum Thema Cannabis-Legalisierung. Oder im Zuspruch zur blauen Partei.

Und wer hier bemängelt, dass dieses Buch zu einseitig schaut. Ja. Mag sein. Männer kommen hier nicht gut weg. Aber mal ehrlich. Wie viele Männer helfen denn den Frauen aktiv in unserer patriarchalen Zeit, dass unsere Welt weniger aggressiv gegenüber den Frauen ist, weniger misogyn auftritt und die Geschlechter endlich gleichberechtigt sind? Auf die Taten kommt es an. Nicht auf die Worte. Nicht auf das Corona-Klatschen. Die Taten sind es, die zählen. Und sorry. Da gibts leider nicht so viel zu berichten. Von daher finde ich dieses Überzeichnete hier genau richtig. Denn es rüttelt auf. Es regt zum Nachdenken an. Und es berichtet leider viel Reales. Auch wenn man gern die Augen davor verschließt!

Bewertung vom 14.04.2024
Ein ehrenhafter Abgang
Vuillard, Éric

Ein ehrenhafter Abgang


sehr gut

Höher-Schneller-Weiter

In seinem Buch "Ein ehrenhafter Abgang" erklärt Éric Vuillard hervorragend was westliche Wirtschaftsinteressen, menschliche Gier und Politik tun, was sie bewirken, wie unsere postkoloniale Welt funktioniert. Dies alles wird anhand dem Beispiel Indochina erklärt, ist aber problemlos auch auf andere Gebiete anwendbar. Kein schönes Buch. Eher eine Aneinanderreihung von Schrecklichkeiten. Keine Wohlfühllektüre. Eher ein interessanter Blick auf das Raubtier Mensch. Aber eine wichtige Lektüre. Denn dies sollte man wissen. Denn wir in der westlichen Welt können nicht vollkommen unbeteiligt tun und anklagend mit dem Finger darauf zeigen.

Natürlich sind wir alle in der westlichen Welt an diesem Geschehen beteiligt. Sind ein Teil in diesem kapitalistischen Rädchen. Aber das heißt ja nicht, dass wir machtlos sind. In unserer Kaufkraft nämlich steckt ein wichtiges Mittel zur Regulierung von manchen Prozessen. In dem wir uns genau überlegen, welches Produkt in unserem Einkaufswagen landet, haben wir eine Möglichkeit einzugreifen. Eine kleine Möglichkeit, wenn man uns als Einzelne betrachtet, aber eine große Möglichkeit, wenn wir als größere Gruppe agieren. Proteste bewirken Aufmerksamkeit, sind ein probates Mittel. Aber ein Überdenken unseres Konsums greift dieses System aus Gier und Profit noch drastischer an. Denn mal ehrlich, brauchen wir wirklich ständig etwas Neues? Oder kann man sich dieses Belohnungssystem in uns nicht auch neu überdenken? Andererseits wieder kann man sich die Frage stellen, was will man denn sonst. Denn unser System hat für uns auch viele Annehmlichkeiten, auf die man vielleicht ungern verzichtet. Letztlich ist das immer eine Frage der Abwägung verschiedener Interessen und damit sind wir wieder in der Beteiligung. Ja, schwierig. So einfach kann man nicht sagen ihr seid die Bösen. Denn die Bösen sind wir alle, eben weil wir Menschen sind.

Dieses Geschehen hier in diesem Buch gibt es ständig und überall, auch jetzt. Wir brauchen nicht weit zu schauen. Und dazu kann man nur sagen, ist dieses Geschehen in Ordnung? Oder finden wir es einfach nur schrecklich? Nun denn Leute. Wir können im Kleinen handeln. In unseren politischen Entscheidungen. In unserem Konsumverhalten. In unserer Nachhaltigkeit. Ob dies nun großartige Veränderungen hervorbringt, keine Ahnung. Aber man selbst fühlt sich dadurch vielleicht etwas wohler und kann vielleicht etwas fröhlicher sein Konterfei im Spiegel betrachten. Vielleicht. Maybe.

Bewertung vom 14.04.2024
Der Verschwundene
Vekemans, Lot

Der Verschwundene


sehr gut

Familienangelegenheiten

Dieses Buch gibt einen Einblick in eine dysfunktionale Familie, Einblick in eine Familie, die das Reden verlernt hat und an der fehlenden Kommunikation krankt. Eigentlich möchte man die Familienangehörigen sehr oft einfach schütteln und/oder auch mal deftig anschreien. So viel Inkompetenz auf einen Haufen. Nun das ist mal etwas. Aber dies gibts leider sehr oft. Denn manche Ereignisse im Leben lassen Betroffene verstummen.

Der vor seiner Familie aus den Niederlanden nach Kanada geflohene Simon soll seinen Neffen, den Sohn seiner Schwester bei sich aufnehmen, als Ferienunterbringung sozusagen. Er sagt mehr oder weniger gezwungen zu. Sein Neffe, Daan, kommt zu ihm und die Differenzen lassen auch nicht lange auf sich warten. Denn Simon weiß ja auch nicht, warum seine Schwester ihren Sohn zu seinem Onkel schickt. Denn Simon hat ja mit sich und seinen Unzulänglichkeiten zu tun, versucht seine beschädigte Seele zu kitten, mit einem sehr zu hinterfragenden Erfolg.
Simon verliert seine Unabhängigkeit und auch Daan weiß nicht, woran er bei Simon ist, wie viel Simon von dem Geschehen in den Niederlanden weiß. Schlimm! Daan versauert in Simons Wohnung, weiß nichts mit sich anzufangen, ein Pubertier eben, er hat es sich in den Kopf gesetzt in die Rocky Mountains zu wollen, wo er schon mal in Kanada ist. Von der Größe des Landes scheint er unbeeindruckt, ebenso wie er es nicht hinterfragt, was dies für den arbeitenden Simon bedeuten könnte. Irgendwann gibt Simon aber trotz seiner Beinverletzung nach, er geht auf Daan zu und man denkt, juhu, ein Hoffnungsschimmer, aber nein, jetzt beginnt das Drama erst recht.

Ein interessantes Buch über eine dysfunktionale Familie, ihre Nichtstruktur und deren böse Folgen. Spannend und intensiv! Anfänglich plätschert dieses Buch etwas, aber dann entwickelt sich sehr schnell ein mächtiger Sog.

Bewertung vom 14.04.2024
Die Freiheit so nah
Kästner, A. A.

Die Freiheit so nah


ausgezeichnet

Wandernde Worte

In diesem Buch schaut die Autorin A. A. Kästner auf eine Clique von Freunden in der DDR, aber es ist nicht irgendeine Gruppe von Freunden. Es ist die Clique ihres Mannes. Das Buch ist ein Blick auf ein reales Geschehen, ist ein Blick auf ein nahes Geschehen. Und dies merkt man als Leser. Dieses Buch sitzt und dringt in mich ein. Denn die DDR kenne ich noch und von daher sitze ich auch nicht so weit weg vom Geschehen. Einiges von den gezeichneten Dingen ist natürlich für ehemalige DDR-Bürger besser zu verstehen, und auch dieser Staatsapparat ist natürlich ein Begriff.

Eine Clique von Freunden versucht nach der Schule ihr Leben zu führen und diese Clique scheitert an ihrem Leben. Denn in der Gruppe gibt es viel Kritik am System und diese Kritik bekommt leider ein Eigenleben und stürzt diese Gruppe von jungen Männern ins Chaos. Traurig. Aber leider wahr.

Aber nicht nur dadurch finde ich dieses Buch richtig gut. Die Autorin kann natürlich schreiben und sie hat einen besonderen Blick auf die Menschen, wobei ihre Ausbildung/ihr Studium/ihre Arbeit in der Psychologie und in der Psychiatrie sicher sehr hilfreich war. Dieses Buch ist spannend und intensiv. Aber es ist auch etwas düster, bzw. lauert dieses Düstere etwas am Rande. Bevor es dann zu Tage tritt. Manchen mag das natürlich zu viel erscheinen, besonders wenn man mit dem System nicht kollidierte. Aber dass dies einem nicht selbst widerfahren ist, heißt ja bekanntlich nicht, dass es das nicht gab.

Besonders zu jetzigen Zeiten finde ich dieses Buch sehr sehr passend. Hoffentlich lesen es viele von diesen Menschen, die unsere Demokratie so kritisieren, vielleicht hilft dieser Blich auf ein die Menschen zerstörendes System diesen Menschen ihre Gedanken etwas zu ordnen, also möglichst vor der nächsten Kreuzchenvergabe, bevor sie sich selbst und anderen mit ihrer Ignoranz schaden.

Bewertung vom 25.03.2024
Mirmar
Soppa, Josefine

Mirmar


ausgezeichnet

Frauenarbeit

Ein interessantes Buch! Ein dystopisches Buch! Ein Buch, welches etwas Zeit gebraucht hat, um seinen Zauber zu entfalten. Anfänglich, die ersten 50 Seiten in etwa, fand ich es recht langatmig und habe mich gefragt, wohin Josefine Soppa mit mir möchte. Aber dann zündete der Funken und ich konnte mich ganz schwer dem plötzlich entstandenen Lesesog entziehen.

Denn dieses Buch spricht mich direkt an! Es geht um die Frauen, die in ihrer täglichen Arbeit unser System am Laufen halten, aber so wenig vom System dafür wertgeschätzt werden, da es ein patriarchales System ist, welches nur die "wichtigen", patriarchalen Arbeiter unterstützt.

Diese patriarchalen Arbeiter, die mit ihren Aktionen für Weltwirtschaftskrisen sorgen, diese patriarchalen Arbeiter, die auf Lebensmittel spekulieren, um die Preise in die Höhe zu treiben und damit für den eigenen Reibach zu sorgen, nicht darauf achtend, dass dies Hungersnöte auslöst, worauf dann etwaige Revolutionen folgen, diese patriarchalen Arbeiter, die mit Schadstoffen hantieren und diese dann irgendwie entsorgen, ohne darüber nachzudenken, ob sie etwa damit Menschen vergiften könnten.

Diese Frauen aber in ihren sozialen Berufen, die die Welt am Laufen halten, sind ersetzbar und unnötig in den Augen diesen Börsenmakler, dieser Aktionäre, dieser Vorstände, in den Augen des Patriarchats halt. Und hier in diesem Buch finden diese Frauen Wege sich aus diesem System auszuklinken. Das ist etwas, was wir Frauen uns in diesen patriarchalen Welten mal dringend zu Gemüte führen müssten. Und wir sollten nicht nur darüber nachdenken! Wir sollten endlich handeln und diesen Egomanen zeigen, wie wichtig wir sind!!!

Bewertung vom 25.03.2024
Pageboy
Page, Elliot

Pageboy


ausgezeichnet

Ich will leben!

Ein Blick auf einen transsexuellen Menschen. Ein Blick auf Elliot Page. Sein Blick auf sein Leben. Ein etwas unstrukturiertes Buch, was so einige andere Leser schon bemängelt haben. Ja, dieses Buch ist etwas unstrukturiert, springt in den verschiedenen Zeiten des Elliot hin und her. Aber irgendwie kommt es mir so vor, als sollte dies etwas zum Ausdruck bringen. Denn so linear erfolgt ein eingeschlagener Weg, eine Transition sicher nicht, dies ist ein Prozess, ein langwieriger Prozess, ein steiniger Weg. Denn man weiß ja nicht was einen da erwartet, in diesem Danach. Das Leben vorher war schon kein Zuckerschlecken, sondern eher ein Spießrutenlauf. Und das macht etwas mit den Betroffenen. Und genau das sieht man hier, dies empfindet man hier. Und in diesem etwas zerrissen wirkenden Stil empfindet man dies noch mehr. So erging es mir mit diesem Buch.

Ich empfinde Elliot Page in seiner Zeichnung seines bisherigen Lebens, in der Beschreibung seiner Transition als emotional und ehrlich, ich empfinde dieses Buch als einen zutiefst ehrlichen Blick auf etwas, was man niemandem wünscht. Denn dieser Blick auf sein Leben, auf seinen Kampf um sein Leben ist etwas, was wachrütteln sollte. Niemand sonst muss darum kämpfen endlich seinen richtigen Körper zu bekommen, niemand sonst muss darum kämpfen von seiner Umwelt als der Mensch erkannt zu werden, der er ist. Dies sollte sich jeder Leser einmal zu Gemüte führen, man muss darum kämpfen als man Selbst erkannt zu werden. Diesen Kampf müssen die Wenigsten führen, aber viele erdreisten sich diesen Weg zu bewerten, weil der eigene Horizont nicht ausreicht, um zu begreifen, was es für schwierige Schicksale gibt.

Und auch wenn man diesen Kampf gewonnen hat, diese Transition gemeistert hat, heißt das ja nicht, das sich dadurch alles andere in Wohlgefallen auflöst. Die erlittenen Traumata bleiben ja, man kann sie verarbeiten, ja, sie sind dann nicht mehr so zentral, ja, aber sie verschwinden nicht. Sie bleiben erhalten. Und sie wirken nach.

Ein intensives Buch! Ein empathisches Buch! Ein Plädoyer für die Menschlichkeit! Ein sooo wichtiges Buch! Danke Elliot für deine Ehrlichkeit! ❤

Bewertung vom 25.03.2024
Joy
Lee, Jonathan

Joy


sehr gut

Traumata und Folgen

Die Anwältin Joy Stephens soll zur Partnerin in einer renommierten Anwaltskanzlei ernannt werden. Sie hat es also geschafft. Sie ist also eine Siegerin in unserer auf die Stellung und die Werte begründeten westlichen Welt. Doch ist dies wirklich so?

In dem Buch "Joy" prangert Jonathan Lee sehr gekonnt den Leistungsdruck in unserer Gesellschaft an und er zeigt in seinem Buch, was eine Stellung innehaben in unserer Welt bedeutet. Das Menschsein wird beleuchtet in diesem Roman in seinen hehren Zielen und der schnöden Wirklichkeit. Nun ist aber auch hier der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft als alleinige Ursache für die Zusammenbrüche von den vielen Zahnrädern, die eine Gesellschaft nun einmal bilden, ad absurdum geführt. Denn dies allein ist es natürlich nicht, was die Menschen kaputt macht. Da kommen immer noch persönliche Anteile hinzu. Der Krug geht halt so lange zum Brunnen, bis er bricht. Und es gibt immer mehr Krüge die brechen, warum nur? Und es wäre sehr vermessen hier anzunehmen, dass es nur die Anderen trifft. Nein, nein, hier ist jeder gefährdet, denn brechen kann jeder. Dies sollte uns klar sein.

Jonathan Lee blickt in seinem Buch zurück auf die zahlreichen Gründe, die zum drastischen Geschehen geführt haben und dies gelingt ihm spannend und auch eindrucksvoll. Ein Buch über Traumata und deren Folgen. Ein Buch, welches die Leserschaft wachrütteln sollte, aufmerksamer für die Umgebung zu sein. Denn ein empathisches Wort zur rechten Zeit ist manchmal hilfreich und verhindert manchmal vielleicht Schlimmeres. Wenn wir alle etwas empathischer mit unserer Umwelt wären, wer hätte da eigentlich einen Schaden davon. Außer, dass das vielleicht etwas Zeit frisst. Aber wenn wir alle etwas empathischer wären, hätten wir alle schließlich einen Nutzen davon. Aber sind wir das eigentlich? Empathisch. Im größeren Sinne. Oder sind wir nicht eine Spezies aus der Gattung der Raubtiere?

Ein intensives Buch!

Bewertung vom 17.03.2024
Die Töchter des Bärenjägers
Jordahl, Anneli

Die Töchter des Bärenjägers


sehr gut

Familienbande

Auch dieses Buch war ein recht eigenwilliges. Diese Töchter des Bärenjägers sind eine Herausforderung, einerseits ungemein interessant, aber irgendwie auch abstoßend. Ich schwanke während der Lektüre hin und her. Einerseits erwecken diese Frauen einen gewissen Humor in mir, dann wieder eine Traurigkeit und dann wieder eine Wut. Dabei waren diese Charaktere nicht unglaubwürdig. Dies nicht. Aber ich wurde auch nicht unbedingt warm mit ihnen. Freundinnen wären wir definitiv nicht geworden.

Nur ist dies alles nicht ihre Schuld. Sondern sie sind eher das Produkt ihres Umfelds. Und das müssen sie nur begreifen. Aber dieses Begreifen ist schwierig für sie. Denn sie sind intensiv beeinflusst worden. Ihnen ist die Bildung verwehrt worden, denn so lassen sie sich von diesem Bärenjäger besser lenken. Und diese Gehirnwäsche zu durchbrechen ist nicht einfach. Auch ihre Mutter, die Frau des Bärenjägers hatte keine Chance, auch sie wird durch den Bärenjäger bei ihren Kindern diffamiert. Und so hat auch die Mutter keinen Einfluss auf ihre Kinder, ist auch gefangen in dem Netz, welches der Bärenjäger für seine Familie gesponnen hat. Traurig! Sehr traurig! Aber nicht nur das, auch hier ist die Mutter beides, Opfer und Täter. Ich habe Mitleid mit ihr, aber andererseits regt sie mich ebenso auf, wie das auch ihre Töchter tun. Eine interessante Gemengelage, eine interessante Familienstruktur! Einige Töchter schaffen es eher die Familienstruktur als negativ einzuordnen, andere später, manche werden krank, manche schaffen es vielleicht gar nicht aus ihren Grenzen herauszukommen.

Ein intensives Buch! Und ein spannendes Buch!

Bewertung vom 17.03.2024
Tove Ditlevsen
Andersen, Jens

Tove Ditlevsen


ausgezeichnet

Tove Ditlevsen

Ein absolut interessanter Blick auf eine unbequeme und eigenwillige Frau. Eine Frau, die mich nicht gleich am Anfang hatte, da war ich erst noch in einer inneren Abwehrhaltung. Aber nach und nach gewinnt die sperrige Tove Ditlevsen mein Herz. Denn obwohl das etwas Divenhafte auch abstößt, genauso hat es auch seinen Reiz und seinen Zauber. Erinnert sie mich doch sehr an andere unangepasste Vertreter unseres Geschlechts.

Dazu kommt dann noch, dass Tove Ditlevsen aus einer früheren Zeit stammt, in der Frauen es noch deutlich schwerer hatten. Die Härte, die sich in ihr entwickelt hat, wird aber auch auf deren Entstehungsgeschichte beleuchtet. Und heraus kommt dadurch eine vielschichtige Tove, die immer stark und selbstständig bleiben musste, bleiben wollte. Und so viel Stärke zu beweisen, kostet natürlich auch immense Mengen an Kraft.

Dazu kommt, dass Tove sich fallen lassen möchte, sich betäuben will, von der ewigen Anstrengung ihres Lebens. Und dies tut sie dann auch. Sie bekämpft ihre inneren Dämonen. Geht wegen ihren Suchterkrankung, aber auch wegen anderer psychischer Leiden oft in die Psychiatrie. Dies zeigt die inneren Kämpfe, die Tove durchstehen musste. Und dies macht mich traurig. Denn wenn man mal eigentlich über Toves Leben nachdenkt, kommt unweigerlich die Frage auf. Hatte sie denn eine Chance unbeeinträchtigt aus ihrem Erlebten herauszukommen?

Ein schweres Leben. Und dennoch findet Tove die Kraft für die Arbeit der schreibenden Zunft. Vielleicht auch etwas, was sie rettet, zumindest eine Zeit lang. Eine beeindruckende Frau!

Bewertung vom 17.03.2024
Echtzeitalter
Schachinger, Tonio

Echtzeitalter


sehr gut

Coming of Age und der Gamer

Der Buchpreisgewinner des Deutschen Buchpreises von 2023. Echtzeitalter von Tonio Schachinger. Ein interessantes Buch mit einem ganz eigenen Sprachklang, ein differenzierter und vielschichtiger Blick auf Österreich, eine Gesellschaftskritik in Gestalt eines Coming of Age. Ein Buch zur richtigen Zeit. Denn es sendet seine Tentakeln in verschiedene Bereiche der Welt in Österreich. Genauso kann man es aber auch in andere Teile der westlichen Welt verlagern und Parallelen finden. Wenn man dies denn will. Von daher ist das Buch vollkommen gelungen und macht eindeutig Spaß.

Nun wird es ein Coming of Age schon allein wegen der Gestalt des Romans schwer haben, vollständig in mich einzudringen. Und genauso ist es auch hier. Ich verbleibe etwas distanziert. Und dies ist meine Kritik. Ein junger Gamer und ich. Nun, dass kann nicht gut gehen. Denn Verständnis für seine Lebenssichten habe ich wenig. Aber ich lerne und sehe die Welt durch andere Augen. Und dies ist doch schon mal etwas. Ebenso muss ich diesen österreichischen Humor, diese österreichische Schmäh hervorheben. Denn beides habe ich genossen. Sehr sogar! Und dies macht diesen Einblick in eine junge männliche Seele wieder interessant.

Trotzdem werden es bei mir nur 4 von 5 Sternen. Und der Sieg beim Deutschen Buchpreis erschließt sich mir nicht. Echtzeitalter ist ein gutes Buch, ja. Dennoch gibt es für mich mit dem Buch von Anne Rabe einen anderen Favoriten. Da ich mir vorgenommen habe, auch noch die anderen Longlist-Bücher nach und nach zu lesen, bin ich sehr gespannt, ob dieser Eindruck so bleiben wird, oder ob noch ein weiterer 5 Sterne Kandidat auftauchen wird, der „Die Möglichkeit von Glück“ überflügeln wird. Ich verbleibe neugierig.