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»Dieses Buch ist so mitreißend, feinsinnig und schonungslos, dass es mich einfach nicht loslässt.« Alena SchröderIn der DDR geboren, im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Als die Mauer fällt, ist Stine gerade einmal drei Jahre alt. Doch die Familie ist tief verstrickt. In ein System, von dem sie nicht lassen kann, und in den Glauben, das richtige Leben gelebt zu haben. Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist.Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Sie ist ein Kind der ...
»Dieses Buch ist so mitreißend, feinsinnig und schonungslos, dass es mich einfach nicht loslässt.« Alena Schröder
In der DDR geboren, im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Als die Mauer fällt, ist Stine gerade einmal drei Jahre alt. Doch die Familie ist tief verstrickt. In ein System, von dem sie nicht lassen kann, und in den Glauben, das richtige Leben gelebt zu haben. Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist.
Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Sie ist ein Kind der Wende. Um den Systemwechsel in der DDR zu begreifen, ist sie zu jung, doch die vielschichtigen ideologischen Prägungen ihrer Familie schreiben sich in die heranwachsende Generation fort. Während ihre Verwandten die untergegangene Welt hinter einem undurchdringlichen Schweigen verstecken, brechen bei Stine Fragen auf, die sich nicht länger verdrängen lassen. Anne Rabe hat ein ebenso hellsichtiges wie aufwühlendes Buch von literarischer Wucht geschrieben. Sie geht den Verwundungen einer Generation nach, die zwischen Diktatur und Demokratie aufgewachsen ist, und fragt nach den Ursprüngen von Rassismus und Gewalt.
»Eine junge Frau will die Gewalt verstehen, die ihre Familiengeschichte durchdringt - und entlarvt dabei die brutale Selbstlüge einer ganzen Elterngeneration. Wie Anne Rabe eine eigene Sprache für diese Sprachlosigkeit findet - das ist ganz große Kunst.« Alena Schröder
In der DDR geboren, im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Als die Mauer fällt, ist Stine gerade einmal drei Jahre alt. Doch die Familie ist tief verstrickt. In ein System, von dem sie nicht lassen kann, und in den Glauben, das richtige Leben gelebt zu haben. Bestechend klar und kühn erzählt Anne Rabe von einer Generation, deren Herkunft eine Leerstelle ist.
Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Sie ist ein Kind der Wende. Um den Systemwechsel in der DDR zu begreifen, ist sie zu jung, doch die vielschichtigen ideologischen Prägungen ihrer Familie schreiben sich in die heranwachsende Generation fort. Während ihre Verwandten die untergegangene Welt hinter einem undurchdringlichen Schweigen verstecken, brechen bei Stine Fragen auf, die sich nicht länger verdrängen lassen. Anne Rabe hat ein ebenso hellsichtiges wie aufwühlendes Buch von literarischer Wucht geschrieben. Sie geht den Verwundungen einer Generation nach, die zwischen Diktatur und Demokratie aufgewachsen ist, und fragt nach den Ursprüngen von Rassismus und Gewalt.
»Eine junge Frau will die Gewalt verstehen, die ihre Familiengeschichte durchdringt - und entlarvt dabei die brutale Selbstlüge einer ganzen Elterngeneration. Wie Anne Rabe eine eigene Sprache für diese Sprachlosigkeit findet - das ist ganz große Kunst.« Alena Schröder
Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet. Als Drehbuchautorin war sie Teil der Kultserie 'Warten auf'n Bus'. Seit mehreren Jahren tritt sie zudem als Essayistin und Vortragende zur Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland in Erscheinung. Anne Rabe lebt in Berlin. 'Die Möglichkeit von Glück' ist ihr Prosadebüt.
Produktdetails
- Verlag: Klett-Cotta
- 19. Aufl.
- Seitenzahl: 384
- Erscheinungstermin: 18. März 2023
- Deutsch
- Abmessung: 206mm x 128mm x 35mm
- Gewicht: 475g
- ISBN-13: 9783608984637
- ISBN-10: 3608984631
- Artikelnr.: 66297228
Herstellerkennzeichnung
Klett-Cotta Verlag
Rotebühlstr. 77
70178 Stuttgart
produktsicherheit@klett-cotta.de
Perlentaucher-Notiz zur Efeu-Rezension
Letztes Jahr diskutierten die Feuilletons darüber, ob Charlotte Gneuß' in ihrem Roman "Gittersee" die DDR historisch akkurat dargestellt hat. Der zweite große DDR-Roman jener Saison war Anne Rabes "Die Möglichkeit von Glück", an dem der Literaturprofessor Stefan Müller nun in der Berliner Zeitung scharfe Kritik übt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Her mit dem Generationenkonflikt!
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der
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sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
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»Ein nötiges, formal fabelhaftes Gegengift gegen alle falsche Nostalgie.« Elmar Krekeler, Welt am Sonntag, 03. Dezember 2023
Rezensent Andreas Platthaus schätzt diesen Roman von Anne Rabe als Gegenpol zur DDR-Nostalgie, die den gegenwärtigen literarischen Diskurs prägt. Ihre Geschichte beginnt mit Paul Bahrlow, der, erschüttert von den Schrecken der NS-Zeit, all seine Hoffnungen in die neu gegründete DDR setzt, so der Rezensent. Seine erlebten Traumata wirken in der Familie nach, Tochter Monika wird später zu einer tyrannischen Mutter werden, deren Kind Stine erst unter ihr leidet, dann gegen sie aufbegehrt, erläutert Platthaus. Diese Einzelschicksale stehen stellvertretend für eine traumatisierte Generation, die im Totalitarismus aufwuchs, erkennt der Kritiker. So bietet Rabes Roman eine Erklärung für die "Gewaltgeschichte" Ostdeutschlands, die sich von der des Westens unterscheidet. Das ist so "formal berückend" wie soziologisch interessant, schließt Platthaus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Offen und ehrlich;
Inhaltlich hat mir das Buch sehr gut gefallen. Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach den Geheimnisse der Eltern und Großeltern und versucht, die Geschichten, die man ihr immer erzählt hat auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die Prägung …
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Offen und ehrlich;
Inhaltlich hat mir das Buch sehr gut gefallen. Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach den Geheimnisse der Eltern und Großeltern und versucht, die Geschichten, die man ihr immer erzählt hat auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Die Prägung durch Eltern und Umfeld in der DDR wird offen und schonungslos aufgedeckt und der Kampf um Freiheit von den Vorstellungen anderer ist nachvollziehbar. Die Charaktere sind gut geschildert und ich fand sie alle glaubwürdig und realistisch. Es wird versucht, möglichst viele Details auch über die Großeltern zu bekommen und man stellt sich unwillkürlich die Frage, was man seine eigenen Großeltern alles hätte fragen können und nicht getan hat. Die Erzählung ist nicht chronologisch, es gibt immer mal schwer einzuordnende Rückblenden, weshalb ich einen kleinen Abzug mache. Die Struktur im Buch ist mir etwas zu chaotisch und hätte übersichtlicher sein können, um dem Leser das Verständnis zu erleichtern. Nichtsdestotrotz ist es ein sehr lesenswertes, hochinteressantes Buch.
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Ein intensiver Einblick in ostdeutsche Lebensweise.
Das Cover zeigt ein dem Leser abgewendetes Mädchen in sommerlicher Bekleidung auf einer Schaukel sitzend, hineingeboren in eine Zeit voller Lügen und Verdrängung. Stine ist im vereinten Deutschland nach der Wende auf intensiver …
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Ein intensiver Einblick in ostdeutsche Lebensweise.
Das Cover zeigt ein dem Leser abgewendetes Mädchen in sommerlicher Bekleidung auf einer Schaukel sitzend, hineingeboren in eine Zeit voller Lügen und Verdrängung. Stine ist im vereinten Deutschland nach der Wende auf intensiver Spurensuche besonders in der eigenen Familiengeschichte. In ihren Reflektionen und Nachforschungen geht es um die Aufarbeitung in dem totalitären, autoritären System der ehemaligen DDR mit ihrer systemtreuen Familie, insbesondere mit ihrem Großvater Dr. Paul Bahrlow. Mit dem Fall der Mauer vollzieht sich eine historische Zäsur mit der Möglichkeit von Glück, wie der Buchtitel verrät. Durch die Wende wird hier vieles hinterfragt und gerät im eigenen Wertesystem des bisherigen Zusammenlebens durcheinander. Ihre Vergangenheitsbewältigung ist auch sprachlich verständlich aufgearbeitet. Thematisiert wird die physische, psychische und strukturelle Gewalt in den Familien, in Schulen, auf der Straße, auch mit Neonazis im Osten Deutschlands, selbst nach etlichen Jahrzehnten der Wiedervereinigung. Begriffe wie Jugendwerkhof, Torgau, Hohenschönhausen, Namensweihe, Blockwartmentalität, Jugendweihe, sozialistischen Planwirtschaft, Hakeburg, Junge Gemeinde, staatsnah, Wochenkrippe, Waldsiedlung, Bertolt Brecht etc. werden im Geschichtsunterricht an westdeutschen Schulen sicher nicht so bildlich im ostdeutschen Kontext vorgestellt. Selbst wenn keine Familienbande zu Ostdeutschland vorhanden sind, könnte politisches und geschichtliches Interesse hier geweckt worden.
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Ein großes Stück Vergangenheitsbewältigung
„Meine Kindheit bleibt ein dunkler Traum, aus dem ich nicht aufwachen möchte.“
Die Erzählerin Stine, geboren 1986 in der DDR, erinnert sich an ihre Kindheit, die letzten Jahre der DDR, die neue Zeit, die …
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Ein großes Stück Vergangenheitsbewältigung
„Meine Kindheit bleibt ein dunkler Traum, aus dem ich nicht aufwachen möchte.“
Die Erzählerin Stine, geboren 1986 in der DDR, erinnert sich an ihre Kindheit, die letzten Jahre der DDR, die neue Zeit, die „Möglichkeit von Glück“.
Es ist eine besondere Zeit, die prägend für die Kinder der Wendezeit war.
Sie erkundet die Geschichte der Familie, der beiden Brüder (Großvater und Großonkel), die nach dem 2. Weltkrieg unterschiedliche Wege gingen, der eine im Osten, der andere im Westen.
„Wo kommen wir her? Wo kommt diese Familie her?“, möchte sie wissen.
Sie taucht tief in ihre Kindheit ein, die Eltern beide SED-Anhänger, die Mutter zelebriert grausame, erniedrigende Erziehungsrituale. „Ich weiß nicht mehr, wann das anfing. Wann der Wunsch in mir aufkam, mich selbst zu zerstören.“
Stine beginnt mit selbstverletzendem Verhalten und bricht nach endlosen Leidensprozessen den Kontakt zur Familie ab. In ihren inneren Monologen wird deutlich, wie sehr die Menschen, die sich eigentlich um sie hätten kümmern müssen, ihre Seele und ihren Körper verletzt haben. Und es wird ihr großer Wunsch in jeder Zeile spürbar, es bei ihren Kindern anders zu machen.
Die Erzählerin enttarnt die menschenverachtende Macht des DDR-Regimes. „Wir haben uns an das Schweigen um uns herum gewöhnt und an die Geschichten, die wir nicht verstanden haben. Wir wussten, wann wir besser nicht nachfragten, auch wenn hinten und vorne nichts stimmte.“
Und sie kritisiert die fehlende Auseinandersetzung mit dem System in der Zeit nach der Wende. Rechtsextremismus, Gewalt, werden nicht aufgearbeitet, sondern dem Westen zugeordnet.
Sie beschreibt eine traurige Jugend, in der Alkohol, Verrohung, Mobbing an der Tagesordnung sind.
„Dieses System ist in die Menschen gekrochen, hat sie geformt und unser Miteinander deformiert.“
Erschütternd ist, was die Recherchen über den geliebten Großvater zu Tage bringen.
Opa Paul ist das Beispiel eines Menschen, der als Kind im Proletariat der Weimarer Republik aufgewachsen ist, als Soldat den Nationalsozialismus erleiden musste, dann für die Propaganda der SED zuständig war, und dennoch von dem System der DDR enttäuscht wurde.
Er hat so viele Leben gelebt, die er teilweise verstecken oder „neu schreiben“ musste. „Er hat geglaubt, auf der Seite der Sieger zu stehen. Auf der richtigen Seite der Geschichte. (…) Und er hat sich geirrt.“ Das ist das traurige Fazit der Erzählerin über den Mann, den sie so geliebt hat.
Bei ihrer Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit aber auch den Rückschauen auf den Nationalsozialismus bedient sich die Autorin Anne Raabe historischer Quellen, aber auch eindringlicher Zitate aus literarischen Quellen.
So ist dieses Buch nicht nur ein persönliche Familiengeschichte, sondern ein erschütterndes Buch deutscher Geschichte. Keine DDR-Nostalgie. Zu Recht nominiert auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.
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einprägsame Erinnerungskultur
Nun war schon die Leipziger Buchmesse und ich habe immer die Shortlist des letzten Buchpreises zu lesen. Dies ist aber das vorletzte Buch, mir fehlt nur noch der Preisträger.
Und nach mühsamen Start hat mich Anne Rabe doch überzeugen …
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einprägsame Erinnerungskultur
Nun war schon die Leipziger Buchmesse und ich habe immer die Shortlist des letzten Buchpreises zu lesen. Dies ist aber das vorletzte Buch, mir fehlt nur noch der Preisträger.
Und nach mühsamen Start hat mich Anne Rabe doch überzeugen können. Sie erzählt nämlich im Rückblick von zwei Diktaturen – den Nazis und der DDR. Dies geschieht anhand ihres Großvaters, der weder als Stasi-Opfer noch als Stasi-Spitzel geführt wurde. Selbst 30 Jahre nach der Wende mag dieses Thema noch zu fesseln.
Außer der Badewannengeschichte fand ich dagegen die eigene, jetzige Familiengeschichte eher mühsam und den Titel des Buches kann ich mir bis heute nicht erklären.
Ich habe mich für 4 Sterne entschieden, wobei die gerade beschriebenen Mängel zeigen, dass es gerade so über 3 Sterne liegt. Mit der Bewertung möchte ich auch andeuten, dass es mir besser gefallen hat als die anderen Bücher der letztjährigen Shortlist.
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Die Mär von den Ossis
Als großer DDR-Roman gelobt und auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt, hat das Debüt von Anne Rabe mit dem Titel «Die Möglichkeit von Glück» im vergangenen Jahr einen wichtigen Beitrag zum aktuellen literarischen …
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Die Mär von den Ossis
Als großer DDR-Roman gelobt und auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt, hat das Debüt von Anne Rabe mit dem Titel «Die Möglichkeit von Glück» im vergangenen Jahr einen wichtigen Beitrag zum aktuellen literarischen Diskurs geleistet. Auf starken Widerspruch stieß dabei vor allem die in diesem Roman vertretene These, dass erzieherische Gewalt und emotionale Kälte in den unter der Knute der sozialistischen Diktatur stehenden Familien in letzter Konsequenz zu den bekannten Gewaltexzessen und zum Erstarken der Rechtsextremen geführt hätten. Die auf dem Gebiet der DDR lebende Gesellschaft, die 56 Jahre lang, von 1933 bis 1989, also über Generationen hinweg, nur Diktatur erlebt hat, ist in Teilen mit der Demokratie offensichtlich überfordert und trauert dem «ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden» nach. Ein politisches Phänomen übrigens, das man ja überall auf der Welt wiederfindet und das von gewissen Protestierenden derzeit in der ¬ allen Ernstes ¬ vorgetragenen Forderung nach einem Kalifat gipfelt. Man braucht den starken Mann, man will «geführt» werden! Aber das sind Abschweifungen.
Eine der Autorin ähnelnde, drei Jahre vor dem Mauerfall geborene Ich-Erzählerin namens Stine beschreibt im vorliegenden Roman schonungslos ihre Kindheit im Kreise der Familie. Dabei konzentriert sie sich meist auf das Private, beschreibt detailreich die Verhältnisse während der Nach-Wende-Zeit in ihrer kleinen Stadt an der Ostsee, in der sie aufwächst. Ihre Eltern sind gar nicht erfreut über die Wiedervereinigung, zu tief waren sie verwurzelt in das sozialistische Unrechtssystem, dessen markantestes Kennzeichen die alles beherrschende, absurde Stasi war. Sie sind trotzdem überzeugt, das «richtige Leben» gelebt zu haben, sie halten weiterhin den Sozialismus für die bessere, gerechtere Staatsform, halten hartnäckig an ihrer Lebenslüge fest.
Die dominante Rolle in der Kindererziehung hat Stines Mutter, der Vater hält sich da weitgehend raus. Er ist ein liebevoller Vater, den bohrenden Fragen der älter werdenden Tochter nach der Vergangenheit aber weicht er hartnäckig aus. Innig verbunden ist Stine mit ihrem jüngeren Bruder, der wie sie unter der lieblosen Mutter leidet, die ihre Kinder, völlig emotionslos, mit harter Hand und viel Prügel erzieht. Dabei wendet sie ungerührt sogar sadistische Methoden an, denen ihre Kinder völlig schutzlos ausgeliefert sind. Der Vater greift in der Regel nicht ein, lässt die Mutter gewähren mit ihren grausamen Strafen. Diese schlimmen Erfahrungen und die heftigen Streitereien mit der Mutter, auch nachdem Stine schon selber ein Kind hat, führen zum Bruch mit den Eltern. Die Mutter traut ihrer Tochter die richtige Erziehung der Enkel nicht zu, sie geht sogar so weit und will ihr das Kind entziehen lassen. Weil doch die Stine einen total unkonventionellen Lebenswandel hat, und die falschen politischen Überzeugungen sowieso!
Formal changiert diese DDR- Geschichte zwischen Erzählung und akribisch recherchierter Dokumentation, wobei viele interessante Details zum Vorschein kommen und demonstrieren, was die politischen Umbrüche doch für deutliche Spuren in der Familien-Historie hinterlassen haben. Als eine besonders fragwürdige Figur stellt sich letztendlich der von Stine innig geliebte Opa heraus, der Stines Fragen immer ausgewichen ist. Aber genau dessen politische Verstrickungen sind es schließlich, die Stine am Ende des Romans, nach hartnäckigen Recherchen, doch noch offenlegen kann, ¬ geahnt hat sie es ja schon immer! Im ständigen Wechsel zwischen Ich-Erzählung und dem kursiv gesetzten inneren Monolog entwickelt die Autorin ihre Geschichte in einer angenehm lesbaren Sprache. Indem sie sich meist an das Private hält, benutzt sie in ihren episodischen Rückblicken auch mundartliche Einschübe, kurze Gedichte oder Kinderreime, landestypische Redewendungen. Es findet sich zudem aber auch die ironisch präsentierte Amtssprache der «besseren» Deutschen, die sich ihre DDR-Landsleute zu sein dünkten in den seligen Zeiten des sozialistischen Musterstaates.
Fazit: erfreulich
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Dieses Buch ist für mich keine Literatur, sondern eine Reportage, wie sie in Spiegel oder der SZ Seite Drei oder im Kursbuch erscheinen.
Die Erzählerin erzählt den Verlauf einer Recherche. Dabei erfahren wir von ihren Gefühlen gegenüber ihrer Mutter, und zwar zum Zeitpunkt …
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Dieses Buch ist für mich keine Literatur, sondern eine Reportage, wie sie in Spiegel oder der SZ Seite Drei oder im Kursbuch erscheinen.
Die Erzählerin erzählt den Verlauf einer Recherche. Dabei erfahren wir von ihren Gefühlen gegenüber ihrer Mutter, und zwar zum Zeitpunkt ihres damaligen Kindseins und zum Zeitpunkt ihres heutigen Erwachsenseins.
Mich hat dauern etwas gestört an den Sätzen. Ich habe nicht rausbekommen, ob ich die Situationen, die geschildert werden, als übel, gemein und geladen ablehne oder ob ich die Sprache, in denen diese Situationen vor Augen geführt werden, zu einfach finde.
In der Ebene oberhalt des Buches stellt sich mir die Frage, ob nun die Gewalt in den Familien im der kommunistischen und ostdeutschen SED-Diktatur eine andere war als die Gewalt in den Familien in dem christ- und sozialdemokratischen und westdeutschen Rechtsstaat. Mir scheint, dass es in der DDR doch etwas einfacher war, Gewalt in Familien unter den Teppich zu kehren.
Ich finde, wenn man das Buch als Reportage liest, ist es als Reportage lesenswert.
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Broschiertes Buch
Die allermeisten Rezensionen, die ich über dieses Buch gelesen habe, berichten von einem Nach-Wende-Roman, von einer Geschichte, in der es um die Befindlichkeiten der Menschen in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung geht, um die Schwierigkeiten, sich mit …
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Die allermeisten Rezensionen, die ich über dieses Buch gelesen habe, berichten von einem Nach-Wende-Roman, von einer Geschichte, in der es um die Befindlichkeiten der Menschen in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung geht, um die Schwierigkeiten, sich mit den geänderten Lebensbedingungen zu arrangieren. Ja, darum geht es auch. Ich habe dieses Buch allerdings in erster Linie als die Geschichte einer dysfunktionalen Familie gelesen, als eine Geschichte von massivem psychischen und physischen Kindesmissbrauch.
Die Protagonistin Stine ist 1986 in Wismar geboren, war also bei der Wiedervereinigung drei Jahre alt. Ihre Eltern und Großeltern sind systemtreue Genossen, die mit den neuen Verhältnissen hadern. Doch dieser Umstand kann nicht Schuld daran sein, dass die Mutter ihre Kinder misshandelt, denn sie beginnt damit bereits, als Stine und ihr Bruder noch Babys sind, lässt sie bis zur Bewusstlosigkeit schreien, füttert sie nach der Uhr, kleidet sie nach dem Kalender und nicht nach dem Wetter, verbrüht sie in der viel zu heißen Badewanne. Abhärten will sie sie. Wogegen? Das bleibt ihr Geheimnis. Dass Stine davon tief gezeichnet ist, zeigt sich in der erwachsenen Frau und Mutter, die noch immer aufgeschreckt ist von den Manipulationsversuchen ihrer Mutter, die sich jetzt auch an die Enkelkinder richten. Diese Misshandlungen haben Spuren hinterlassen in Stines Selbstbewusstsein. Weil sie die Person, die sie dadurch wurde, für ihre Kinder nicht sein will, recherchiert sie die Leben ihrer Eltern und Großeltern, denn viel geredet wurde in der Familie nicht, nicht über Vergangenes und auch nicht über Verstorbene. Vorbei ist vorbei, tot ist tot, Deckel drauf, das war die Devise. Wer waren die Eltern früher? Was hat sie zu denen gemacht, die sie als Erwachsene sind?
Stine betreibt ihre Recherche sehr professionell. Sie wendet sich an das Wehrmachtsarchiv, um die Wege ihrer Großväter zu rekonstruieren, wird bei Einwohnermeldeämtern vorstellig und kontaktiert frühere Arbeitgeber der Großeltern und Eltern, um ein möglichst lückenloses Bild zu bekommen. Man könnte diese akribische Nachforschung als Stines Selbstheilungsprozess betrachten.
Neben der vordergründigen Geschichte um Stine wird auch allzu deutlich, dass es viele Dinge in der DDR gab, die es offiziell nicht geben durfte. Kriminalität, Kindesmisshandlung, rechtes Gedankengut - das soll es im besseren Deutschland nicht gegeben haben. Und dann gab es Dinge, von denen man heute lieber nicht mehr wissen möchte, dass es sie gab, wie die Jugendhöfe, Erziehungsanstalten für Kinder und Jugendliche, die nicht in die gängige Schublade passten. Eine umfassende Aufarbeitung fand bislang nicht statt.
Anne Rabe hat ein sehr spannendes, fesselndes Buch über eine völlig verkorkste Familie geschrieben. Dass diese Familie in der Post-DDR-Zeit lebt, erachte ich hinsichtlich der Missbrauchshandlung als zweitrangig. Natürlich hat diese Tatsache grundsätzlich Biografien beeinflusst. Allerdings hat es nicht das Verhalten der Mutter verursacht. Sie ist einfach ein Mensch mit einem maximal schlechten Charakter. Das kommt in allen Gesellschaften vor. Es ist aber ein komplexes, vielschichtiges Buch, das nicht auf den Mutter-Tochter-Konflikt reduziert werden sollte. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich den Roman noch einmal lesen, vielleicht hat dann ein anderer Aspekt für mich mehr Priorität. Mich hat der Roman nachdrücklich beeindruckt. Aber man braucht starke Nerven dafür, es ist definitiv kein Wohlfühlbuch.
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eBook, ePUB
Die Protagonistin Stine wird 1986 in einem kleinen Ort an der Ostsee in der DDR geboren. Ihre Eltern und Großeltern sind überzeugte Sozialisten. Stine wächst im wiedervereinigten Deutschland auf, doch die sozialistische Ideologie ist noch vielerorts spürbar. Stines …
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Die Protagonistin Stine wird 1986 in einem kleinen Ort an der Ostsee in der DDR geboren. Ihre Eltern und Großeltern sind überzeugte Sozialisten. Stine wächst im wiedervereinigten Deutschland auf, doch die sozialistische Ideologie ist noch vielerorts spürbar. Stines Lebensgeschichte hat mich sehr bewegt, insbesondere ihre harte und von Gewalt geprägte Kindheit. Die "Erziehungsmethoden" ihrer Mutter waren schockierend und umso befremdlicher, da sie Erzieherin in einem Kinderheim war.
Als Stines Großvater Paul stirbt, der nie viel aus seinem Leben erzählt hat, macht sie sich über das Bundesarchiv und andere Stellen auf Spurensuche. Stine möchte mehr über ihre Familie wissen, ihre Großeltern und Eltern, die nie über Vergangenes gesprochen haben, verstehen und darüber letzlich auch zu sich selbst finden. Die Jugend der Großeltern im Dritten Reich, ihre Kriegserlebnisse und das Schweigen darüber, der Aufbau der DDR und der Glaube an ein besseres Deutschland wirken bis in Stines Generation hinein. Hinzu kommen die Unsicherheiten der Nachwendezeit. Stines Gedanken hierzu und ihre innere Zerrissenheit sind sehr eindrücklich beschrieben und ich konnte mich sehr gut in sie hineinversetzen.
Die Autorin springt häufig zwischen verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen her, war den Lesefluss leider etwas behindert. Allerdings spiegelt dieses Hin und Her Stines Gedankenwelt sehr gut wider.
Aufgrund der detaillierten Schilderungen von Stines Recherche zu Opa Paul in diversen Archiven und der Ich-Perspektive liest sich der Roman wie eine Autobiographie, ist aber fiktiv. Es wäre in einem Nachwort interessant gewesen zu erfahren, ob hier reale Biographien zugrunde lagen.
Fazit: Ein lesenswerter und bewegender Roman!
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