B.B. betreibt eine Internetseite, auf der die Nutzer die Möglichkeit haben, Blogs zu schreiben, öffentlich, wie privat. Die Blogs handeln (wie die URL schon verrät) von bösen Buben. B.B. schreibt als "blauauge" selbst auf seiner Seite. Er schreibt über seine bösen Taten. Und die Mitglieder seiner
Community laben sich an seinen morbiden Geschichten und Geständnissen, regen sich auf oder…mehrB.B. betreibt eine Internetseite, auf der die Nutzer die Möglichkeit haben, Blogs zu schreiben, öffentlich, wie privat. Die Blogs handeln (wie die URL schon verrät) von bösen Buben. B.B. schreibt als "blauauge" selbst auf seiner Seite. Er schreibt über seine bösen Taten. Und die Mitglieder seiner Community laben sich an seinen morbiden Geschichten und Geständnissen, regen sich auf oder spekulieren über den Wahrheitsgehalt. Sicher vor den Augen seines Publikums führt er auch ein privates Online-Tagebuch. Und durchwühlt hinterrücks und geheim die privaten Einträge seiner User.
Die Einträge enthüllen nach und nach, wer hinter Blauauge steckt. Sie beleuchten eine lang vergessene Vergangenheit, verborgene Familiendramen, miefigen Kleinstadttratsch und wahre Tragödien. Realität und Wahrheit verweben sich dabei in den geposteten Geschichten. Was ist wahr? Was pure Fiktion? Wer ist wer?
Ich war sofort gefesselt. Schon nach dem ersten "Eintrag" wollte ich wissen, wie es weiter geht. Wollte erfahren, wer sich hinter den Usernamen der Kommentatoren versteckt und was sie als nächstes posten. Blauauge, der nach seinen eigenen Angaben mörderische Blogger, hat mich fasziniert. Mit dem Geständnis seiner Taten. Und dessen Widerruf. Alles nur erfunden? Alles nur Wunschvorstellung? Schon schnell stellte sich mir die Frage, was denn nun wahr ist, was erfunden, wo Realität und Fiktion zusammenlaufen. Wer ist blauauge wirklich? Was ist überhaupt wirklich? Was kann man glauben, in der großen weiten Welt des Netzes?
Es fällt mir schwer den Inhalt zusammenzufassen. Schnell hätte ich zuviel verraten. Die Story hinter den Blog-Einträgen ist verworren, vielschichtig, kommt nur nach und nach zu Tage - wenn überhaupt.
Der Leser erfährt nur das, was der Protagonist und die Userin namens Albertine in ihrem elektronischen Tagebuch festhalten. Lauter Geschichten in einer Geschichte. Immer wieder abgewandelt, so dass die Frage nach der Wahrheit immer lauter wird. Die Einträge, die nicht öffentlich sind, vermitteln dem Leser dabei immer wieder das Gefühl, doch zu wissen, was da passiert, passiert ist, passieren wird. Doch das Ganze hat mehr als nur einen doppelten Boden.
Die Themen, die dieses Buch anschneidet, sind grausam. Der Überbegriff "Kindesmisshandlung" bietet sich an, doch ist er zu oberflächlich, zu abgegriffen. Es geht um Mütter, die zu ehrgeizig, zu fordernd sind, die zu hohe Ansprüche stellen und auf verschiedenste Arten grausam agieren. Es geht um Kontrollsucht, den Drang besonders zu sein, zu gefallen, sich anzupassen. Es geht um Menschen mit Schwächen und um Menschen mit speziellen Begabungen. Und ganz besonders geht es um Schuld und darum, dass so Vieles im Leben nur Schein ist.
Womit wir beim das Buch beherrschenden Medium des Internets wären. Die meisten, die sich im Netz tummeln, meinen, sie wären anonym. Versteckt hinter ihrem flirrenden Bildschirm. Erzählen Dinge, die sie sonst nie erzählen würden. Wahre, Unwahre. Harris spielt wunderbar mit den Mechanismen der Internets. Und ganz im Sinne des schwer einzuschätzenden Mediums ist das Ende ist offen - zumindest in meinen Augen. Vielleicht ist es das aber auch nicht. Denn: "Nichts ist je zu Ende."
Ich habe die 491 Seiten verschlungen. Habe mich gefragt, was das soll, wo das Ganze hinführt. Hab mich veräppelt gefühlt und auf's Glatteis geführt. Harris entwirft ein spannendes Psychogeflecht. Fragt danach, wozu Menschen fähig sind und warum. Die Auflösung, wenn es denn eine ist, macht Sinn. Wenn es keine ist, auch.
Der Verlag sagt, es wäre ein Thriller. Das ist durchaus berechtigt. Wohler fühle ich mich allerdings mit der Einordnung als Drama. Falls Morde geschehen, dann sind sie eigentlich nicht das, was zählt. Die Bedeutung liegt in den Motiven und in dem, was sie auslöste. Im Menschlichen, im Zwischenmenschlichen.
Ein intensives, verworrenes, packendes Leseerlebnis, mehr Drama als Thriller. Absolut zu empfehlen.