REZENSION - „In zwei oder drei Stunden werde ich tot sein“, beginnt Erzähler Augustus „Gus“ Landor im Roman „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ seine Geschichte. Und doch reicht ihm die Zeit, um ausführlich auf 500 Seiten über seine Ermittlungen zur Aufklärung von zwei Morden an jungen Kadetten im
Herbst 1830 an der US-Militärakademie West Point zu berichten. Der ehemalige New Yorker…mehrREZENSION - „In zwei oder drei Stunden werde ich tot sein“, beginnt Erzähler Augustus „Gus“ Landor im Roman „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ seine Geschichte. Und doch reicht ihm die Zeit, um ausführlich auf 500 Seiten über seine Ermittlungen zur Aufklärung von zwei Morden an jungen Kadetten im Herbst 1830 an der US-Militärakademie West Point zu berichten. Der ehemalige New Yorker Polizeidetektiv hat sich aus Gründen, die wir in dem bereits 2006 im Original, aber erst jetzt nach 16 Jahren auf Deutsch im Insel Verlag veröffentlichten Kriminalroman des amerikanischen Schriftstellers Louis Bayard ganz am Schluss erfahren, als 48-jähriger „Constable im Ruhestand mit schwacher Lunge und Kreislaufproblemen“ in einem Haus nahe der Militärakademie zurückgezogen. Er wird nun von der Kommandantur beauftragt, diese beiden Morde ohne großes Aufsehen aufzuklären.
Der erste Mord hatte einen grausamen Fortgang: Der in der Krankenstation der Militärakademie zur Untersuchung aufgebahrte Leichnam war mitten in der Nacht gestohlen worden. Als man ihn wiederfand, war dem toten Kadetten das Herz entnommen worden. Schon bald wird ein zweiter Kadett ermordet. Da die Situation immer rätselhafter wird, Gus Landor aber verdeckt ermitteln soll und ihm der unbegleitete Zugang zum Militärgelände verboten bleibt, fordert er einen Kadetten als Assistenten an, der seine Kameraden und das Geschehen innerhalb des Kasernengeländes für ihn beobachten und ihm regelmäßig berichten soll. Landors Wahl fällt auf den poetisch veranlagten Edgar Allan Poe (1809-1849), der viele Jahre später durch seine Kriminal- und Schauergeschichten weltberühmt werden sollte, zum jetzigen Zeitpunkt aber gerade im Sommer 1830 als Kadett in West Point aufgenommen worden war. Die Kommandeure sind von Landors Wahl nicht begeistert: In seinem Vierteljahr an der Akademie war Poe bereits zum disziplinarischen Problemfall geworden, durch Alkoholexzesse aufgefallen und hatte etliche Strafpunkte angesammelt.
Die Einbindung einer realen Person in eine fiktive Handlung ist bei US-Autor Bayard nichts Neues: In „Die Geheimnisse des schwarzen Turms (2011) ist der Chef der Pariser Geheimpolizei, François Vidocq (1775-1857), einer der Protagonisten, in „Algebra der Nacht“ (2012) ist es der englische Mathematiker und Universalgelehrte Thomas Harriott (1560-1621). In „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ erfahren wir nun sehr viel Interessantes über die wilden Jugend- und Entwicklungsjahre Edgar Allan Poes, der nach dem Tod seiner Mutter ungeliebt bei Pflegeeltern aufwachsen musste, sich wohl auch deshalb als 18-Jähriger bei der US-Army verpflichtet hatte und nun 1830 Offizier werden wollte. In Bayards Roman sind Poes Berichte an seinen Auftraggeber Landor keine militärisch nüchternen Beobachtungsprotokolle, sondern in ihrem literarischen Stil lässt der Autor schon den späteren Meister der Kurzgeschichte erkennen.
Bayards Buch wirkt in seiner szenischen Ausführlichkeit und in seinem Sprachstil weniger wie ein Krimi, sondern eher wie ein – wegen der Biografie Poes – auch literarisch interessanter Roman. Erst gegen Schluss wird er durch eine überraschende Wendung noch zum Krimi, wodurch auch der Romantitel „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ eigentlich erst verständlich wird. Der lockere Plauderton des Autors oder seines Erzählers, der gelegentlich auch direkt seine „sehr geschätzten Leser“ anspricht, macht den Roman zu einer recht unterhaltsamen Lektüre, deren 500 Seiten man trotz einzelner Längen gern liest. Anschließend ist es wohl unvermeidbar, dass man sich – durch diesen Roman neugierig geworden – noch ausführlich mit der Biografie des Schriftstellers Edgar Allan Poe beschäftigt, der zum Zeitpunkt der Romanhandlung in West Point im Jahr 1830 bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht hatte und neun Jahre später durch seine Kurzgeschichte „Der Untergang des Hauses Usher“ berühmt wurde.