Jutta Weber-Bock: Das Mündel des Hofmedicus. Gmeiner Verlag 2020.
Ein Mädchenporträt aus dem schwäbischen Biedermeier
Das Kind, das in einem noblen Stuttgarter Gasthof heimlich zur Welt gebracht wird, hat gleich mehrere Namen: Christiane, Nanette, Nanele. Und es gibt im Verlauf des Romans auch
mehrere Versionen über seine Herkunft. Christiane wird von Amme zu Amme weitergereicht, kommt zu…mehrJutta Weber-Bock: Das Mündel des Hofmedicus. Gmeiner Verlag 2020.
Ein Mädchenporträt aus dem schwäbischen Biedermeier
Das Kind, das in einem noblen Stuttgarter Gasthof heimlich zur Welt gebracht wird, hat gleich mehrere Namen: Christiane, Nanette, Nanele. Und es gibt im Verlauf des Romans auch mehrere Versionen über seine Herkunft. Christiane wird von Amme zu Amme weitergereicht, kommt zu einer liebevollen Pfarrfamilie auf dem Land und gerät schließlich unter die Fuchtel einer wahrhaft bösen Stiefmutter. Dieses Ausgeliefertsein geht unter die Haut, aber Christiane entwickelt, was man heute „Resilienz“ nennt, laviert zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, lernt, einen Modus Vivendi zu finden und sich ihre Lebendigkeit zu erhalten. Man gibt sicher nicht zuviel preis, wenn man verrät, das Christiane das Objekt eines perfiden Erziehungsexperiments ist, dessen sinistre Hintergründe im Verlauf des Romans offenbar werden.
Das Ganze spielt in einem atmosphärisch sehr dicht geschilderten Württemberg, das gerade Königreich geworden ist, im Umkreis der besseren Gesellschaft Stuttgarts, bei einer Landpfarrersfamilie und in einem Internat der Herrnhuter im Schwarzwald.
Die Erzählung, hauptsächlich aus der Perspektive des Mädchens, ist durchsetzt mit inneren Zwiegesprächen zwischen Christiane und ihrem Seelenzwilling Louisle, der Pfarrerstochter, aber auch mit Passagen aus der Sicht der reichlich gestörten Stiefmutter. So entfaltet sich ein gelungener, einfühlsamer Entwicklungsroman. Das ist das eine. Zum anderen speist sich der Roman aus Ingredienzien der Unterhaltungsliteratur von damals, die sich wie ein Gitter über den Roman legen: vertauschte Kinder, geheimnisumwitterte Abkunft, Gift, Schicksalslenkung durch undurchschaubare Mächte, wobei der Besitz zweier Spielkarten darüber zu entscheiden scheint, wer über Christianes Wohl und Wehe bestimmt. Diese zweite Ebene hätte der Roman – wie gesagt, ein gelungener Entwicklungsroman – eigentlich nicht nötig gehabt, sorgt aber für zusätzliche Spannung.
Dass sich die Autorin gelegentlich, gleichsam zitierend, einer historischer Sprechweise bedient, stört nicht weiter, da es bedacht und zielgenau geschieht und nie altertümelnd wirkt. Einsprengsel des Schwäbischen als präzise gesetzte Akzente verstärken das üppige Lokalkolorit.
„Das Mündel des Hofmedicus“ bildet den ersten Teil einer Trilogie. Man kann sich auf die Fortsetzung freuen.