Éric Vuillard
Gebundenes Buch
Die Tagesordnung
Ausgezeichnet 2017 mit dem Prix Goncourt
Übersetzung: Denis, Nicola
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Prix Goncourt 201720. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten: Krupp, Opel, BASF, Bayer, Siemens, Allianz - kaum ein Name von Rang und Würden fehlt an den glamourösen runden Tischen der Vermählung von Geld und Politik. So beginnt der Lauf einer Geschichte, die Vuillard fünf Jahre später in die Annexion Österreichs münden lässt. Bild- und wortgewaltig führt er den Leser in die Hint...
Prix Goncourt 201720. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten: Krupp, Opel, BASF, Bayer, Siemens, Allianz - kaum ein Name von Rang und Würden fehlt an den glamourösen runden Tischen der Vermählung von Geld und Politik. So beginnt der Lauf einer Geschichte, die Vuillard fünf Jahre später in die Annexion Österreichs münden lässt. Bild- und wortgewaltig führt er den Leser in die Hinterzimmer der Macht, wo in erschreckender Beiläufigkeit Geschichte geschrieben wird. Dabei erzählt er eine andere Geschichte als die uns bekannte, er zeigt den Panzerstau an der deutschen Grenze zu Österreich, er entlarvt Schuschniggs kleinliches Festhalten an der Macht, Hitlers abgründige Unberechenbarkeit und Chamberlains gleichgültige Schwäche. Mit der ihm eigenen virtuosen Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich: Die Deals, die an den runden Tischen der Welt geschlossen werden, sind faul, unser Verständnis von Geschichte beruht auf Propagandabildern. In »Die Tagesordnung« zerlegt Éric Vuillard diese Bilder und fügt sie virtuos neu zusammen: Ein notwendiges Buch, das eine überfällige Geschichte erzählt und damit den wichtigsten französischen Literaturpreis erhielt.
Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l'Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.
Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray. 2021 erhielt sie den renommierten Prix Lémanique de la traduction.
Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray. 2021 erhielt sie den renommierten Prix Lémanique de la traduction.
Produktdetails
- Verlag: Matthes & Seitz Berlin
- 8. Aufl.
- Seitenzahl: 118
- Erscheinungstermin: 28. März 2018
- Deutsch
- Abmessung: 205mm x 125mm x 15mm
- Gewicht: 238g
- ISBN-13: 9783957575760
- ISBN-10: 3957575761
- Artikelnr.: 50100674
Herstellerkennzeichnung
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Verständnis allzu leicht gemacht
Éric Vuillards preisgekrönte Erzählung "Die Tagesordnung"
Über die Verwandtschaft von Geschichtsschreibung und Literatur, von historischer und literarischer Erzählung, ist viel Kluges geschrieben worden. Heute, wo die Erzählung mehr und mehr durchs Bild abgelöst wird, müsste grundsätzlich über das Verhältnis von dokumentarischen und inszenierten Bildern, über die Übergänge zwischen beiden und über ihre Verwendung nachgedacht werden. Schließlich ist auch das Dokumentarische immer kompiliert und inszeniert, und die Grenzen etwa zwischen "Panzerkreuzer Potemkin", "Weißensee" und ZDF-History sind nicht immer deutlich auszumachen.
Der französische Autor Éric Vuillard, der auch
Éric Vuillards preisgekrönte Erzählung "Die Tagesordnung"
Über die Verwandtschaft von Geschichtsschreibung und Literatur, von historischer und literarischer Erzählung, ist viel Kluges geschrieben worden. Heute, wo die Erzählung mehr und mehr durchs Bild abgelöst wird, müsste grundsätzlich über das Verhältnis von dokumentarischen und inszenierten Bildern, über die Übergänge zwischen beiden und über ihre Verwendung nachgedacht werden. Schließlich ist auch das Dokumentarische immer kompiliert und inszeniert, und die Grenzen etwa zwischen "Panzerkreuzer Potemkin", "Weißensee" und ZDF-History sind nicht immer deutlich auszumachen.
Der französische Autor Éric Vuillard, der auch
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als Regisseur und Drehbuchautor gearbeitet hat, erzählt nach Aussage seines deutschen Verlages "große Momente der Geschichte neu" und habe damit "ein neues Genre begründet". Das hat offenbar im vergangenen Jahr auch die Jury für den Prix Goncourt so beeindruckt, dass sie ihm den renommiertesten Literaturpreis Frankreichs zusprach, wenn auch erst im dritten Wahlgang. Der prämierte Text, gattungsmäßig als Erzählung ausgewiesen und 118 Seiten knapp, liegt nun in der Übertragung von Nicola Denis auch Deutsch vor und wirft einige Fragen auf.
Zunächst diejenige, was Vuillard uns eigentlich hat erzählen wollen. Der Schwerpunkt seines schmalen Romans liegt auf dem sogenannten Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 und dessen unmittelbarer Vorgeschichte. Die Eröffnungsszenen gelten jedoch einem Treffen Hitlers und Görings im Februar 1933 mit 24 Unternehmensführern, unter ihnen Wilhelm von Opel, Gustav Krupp, Günther Quandt, Friedrich Flick, Hugo Stinnes, Ernst Tengelmann und andere klangvolle Namen der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Gelder, um die die neuen Machthaber für den Wahlkampf zum 5. März mit sanftem Druck bitten, werden bereitwillig gespendet. Es handelt sich also um das, was wir heute Fundraising nennen und was auch Vuillard an einer Stelle so nennt. Die Funktion dieser Eröffnungsszene ist leicht zu entschlüsseln: Seht her, sagt sie, es war das deutsche Großkapital, das die neue Macht gefestigt und gesichert hat. Vuillard sagt dann auch noch einmal ausdrücklich, dass es "ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis" gewesen sei.
Das wirft gleich die nächste Frage auf: Wer erzählt? Wer montiert diese Bilder, wer spricht diese plötzlichen Kommentare, die vom Inhalt her mehrheitlich die eines Nachgeborenen sind und zwischen moralischer Anklage und Sarkasmus pendeln? Es geht bei dieser Frage nicht darum, wo der Autor zu suchen sei, sondern viel eher darum, von welcher Position, genauer: von welchen Positionen aus hier erzählt wird und warum es erzählt wird.
Und drittens stellt sich die Frage, ob überhaupt erzählt wird. Denn Vuillard zeigt keineswegs große Momente der Geschichte neu, sondern montiert seine Bilder brav so aneinander, dass eine bloße Nacherzählung dessen dabei herauskommt, was allgemein als historisch gesichert erscheint. Deshalb geht es von Berlin aus nach London und nach Paris, um noch einmal zu demonstrieren, was Appeasement-Politik war. Schuschniggs Besuch in Berlin, mehr oder weniger auf direkten Befehl Hitlers, führt noch einmal parodistisch das Machtverhältnis zwischen Deutschland und dem kleinen Nachbarstaat vor. Wer der österreichische Kanzler wirklich war, muss für alle, die es noch nicht wissen, unmissverständlich ausgesprochen werden: "Denn Schuschnigg ist nichts. Er verkörpert nichts, er ist niemandes Freund und niemandes Hoffnung. Schuschnigg bündelt sogar sämtliche Schwächen: die Arroganz des Adels und völlig rückständige politische Ansichten. Wer acht Jahre zuvor eine paramilitärische Jugendgruppe angeführt und auf der Leiche der Freiheit getanzt hat, kann nicht hoffen, dass sie ihm auf einmal zu Hilfe eilt!" Verstanden?
Es gibt einzelne Szenen, in denen die Behauptungen, die moralischen Anklagen und die angestrengte Satire wirklich hinter die Bilder zurücktreten und annähernd lebendig werden. Etwa, wenn die deutsche Armee bei ihrem Ein- und Eilmarsch nach Österreich aus technischen Gründen nicht so recht vorwärtskommt, wo doch die Wiener schon Spalier stehen, um dem "Führer" zuzujubeln. Die Panzer bleiben stecken, weil sie noch lange nicht so perfekt sind, wie sie sein sollten. Das ist zuweilen komisch und wäre es noch mehr, wenn Vuillard sich nicht wieder selbst kommentieren und schreiben würde, es sei "fast wie in einer Slapstickkomödie".
Es gibt ein sehr gelungenes Kapitel mit dem Titel "Das Requisitenlager", in dem gezeigt wird, dass die Requisiten für die späteren Antinazifilme im Requisitenfundus Hollywoods alle schon da waren, gewartet und gepflegt unter anderem von Günther Stern, später Günther Anders, dem ersten Ehemann von Hannah Arendt. "Lange vor der Schlacht um Stalingrad, lange bevor das Unternehmen Barbarossa geplant, durchdacht und beschlossen war, vor dem Frankreichfeldzug, ja, noch bevor die Deutschen ihn überhaupt ins Auge gefasst hatten, herrschte in den Regalen des Spektakels schon Krieg."
Aber solche überraschenden Einblicke, die das Verhältnis von Geschichte und ihrer späteren Fiktionalisierung analysieren, sind in Vuillards Bilderbogen leider die Ausnahme. Ansonsten kommt er wie ein Streifen aus der Frühzeit des Stummfilms daher, und man stellt sich beim Zusehen immer wieder vor, was etwa ein Alexander Kluge oder der vor drei Jahren verstorbene Dieter Kühn aus diesem Material gemacht hätten. Nicht nur, dass ZDF-History als Literatur nicht funktioniert, für diese preisgekrönte Erzählung gilt auch: Guido Knopp hätte es besser gemacht.
JOCHEN SCHIMMANG
Éric Vuillard: "Die Tagesordnung". Erzählung.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 128 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zunächst diejenige, was Vuillard uns eigentlich hat erzählen wollen. Der Schwerpunkt seines schmalen Romans liegt auf dem sogenannten Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 und dessen unmittelbarer Vorgeschichte. Die Eröffnungsszenen gelten jedoch einem Treffen Hitlers und Görings im Februar 1933 mit 24 Unternehmensführern, unter ihnen Wilhelm von Opel, Gustav Krupp, Günther Quandt, Friedrich Flick, Hugo Stinnes, Ernst Tengelmann und andere klangvolle Namen der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Gelder, um die die neuen Machthaber für den Wahlkampf zum 5. März mit sanftem Druck bitten, werden bereitwillig gespendet. Es handelt sich also um das, was wir heute Fundraising nennen und was auch Vuillard an einer Stelle so nennt. Die Funktion dieser Eröffnungsszene ist leicht zu entschlüsseln: Seht her, sagt sie, es war das deutsche Großkapital, das die neue Macht gefestigt und gesichert hat. Vuillard sagt dann auch noch einmal ausdrücklich, dass es "ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis" gewesen sei.
Das wirft gleich die nächste Frage auf: Wer erzählt? Wer montiert diese Bilder, wer spricht diese plötzlichen Kommentare, die vom Inhalt her mehrheitlich die eines Nachgeborenen sind und zwischen moralischer Anklage und Sarkasmus pendeln? Es geht bei dieser Frage nicht darum, wo der Autor zu suchen sei, sondern viel eher darum, von welcher Position, genauer: von welchen Positionen aus hier erzählt wird und warum es erzählt wird.
Und drittens stellt sich die Frage, ob überhaupt erzählt wird. Denn Vuillard zeigt keineswegs große Momente der Geschichte neu, sondern montiert seine Bilder brav so aneinander, dass eine bloße Nacherzählung dessen dabei herauskommt, was allgemein als historisch gesichert erscheint. Deshalb geht es von Berlin aus nach London und nach Paris, um noch einmal zu demonstrieren, was Appeasement-Politik war. Schuschniggs Besuch in Berlin, mehr oder weniger auf direkten Befehl Hitlers, führt noch einmal parodistisch das Machtverhältnis zwischen Deutschland und dem kleinen Nachbarstaat vor. Wer der österreichische Kanzler wirklich war, muss für alle, die es noch nicht wissen, unmissverständlich ausgesprochen werden: "Denn Schuschnigg ist nichts. Er verkörpert nichts, er ist niemandes Freund und niemandes Hoffnung. Schuschnigg bündelt sogar sämtliche Schwächen: die Arroganz des Adels und völlig rückständige politische Ansichten. Wer acht Jahre zuvor eine paramilitärische Jugendgruppe angeführt und auf der Leiche der Freiheit getanzt hat, kann nicht hoffen, dass sie ihm auf einmal zu Hilfe eilt!" Verstanden?
Es gibt einzelne Szenen, in denen die Behauptungen, die moralischen Anklagen und die angestrengte Satire wirklich hinter die Bilder zurücktreten und annähernd lebendig werden. Etwa, wenn die deutsche Armee bei ihrem Ein- und Eilmarsch nach Österreich aus technischen Gründen nicht so recht vorwärtskommt, wo doch die Wiener schon Spalier stehen, um dem "Führer" zuzujubeln. Die Panzer bleiben stecken, weil sie noch lange nicht so perfekt sind, wie sie sein sollten. Das ist zuweilen komisch und wäre es noch mehr, wenn Vuillard sich nicht wieder selbst kommentieren und schreiben würde, es sei "fast wie in einer Slapstickkomödie".
Es gibt ein sehr gelungenes Kapitel mit dem Titel "Das Requisitenlager", in dem gezeigt wird, dass die Requisiten für die späteren Antinazifilme im Requisitenfundus Hollywoods alle schon da waren, gewartet und gepflegt unter anderem von Günther Stern, später Günther Anders, dem ersten Ehemann von Hannah Arendt. "Lange vor der Schlacht um Stalingrad, lange bevor das Unternehmen Barbarossa geplant, durchdacht und beschlossen war, vor dem Frankreichfeldzug, ja, noch bevor die Deutschen ihn überhaupt ins Auge gefasst hatten, herrschte in den Regalen des Spektakels schon Krieg."
Aber solche überraschenden Einblicke, die das Verhältnis von Geschichte und ihrer späteren Fiktionalisierung analysieren, sind in Vuillards Bilderbogen leider die Ausnahme. Ansonsten kommt er wie ein Streifen aus der Frühzeit des Stummfilms daher, und man stellt sich beim Zusehen immer wieder vor, was etwa ein Alexander Kluge oder der vor drei Jahren verstorbene Dieter Kühn aus diesem Material gemacht hätten. Nicht nur, dass ZDF-History als Literatur nicht funktioniert, für diese preisgekrönte Erzählung gilt auch: Guido Knopp hätte es besser gemacht.
JOCHEN SCHIMMANG
Éric Vuillard: "Die Tagesordnung". Erzählung.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 128 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Ich kann mich nicht erinnern, jemals so spannend, erhellend und überzeugend über geschichtliche Vorgänge gelesen zu haben. Die Tagesordnung ist ein wahres Wunderwerk!« - Hans Durrer, In Valparaiso und anderswo Hans Durrer In Valparaiso und anderswo 20180725
Desavouierendes Hohngelächter
Der französische Schriftsteller Éric Vuillard hat mit der Erzählung «Die Tagesordnung» den erzwungenen Anschluss Österreichs thematisiert, wobei er, wie schon in anderen seiner Werke, auch hier ein geschichtliches Ereignis und …
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Desavouierendes Hohngelächter
Der französische Schriftsteller Éric Vuillard hat mit der Erzählung «Die Tagesordnung» den erzwungenen Anschluss Österreichs thematisiert, wobei er, wie schon in anderen seiner Werke, auch hier ein geschichtliches Ereignis und seine Folgen in extrem verknappter Form neu erzählt. Insoweit kann er als legitimer Nachfolger von Stefan Zweig angesehen werden, der dieses Genre mit seiner Sammlung «Sternstunden der Menschheit» äußerst erfolgreich kreiert hat. Im Unterschied zu ihm jedoch benutzt Vuillard nicht die strenge, auf ein ‹unerhörtes Ereignis› gerichtete Novellenform, er fächert seinen Stoff vielmehr deutlich weiter auf. Hier beginnend mit einem geheimen Treffen der deutschen Großindustriellen bei Göring am 20. Februar 1933 und endend bei der läppischen Entschädigungs-Zahlung Alfried Krupps an die Zwangsarbeiter 1958.
In den 16 Kapiteln der Erzählung entwickelt der Autor seine Version der historischen Ereignisse, indem er sie, fiktional ergänzt, aus einer ironischen Distanz schildert. Sein Schwerpunkt ist dabei die emotionale Ebene, die den oft lächerlich profanen Hintergrund bildet. «Die Literatur erlaubt alles», sagt Vuillard und macht sich in diesem Sinne, mit deutlich erkennbarer Wonne, gleich am Anfang über den Geldadel lustig. Vierundzwanzig Herren steigen im Treppenhaus eines pompösen Palais nach oben zu den Nazigrößen, die sie herbeigerufen haben und sie auch gleich abkassieren werden für den bevorstehenden Wahlkampf. «Demnach könnte ich sie endlos über die Penrose-Treppe schicken» macht der Autor sich über sie lustig, Geben und Nehmen liege ja dicht beieinander in Politik und Geldadel. Ähnlich spöttisch berichtet er auch über einen Besuch von Lord Halifax, entschiedener Verfechter der britischen Impeasement-Politik, bei Göring in der Schorfheide. Auch das demütigende Treffen Schuschniggs mit dem Führer auf dem Berghof wird in mehreren Kapiteln geschildert als Vorstufe zur längst beschlossenen Annektierung Österreichs. Ribbentropps Abschiedsbesuch in Downing Street ist eine ebenso amüsante Episode wie das mit ‹Blitzkrieg› überschriebene Kapitel des deutschen Einmarsches, der dann im blamablen ‹Panzerstau› am 12. März 1938 steckenblieb. Vor die Proklamation des Führers vom Balkon der Wiener Hofburg fügt der Autor noch ein Kapitel ein, in dem er das Theatralische der ‹großen Politik› durch ein riesiges Requisiten-Lager in Hollywood demonstriert, wo zeitgleich mit den Ereignissen bereits sämtliche Nazikostüme für Spielfilme verfügbar waren, Chaplin lässt grüßen! In den letzten beiden Kapiteln thematisiert er das Grauen, indem er von gleich vier Selbstmorden am Tag der Annexion berichtet. Am Ende schließlich holen den senilen Gustav Krupp die toten Zwangsarbeiter ein, die ihn in der Villa Hügel aus dem Dunkeln anklagend anstarren.
Diese 2017 mit dem Prix Goncourt prämierte Erzählung zeichnet sich durch eine irritierende Leichtigkeit aus, in der da ganz unbefangen über das mit Abstand Düsterste in der Menschheits-Geschichte berichtet wird. Sie erinnert damit entfernt auch an «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littel, ein aus der Täter-Perspektive erzählter französischer Holocaust-Roman, der, wen wundert’s, überaus kontrovers diskutiert wurde. Muss man nichtdeutscher Autor sein, um so unbeschwert und beiläufig über die Nazis erzählen zu können?
Wer bei Vuillard sauertöpfisch nach historischer Seriosität fragt, hat dessen Hintertreppen-Methode nicht verstanden. Es sei ihm um das Profane hinter den großen Ereignissen gegangen, um die grotesken Witzfiguren, die als historische Akteure so oft großspurig am Werke seien. Denn vieles erweist sich ja im Nachhinein tatsächlich als reine Farce, und genau das wiederholt sich auch noch ständig bis in die Gegenwart hinein, man denke nur an das Erstarken der Populisten in Europa. Insoweit ist es durchaus legitim, fragwürdige Politiker genüsslich zu desavouieren, sie also sarkastisch mit Hohn zu überschütten zur unverhohlenen Freude des Lesers.
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Französischer Autor über die Industrie unter Hitler und den Anschluss Österreichs
Vergessene Geschichte aufarbeiten oder was will der Autor mit dieser kurzen Novelle, wenn wir dieses Buch nicht lieber als Sachbuch ohne Fußnoten ansehen.
Es beginnt mit deutschen …
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Französischer Autor über die Industrie unter Hitler und den Anschluss Österreichs
Vergessene Geschichte aufarbeiten oder was will der Autor mit dieser kurzen Novelle, wenn wir dieses Buch nicht lieber als Sachbuch ohne Fußnoten ansehen.
Es beginnt mit deutschen Industriellen, die bei den Nazis zu Gast sind und sie vor den letzten Wahlen finanziell unterstützen, damit endlich die lästige Demokratie abgeschafft wird. Dann kommt der englische Politiker Halifax zu Besuch, ohne Tacheles zu reden.
Das Hauptthema aber ist der Besuch Schuschnigg auf dem Obersalzberg bei Hitler und wie er keinen Widerstand gegen Hitlers Wünsche äußert, der auch verfassungsrechtliche Bedenken vom Tisch wischt. Warum Österreich keine Hilfe bei europäischen Nachbarn geholt hat, bleibt unbeantwortet. Nur wie Ribbentrop den Engländern die Nachricht des Einmarsches in einen langen Dinner aufschwatzt wird breit dargestellt.
Auch dieser Einmarsch geht schief. Deutsche Panzer bleiben vor Linz wegen Benzinmangels liegen. Die Wochenschau zeigt später nur Jubelbilder. Nazi-Fake-News. Göring will den Einmarsch als Hilfeleistung für die österreichischen Nazis verstehen. Abgehörte Telefonate überführen ihn beim Prozess in Nürnberg.
Tote gab es auch, denn vier Personen haben sich am Tag des Einmarsches umgebracht. Nicht zu vergessen die Toten Juden.
Und was fragt Gustav Krupp: „Wer sind eigentlich all diese Leute?“ und meint die vielen Kriegsarbeiter von Krupp. Nur jeder zehnte überlebt. Sie und nur sie bekommen nach langem Kampf etwas Entschädigung, je weniger, desto mehr Zwangsarbeiter sich später melden. „Die Juden hätten schon zu viel Geld gekostet.“
Aber der deutschen Großindustrie geht es nach wie vor gut.
Ein Buch, das in seiner Einfachheit und Kürze besticht und vergessene Themen aus dem Nähkästchen holt. Es setzt Schwerpunkte und Blitzlichter auf die Historie. Anfangs hatte ich Bedenken 5 Sterne zu vergeben, weil das Buch kein richtiger Knaller ist, aber die Kürze des Buches lässt nicht mehr zu und einen Tag darf man ruhig in dieses Buch investieren.
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