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Benutzername: 
Dorothea
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Tübingen

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Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 25.05.2022
Das Vermächtnis der Kurfürstin
Weber-Bock, Jutta

Das Vermächtnis der Kurfürstin


ausgezeichnet

Christianes Geschichte, die Jutta Weber-Bock in ihrem Roman „Das Mündel des Hofmedicus“ so vielversprechend begonnen hat, geht weiter. Und zwar genauso gut erzählt und spannend wie ihr 2020 erschienener Anfang. Wieder garantieren eine Vielzahl höchst lebendiger Charaktere, üppiges Lokalkolorit und eine kunstvolle Sprache den Lesegenuss.

Inzwischen ist Christiane eine junge Frau, die ihren Weg in der Welt zu machen versucht. Die Welt, das ist – mit einem Münchner Intermezzo – das damals noch junge Königreich Württemberg. Am eigenen Leib spürt Christiane die vielfältige Abhängigkeit einer mittellosen jungen Frau, zum Beispiel vom Gesinderecht und vom Vormundschaftsrecht, das selbst von volljährigen Frauen das Einverständnis der Eltern zur Eheschließung verlangte.

Christiane verdingt sich als Gesellschafterin einer Baronesse in einem Schloss an der Iller, als Zofe in München, als Dienstmädchen in Ulm, als Erzieherin in Freudenstadt. Altensteig und Wildberg im Nordschwarzwald sind weitere Stationen auf Christianes Lebensreise, die schließlich nach Stuttgart führt, wo sich neue Wendungen anbahnen.

Man spürt in diesem Buch den Frost im winterlichen Freudenstadt, die Kälte in ungeheizten Kammern, das Rumpeln der Postkutschen auf Christianes Fahrten zu immer neuen Arbeitsstellen. Man fühlt die Kleiderstoffe, die sie als Zofe mit Nadel und Faden, Geschick und Talent bearbeitet. Man riecht den Frühling und die Düfte im Spezereienladen eines Münchner Kaufmanns, den Christiane zu heiraten hofft, was aber von ihrer Stiefmutter vereitelt wird. Überhaupt, die Stiefmutter, Frau Bergrat Hehl! Sie erscheint als böser Geist, dem man nicht entgehen kann. Immer wenn Christiane irgendwo Fuß gefasst hat, wirft Frau Bergrat ihr Intrigennetz über Christiane, so dass sie immer wieder neu anfangen muss, was sie tapfer und (fast) unverdrossen tut, aber dabei ihrem Traum, ihr Geld als freie Kleidermacherin zu verdienen, kaum näher kommt. Auch Christianes zwiespältiges Gefühl für ihre Jugendliebe August gehört zu den Verstrickungen, aus denen sie sich befreien muss.

Wie den Spielkarten im ersten Teil der Romantrilogie, so kommt hier einem Satz Servietten eine zunächst rätselhafte Rolle zu. Die edlen Tücher wurden von Kurfürstin Mathilde eigenhändig bestickt und Christiane nebst einem kleinen Vermögen als Vermächtnis zugedacht. Hinter der feinen Stickerei scheint sich ein Bilderrätsel zu verbergen, von dessen Auflösung Christiane sich Aufschluss über ihre Herkunft verspricht. Sie möchte endlich wissen, wer sie ist – nicht nur im heutigen, psychologischen Sinn einer Identitätssuche, sondern ganz existenziell. Denn ohne beglaubigte Identität kein Pass, ohne Pass keine Chance auf eine wie auch immer geartete, bescheidene Selbstbestimmung.

Ja, wer ist Christiane eigentlich? In einem Interview hat die Autorin schon verraten, dass es sich um die historische „Giftmischerin“ Christiane Ruthardt handelt, die 1845 in Stuttgart enthauptet wurde. Nun fragt man sich, wie aus dieser offenen, sympathischen jungen Frau eine Verbrecherin werden kann, und wartet gespannt auf den letzten Teil der Trilogie.

Bewertung vom 15.08.2020
Das Mündel des Hofmedicus
Weber-Bock, Jutta

Das Mündel des Hofmedicus


ausgezeichnet

Jutta Weber-Bock: Das Mündel des Hofmedicus. Gmeiner Verlag 2020.
Ein Mädchenporträt aus dem schwäbischen Biedermeier

Das Kind, das in einem noblen Stuttgarter Gasthof heimlich zur Welt gebracht wird, hat gleich mehrere Namen: Christiane, Nanette, Nanele. Und es gibt im Verlauf des Romans auch mehrere Versionen über seine Herkunft. Christiane wird von Amme zu Amme weitergereicht, kommt zu einer liebevollen Pfarrfamilie auf dem Land und gerät schließlich unter die Fuchtel einer wahrhaft bösen Stiefmutter. Dieses Ausgeliefertsein geht unter die Haut, aber Christiane entwickelt, was man heute „Resilienz“ nennt, laviert zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, lernt, einen Modus Vivendi zu finden und sich ihre Lebendigkeit zu erhalten. Man gibt sicher nicht zuviel preis, wenn man verrät, das Christiane das Objekt eines perfiden Erziehungsexperiments ist, dessen sinistre Hintergründe im Verlauf des Romans offenbar werden.

Das Ganze spielt in einem atmosphärisch sehr dicht geschilderten Württemberg, das gerade Königreich geworden ist, im Umkreis der besseren Gesellschaft Stuttgarts, bei einer Landpfarrersfamilie und in einem Internat der Herrnhuter im Schwarzwald.

Die Erzählung, hauptsächlich aus der Perspektive des Mädchens, ist durchsetzt mit inneren Zwiegesprächen zwischen Christiane und ihrem Seelenzwilling Louisle, der Pfarrerstochter, aber auch mit Passagen aus der Sicht der reichlich gestörten Stiefmutter. So entfaltet sich ein gelungener, einfühlsamer Entwicklungsroman. Das ist das eine. Zum anderen speist sich der Roman aus Ingredienzien der Unterhaltungsliteratur von damals, die sich wie ein Gitter über den Roman legen: vertauschte Kinder, geheimnisumwitterte Abkunft, Gift, Schicksalslenkung durch undurchschaubare Mächte, wobei der Besitz zweier Spielkarten darüber zu entscheiden scheint, wer über Christianes Wohl und Wehe bestimmt. Diese zweite Ebene hätte der Roman – wie gesagt, ein gelungener Entwicklungsroman – eigentlich nicht nötig gehabt, sorgt aber für zusätzliche Spannung.

Dass sich die Autorin gelegentlich, gleichsam zitierend, einer historischer Sprechweise bedient, stört nicht weiter, da es bedacht und zielgenau geschieht und nie altertümelnd wirkt. Einsprengsel des Schwäbischen als präzise gesetzte Akzente verstärken das üppige Lokalkolorit.

„Das Mündel des Hofmedicus“ bildet den ersten Teil einer Trilogie. Man kann sich auf die Fortsetzung freuen.