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Ein literarischer Schatz wird gehoben. Andrea Giovenes Romanserie Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - entdeckt und übersetzt von Moshe Kahn
Giuliano di Sansevero wächst auf in der verfallenden Pracht der Paläste seiner Vorfahren; während des Aufenthalts in einer nahe bei Neapel gelegenen Klosterschule bricht der Erste Weltkrieg aus. Im Schatten des Krieges und in der turbulenten Zeit danach erwachen im jungen Giuliano die Liebe zu den Büchern, das Interesse am weiblichen Geschlecht - und die Neugier auf die Welt.

Produktbeschreibung
Ein literarischer Schatz wird gehoben. Andrea Giovenes Romanserie Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero - entdeckt und übersetzt von Moshe Kahn

Giuliano di Sansevero wächst auf in der verfallenden Pracht der Paläste seiner Vorfahren; während des Aufenthalts in einer nahe bei Neapel gelegenen Klosterschule bricht der Erste Weltkrieg aus. Im Schatten des Krieges und in der turbulenten Zeit danach erwachen im jungen Giuliano die Liebe zu den Büchern, das Interesse am weiblichen Geschlecht - und die Neugier auf die Welt.

Autorenporträt
Andrea Giovene (1904-1995) war Spross der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Er besuchte eine Klosterschule und wurde nach dem Studium Autor. Als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und war Zwangsarbeiter in Norddeutschland. Seine Romanfolge Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (5 Bände zwischen 1966 und 1970) war ein sensationeller Erfolg, wurde preisgekrönt, für den Nobelpreis nominiert und in verschiedene Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint sie erstmals vollständig auf Deutsch.  Moshe Kahn, geboren 1942, Übersetzer von Pier Paolo Pasolini, Primo Levi, Muigi Malerba, Andrea Camilleri, Roberto Calasso, Norberto Bobbio u.a.; 2015 wurde er für seine letzte Entdeckung und Übersetzung, Stefano D'Arrigos Horcynus Orca, mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis, dem Jane Scatcherd-Preis, und dem Paul-Celan-Preis (fürs Lebenswerk) ausgezeichnet. 
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Dass Andrea Giovenes vor mehr als fünfzig Jahren publizierte Romanreihe um den jungen Adligen Giuliano di Sansevero nun auch auf Deutsch erscheint, ist für Rezensent Tim Caspar Boehme ein Anlass zur Freude. Gespannt verfolgt er die genauen, mal nüchternen, mal ironisch gebrochenen Schilderungen aus dem Leben des Heranwachsenden, die von eigenen Erfahrungen des Autors inspiriert sind, die sich um Giulianos Erlebnisse im Kloster, aber auch um Familien- und Zeitgeschichte  drehen. Dass auch der aufkommende italienische Faschismus nicht ausgespart wird und die Handlung um die oft mit charakterlichen Schwächen ausgestatteten Familienmitglieder erstaunlich wenig Adelsdünkel enthält, überzeugt den Rezensenten noch zusätzlich. Der "introspektive Tonfall" ist gewöhnungsbedürftig, räumt er ein, aber die Lektüre unbedingt lohnenswert, ist sein Fazit.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2022

Edler Abstieg
Vom jüngsten Spross einer Familie des neapolitanischen
Hochadels erzählt Andrea Giovene in ganzen fünf Bänden:
die Geschichte einer sterbenden Klasse
Im dritten, hintersten Salon des herzoglichen Palastes, in einem blaugrünen Dämmerlicht, hängt eine riesige Leinwand. Der Stammbaum der Familie findet sich darauf abgebildet, ein ebenso gigantisches wie verschlungenes Gebilde mit unzähligen Verästelungen und reichem Blattwerk. Am unteren Rand, dort, wo der Stamm aus der Erde hervortritt, ist der Name „Gedeone“, Gideon, mit der märchenhaften Jahreszahl „1002“ verzeichnet. Dann geht es hinauf, Ast für Ast, Zweig für Zweig, über das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit, bis der sechsjährige Knabe, der den Baum betrachtet, nichts mehr erkennen kann.
Dabei steht er auf einem Stuhl, den er auf einen Tisch gestellt hat. Irgendwo dort oben müsste sein Name eingetragen sein. Aber er ist nicht zu sehen, was nicht nur an der Entfernung und an der Dunkelheit liegt: „Zur Spitze hatten Feuchtigkeitsflecken ganze Generationen überwältigt, sie glichen ganzen Schwärmen mit einem Schrotschuss durchsiebter Spatzen. Der Baum kräuselte sich, er trübte und schlug Wellen.“ Kaum hat das Buch begonnen, zielt das Schicksal seines Helden ins Vage.
Über fünf Bände erstreckt sich die „Autobiographie des Giuliano de Sansevero“, halb authentischer Lebensbericht und halb Roman. Erzählt wird die Geschichte des (soweit man nach zwei Bänden weiß) jüngsten Sprosses einer hochadligen Familie in Neapel, von einer Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die späten Fünfziger. Unterwegs zieht der Held durch Mailand, Rom und Paris. Er baut sich ein Haus in einer Einöde mit Meerblick, er kämpft als Offizier in Griechenland, lebt als Zwangsarbeiter auf deutschen Bauernhöfen. Abenteuerlich ist die Lebensgeschichte, die der neapolitanische Schriftsteller Andrea Giovene erzählt.
Eine erste Auflage musste er auf eigene Kosten drucken lassen. Dann erschien das Werk, vermittelt über die Begeisterung eines schwedischen Kulturjournalisten, in den späten Sechzigern in Italien und wurde in mehrere Sprachen übersetzt – um schnell vergessen zu werden in einer Zeit, als nichts weniger interessant zu sein schien als das Leben süditalienischer Aristokraten (die Ausnahme ist Tomasi di Lampedusas „Der Leopard“, erschienen 1958, ein Roman, der auch zunächst nicht wahrgenommen wurde). In Italien wurden die Bücher im Jahr 2012 neu aufgelegt, mit mäßiger Resonanz. Es ist ein kühnes Unternehmen, wenn der Verlag Galiani das Werk jetzt, in der Übersetzung Moshe Kahns, in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht: Die ersten beiden Bände sind in diesem Herbst erschienen, die drei weiteren werden im Lauf des kommenden Jahrs folgen.
Eine „Autobiographie“ hat Andrea Giovene sein Werk genannt, und tatsächlich ist die Geschichte, die von einem Ich-Erzähler vorgetragen wird, nach Lebensabschnitten gegliedert. Über die Bindung der erzählten an die tatsächlichen Ereignisse indessen schreibt der Autor, er habe „ein Gebäude“ schaffen wollen, „das ganz wahr war und ganz fantastisch“ sei. Das Wort „Autobiographie“ ist also in einem besonderen Sinn zu verstehen: als Entwurf, der sich über eine verlorene Geschichte spannt, in sich konsequent, aber geknüpft an Figuren, Gedanken und Stimmungen, bei denen sich nicht ermitteln lässt, wie real sie waren. Denn diese Welt ist verschwunden. Sie gehörte einer Aristokratie, die ihre hergebrachten Aufgaben im Krieg und bei Hof nicht mehr wahrnehmen konnte und vergaß, welche Güter sie besaß und welche Einnahmen sie kontrollierte, die sich in Mesalliancen verstrickte und die sich selbst betrog, bis in den Ruin und darüber hinaus, und die daraufhin in einem stolzen Fatalismus dem Ende entgegengezogen zu sein scheint, nicht willens und vielleicht auch nicht fähig, auf nur einen Ball zu verzichten.
Die frühe Kindheit verbringt Giuliano in einem weitläufigen Palazzo, der von seinem Vater beherrscht wird, einem Patriarchen, der zwar Architekt geworden ist und einen großen Anteil an der Modernisierung Neapels im späten 19. Jahrhundert hatte (was einen halben Verrat an der Klasse dargestellt haben muss), der aber über seine Familie sowie einen weiten Kreis von Verwandten und Standesgenossen herrscht wie ein ferner König, unnahbar, scheinbar unbekümmert um seine Nächsten, doch zuweilen mächtig wie ein antiker Gott.
Zuflucht findet der Knabe, um den sich hauptsächlich das Personal bemüht, in einem Zimmer am tiefen Ende eines langen Flurs. Dort beginnt eine Laufbahn als Hagestolz. Sie wird in einer Klosterschule fortgesetzt. Die Rigidität des Ordenslebens, die intellektuellen Ansprüche, das Konzept absoluter Beständigkeit kommen ihm ebenso entgegen wie die Idee eines eisenverstärkten Lineals, das strafend auf die Frostbeule eines Mitschülers niedersaust. Die öffentliche Schule hingegen, die er danach besucht, ist ihm ebenso gleichgültig wie das Studium, auch wenn er zwischendurch beherrscht, was von ihm verlangt wird: Er will nichts werden. Ein wahrer Adliger wird nie ernsthaft einen Beruf ergreifen. Was sollte es Höheres als ihn geben?
Es gehört zu den Eigenheiten einer solchen „Autobiographie“, dass sie mehr Chronik ist als Roman: Der Erste Weltkrieg kommt und geht. Die Faschisten wandern durch die Bücher wie lästige Schatten. Aufmerksamkeit liegt hauptsächlich auf dem Privaten, der Leser muss sich viele Namen merken, das Wichtige und das Unwichtige gehen durcheinander, und überhaupt sind die Dinge und Ereignisse von einer durchlässigen Art, so wie es ähnlich in Ippolito Nievos „Bekenntnissen eines Italieners“ ist, die schon 1867 veröffentlicht wurden.
Eine Chronik ist Giovenes Buch vor allem, weil es in dieser Geschichte, allen überraschenden Wendungen zum Trotz, keinen echten Fortschritt, keine persönliche Wandlung und erst recht keine Auflösung gibt: Alles, was geschieht, stellt sich als Variation auf etwas Vorhandenes dar. Das „Rad der Dinge“ dreht sich, und was unten war, kommt irgendwann nach oben, bevor es wieder nach unten sinkt, nichts zurücklassend als ein Tableau im Stil der jeweiligen Verhältnisse. Die Chronik ist ein konservatives Genre, und das gilt für dieses Buch in besonderem Maß, weil man sich die Dinge und Gestalten, die erhalten werden sollen, kaum mehr vorstellen kann. Sie müssen beschworen werden, mit einer beinahe physischen Intensität, bis sie hervortreten wie der neue Abzug einer alten Fotografie im Entwicklerbad.
Den Stolz behält Giuliano, als er, im Wissen um den nahenden Bankrott der Familie, nach einer tragischen Liebe und der sozialen Verpflichtungen in Neapel überdrüssig, nach Mailand geht, ohne Geld, ohne Beruf, ohne besondere Kenntnisse: Sich „nur für die kurze Spanne meines Lebens als Gast auf dieser Erde“ betrachtend, trifft er „die Entscheidung, meine Jahre ausschließlich damit zuzubringen, Fragen zu stellen und Erkenntnisse zu gewinnen“. Er schlägt sich durch, ähnlich wie sich Eugène de Rastignac, der Held in Balzacs „Verlorenen Illusionen“, unter Mätressen, Glücksspielern und Polizisten durchschlug, doch ohne dessen Charme und ohne dessen vorübergehenden Erfolg.
Ein wohlmeinender Onkel sorgt dafür, dass er zum Leutnant der Kavallerie ausgebildet wird. Zum zweiten Mal befindet er sich in einer guten Schule, in einer Einheit, in der man weiß, dass man im nächsten Krieg, in der nächsten Schlacht untergehen wird. Das Wesen des Adels, belehrt der Erzähler, sei „eine absolute Herrschaft, doch vor allem eine absolute Selbsthingabe im Augenblick der Gefahr“. Die Liebe des Adligen unterliegt, so scheint es, demselben Prinzip, wenngleich die Frauen für die Augenblicke der Hingabe nachher meist größere Opfer bringen müssen, als der Held zu ertragen hat.
Die „Autobiographie des Giuliano di Sansevero“ ist ein Buch, in dem der Erzähler überaus gegenwärtig ist. Jeder Augenblick der Geschichte ist ein Augenblick seiner Geschichte: Die eine Tätigkeit, der Giuliano, der zu keinem festen Beruf Taugliche, mit Ernst nachgeht, ist das Schreiben. Und schreiben kann er, mit Pathos, Genauigkeit und einer gewissen Sympathie für die Kunstprosa Gabriele d’Annunzios – und mit einer großen Neigung zum kleinen Essay: Die Erinnerung, notiert er etwa, sei „vielleicht eine Kugel aus transparenter Materie wie etwa Kristall, doch lebendig in jedem ihrer Moleküle und mit jedem von ihnen in der Lage, sich unter dem Antrieb ihrer Energie zu entfachen“. Zahllose solcher Sentenzen gibt es in diesen Büchern, und in vielen von ihnen denkt über das Verhältnis eines Aristokraten zum Rest der Welt nach. „Die moderne Welt lehnte das Prinzip des Geburtsrechts ab“, heißt es im zweiten Band, „doch hatte sie dieses Prinzip nicht durch eine befriedigendere Methode der Auslese ersetzt.“ Nun denn. Moshe Kahn hat diese Sprache jedenfalls in ein Deutsch übersetzt, dass dem italienischen Original an Lebendigkeit und Beziehungsreichtum nicht nachsteht, da mögen sich, bildungsgesättigt und syntaktisch virtuos, die Nebensätze noch so stapeln.
Am Ende des zweiten Bandes will Giuliano eine – wie der Leser ahnt: es wird sie allenfalls vorläufig geben – Ruhe in der Basilikata finden, an einem hohen Berghang zwischen Bäumen über der „Unendlichkeit des Meeres“ und in großer Einsamkeit. „Unter meinen Füßen spürte ich eine nicht nur betretene, sondern verstandene und beherrschte Erde, wie es gewiss auch meine Vorfahren getan hatten.“ Eine weitere junge Frau von berückender Schönheit und Reinheit ist auf dem Weg in den wahren Adel zurückgeblieben. Drei Bücher werden folgen, darunter das „Haus der Häuser“, das, ebenfalls von Moshe Kahn übersetzt, als separate Veröffentlichung seit dem Jahr 2010 vorliegt. Die Werke werden, den ersten beiden Bänden nach zu urteilen, abenteuerlich werden und ihren Helden durch die seltsamsten Milieus tragen. Ändern wird er sich nicht.
THOMAS STEINFELD
Wie real die Figuren sind,
weiß man nicht, denn diese
Welt ist verschwunden
Am Ende sucht der Held Ruhe
in der Basilikata, es wird sie
wohl nur vorläufig geben
Das Wesen des Adels:
„absolute Selbsthingabe
im Augenblick der
Gefahr“
In welche Buchhandlung hoffen Sie, eines Tages zurückzukehren, Asal Dardan?
In diesen Tagen denke ich oft darüber nach, wie es wäre, einmal den Fuß in eine
Buchhandlung in meiner Geburtsstadt Teheran zu setzen. Ich würde also nicht zu einer Buchhandlung zurückkehren, weil ich seit meinem ersten Lebensjahr nicht in
dem Land war. Aber es wäre eine andere Art der Rückkehr.“
Asal Dardan („Betrachtungen einer Barbarin“) in der Buchhandlung am Nollendorfplatz in Berlin
Andrea Giovene:
Die Autobiographie
des Giuliano di Sansevero.
Ein junger Herr aus Neapel.
Aus dem Italienischen
von Moshe Kahn.
Galiani, Köln 2022.
304 Seiten, 26 Euro.

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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2022

Auf der Suche nach dem verlorenen Autor

Andrea Giovene legt mit der "Autobiographie des Giuliano di Sansevero" eine frühe Form der Autofiktion vor

Metzlers "Italienische Literaturgeschichte" kennt ihn nicht. Eigentlich ein zuverlässiges Werk . . . Auch in der "Geschichte der italienischen Literatur" von Manfred Hardt folgt auf "Giovanni Fiorentino, ser" im Namenverzeichnis "Giraldi Cinzio, Giovan Battista". Nirgends ein Andrea Giovene. Selbst ein italienischer Band zur Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts löst das Problem nicht. Gut, er ist schmal - aber eben passgenau. Ein Autor, in gedruckten Nachschlagewerken verzweifelt gesucht, das ist schon mal ein guter Köder.

Damit nicht genug. Die Zeit, die Andrea Giovene in seiner "Autobiographie des Giuliano di Sansevero" abhandelt, umfasst die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Märsche und Maschinen, Faschismus und Futurismus, Preisexplosion und Perlwein. Kriege, Revolutionen, Umstürze. Turbulenter geht es kaum, der Autor schöpft aus dem Vollen und schickt seine Figur durch halb Europa, zunächst von Neapel nach Mailand, Paris natürlich als erste außeritalienische Station, aber auch Deutschland und die Niederlande, als Begleiter peruanischer Touristen und als Soldat in Krieg wie Gefangenschaft. Die Möglichkeiten, die sich Giovene zum Zeitporträt, mehr aber noch zur Deutung bieten, sind enorm. Aufkommende totalitäre Ideologien, Kunst und Kultur, die vielfach glaubten, alles schon zu kennen, und daher verzweifelt nach Neuem Ausschau hielten, die teils endgültige Überwindung monarchischer Staatsformen - der Köder ist nicht gut, er ist delikat.

Damit zu dem, was der Übersetzer Moshe Kahn und Ulrike Voswinckel als Benachworterin des ersten von insgesamt fünf Bänden an der Angel haben. In der "Autobiographie" schildert Giuliano, Spross eines alten neapolitanischen Adelsgeschlecht, Jahrgang 1903, sein bewusst erlebtes Leben. Der erste Band setzt ein, als er neun Jahre alt ist und den nicht nur metaphorisch von Schimmel befallenen Stammbaum in einem der Salons betrachtet. Die Zweige liegen schon zu weit oben unter der Zimmerdecke, für seinen eigenen Namen scheint buchstäblich kein Raum mehr. Bildsprachlich ist der Einstieg großartig.

Sprachlich herrscht von Anfang an Klarheit: "Durch diese Machenschaften waren eine nicht näher bestimmbare Zahl von Besitztümern und Lehen - darunter einige von gewaltiger Größe - bereits zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts auf eine geringe Zahl geschrumpft, und dann wirkten noch sozusagen schicksalhafte Umstände mit, wie der frühzeitige Tod, nicht geschäftsfähige Minderjährige, entmündigte Alte oder Hitzköpfe, die in den napoleonischen Wirren zu Schaden gekommen waren, den Auflösungsprozess zu vervollständigen." Sätze dieser Länge sind keine Ausnahme, im Gegenteil. Klugerweise fällt Giovene auch in der Rückschau nicht in den Ton des Kindes, bedauerlicherweise nutzt er aber auch das Wissen des Erzählers nicht, um vorausgreifender oder kommentierender darzustellen. So reizvoll sich der altfränkische Stil gerade im Kontrast zu den rasanten Umbrüchen der damaligen Zeit ausnimmt, er soll dem Werk zum Verhängnis werden.

Nicht nur, dass der Ton unverändert bleibt. Von den fünf Bänden der "Autobiographie", insgesamt knapp zweitausend Seiten, liegen nun drei Bände auf Deutsch vor, die beiden hier besprochenen bei Galiani erschienenen sowie der dritte Band, 2010 bei Osburg herausgekommen und ebenfalls in dieser Zeitung rezensiert. Mehr als die Hälfte also des auch in Italien in Einzelbänden veröffentlichten Werks. Klostererziehung, Erster Weltkrieg, erste Berufserfahrung im Ausland und die Rückkehr nach Italien. Genug, um auf guter Grundlage auch für die deutsche Version zu sagen: Der Ton trägt nicht.

Der Autor hat seinen Ich-Erzähler ein Jahr früher zur Welt kommen lassen als sich selbst und ihn mit etlichen Parallelen in Herkunft und Lebensstationen - Internat, Auslandsaufenthalte, Kriegsgefangenschaft - ausgestattet. Der Begriff der Autofiktion ist durchaus angemessen. Moshe Kahn hat Giovene kurz vor dessen Tod persönlich kennengelernt und ihm versprochen, sich für eine Übersetzung ins Deutsche einzusetzen. Er zeigt sich beeindruckt von der "Lebendigkeit" des Mannes. Das mag den Blick auf das Werk prägen. Zwar verliert Giuliano noch als Junge seine einstige Fügsamkeit, an deren Stelle "eine anmaßende Geisteshaltung trat, und das bilderstürmerische Verhalten gegenüber den Ahnenbildern und dem Stammbaum wurde von Fragen und Beobachtungen begleitet, die man als unpassend empfand". Der Aufmüpfigkeit gesellt sich etwas hinzu, das sich mit dem heutigen Begriff der "Wohlstandsverwahrlosung" fassen lässt. Der Erzähler wird zum Außenseiter und damit eigentlich zum idealen Beobachter.

Ihm könnte zupasskommen, dass er keine Vorurteile hat, doch seiner Rolle wird er nicht gerecht. Vielleicht funktioniert das treidelnde Beobachten ohnehin besser mit Figuren vom anderen Ende der sozialen Leiter, mit einem Simplicius Simplicissimus oder einem Josef Schwejk, vielleicht scheitert Giovene aber auch, weil er seinen Giuliano ohne Aufgeschlossenheit gestaltet. Die Selbstreflexionen des Ich-Erzählers stehen in krassem Ungleichgewicht zu den äußeren Verhältnissen. Die politischen und geschichtlichen Entwicklungen werden völlig beliebig. Dem Erzähler fehlt jede Triebfeder, die sich bei den Figuren der anderen Werke erkennen lässt. "All diese Dinge, all diese Personen hatten jedoch nichts mit mir und meinem eigentlichen Ich zu tun, sie waren lediglich Ablenkungen, allerdings unverzichtbar für ein so einsames Leben wie das meine." Moshe Kahn verwehrt sich explizit gegen den Vergleich Giovenes mit Marcel Proust oder Giuseppe Tomasi di Lampedusa, thematisch und strukturell drängen sich die "Suche nach der verlorenen Zeit" und der "Leopard" jedoch genau dafür auf.

Gleichsam ex negativo ließe sich ja das Porträt auch eines unzuverlässigen Erzählers erstellen, der seinen "Mangel an Interesse für das politische Leben und für alles, was in unmittelbarem Zusammenhang damit stand", offen bekennt. Er könnte aus den Zeilen als Typus heraustreten, als Untertan beispielsweise, als Figur, die Aufschluss darüber gibt, was den Autor in der Rückschau bei der künstlerischen Ausformung seines Materials geleitet haben mag. Moshe Kahn und Ulrike Voswinckel erkennen da einiges, sprechen von der "Empathie" des Erzählers, der "sein humanistisches Credo in erniedrigenden und lebensbedrohlichen Situationen zu erhalten" sucht. Giuliano selbst sieht das keineswegs so. Als seine Geliebte ihm mitteilt, sie sei schwanger, reagiert er kalt: "Mir wurde klar, dass ich nicht mitleidvoll war, vielleicht sogar nicht einmal menschlich. Doch wenn ein Mensch Herr seiner Handlungen und verantwortlich für seinen Willen ist, so ist er es weder in seinen Gefühlen noch in seinen Trieben. Nichts von dem, was ich über das Gefühl der Vaterschaft gehört hatte, traf auf mich zu, jetzt, als ich vor ihr stand. Sicher war, dass ich sie nicht liebte." Folglich geht er seiner Wege.

Diese Stelle entstammt dem zweiten Band, als der Erzähler bereits über dreihundert Seiten eingeführt ist. Ein Indiz, von einem weichen Kern unter harter Schale auszugehen, gibt es kaum noch. Giovene hat seine "Autobiographie" zunächst auf eigene Kosten veröffentlicht, dann einen Verlag in Italien gefunden, ehe er auch dort wieder in Vergessenheit geraten ist. Diesen Umstand räumen Kahn wie Voswinckel ein. Anfang der Siebzigerjahre, da sind sich beide einig, in einer Zeit mit ökonomischen Krisen, linkem Aufwind und literarischen Experimenten, sind für Giovene und sein Werk keine Erfolge zu erzielen. Neben der nachrangigen Frage, ob damit indirekt die Gruppe 63, der auch Umberto Eco angehörte, für das Scheitern Giovenes verantwortlich gemacht wird, bleibt die vorrangige, wieso es bei den vielen Regierungen in Italien dann nicht auch eine echte Hochphase für Giovene gegeben hat. Warum ist er nie zurück aus der Versenkung gekommen? Buchgestalterisch sind die deutschen Bände gelungen, editorisch weniger: Wenn schon Anmerkungen, dann mehr. Wer sind Francesco Mastriani oder Matilde Serao? (Beide auch in Vergessenheit geraten, zu Recht im Übrigen, doch Serao findet sich in den eingangs erwähnten Werken.) So gibt es nicht unbedingt eine Wiederentdeckung zu feiern, wohl aber eine seltene Einmütigkeit von Literaturkritik, Literaturgeschichte und Publikumsgeschmack. CHRISTIANE PÖHLMANN

Andrea Giovene: "Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero". Ein junger Herr aus Neapel.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Nachwort von Ulrike Voswinckel. Galiani Verlag, Berlin 2022. 304 S., geb., 26,- Euro.

Andrea Giovene: "Die Autobiographie des Giuliano di Sanseverero". Die Jahre zwischen Gut und Böse.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2022. 352 S., geb., 26,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Bei Galiani Berlin sind die ersten beiden Bände herausgekommen, die der Leserschaft in der wunderbar singenden und beschwörenden Übersetzung von Moshe Kahn erstmals dieses großartige Leservergnügen ermöglichen. Rolf Fath Badische Neueste Nachrichten 20230118