Ein Jahrhundertsommer über dem ganzen Land, ein Mordfall, dessen Lösung zu viele Fragen offen lässt, und ein hartnäckiger Journalist, der den Zweifel zum Prinzip erhebt: In unnachahmlichem Ton entwirft die Wahl-Pariserin Gila Lustiger ein Bild der »Grande Nation«, das Land und Leute lebendig werden lässt und einen der empörendsten Wirtschaftsskandale Frankreichs als packenden Ermittlungsfall präsentiert. Die Geschichte einer unfassbaren Verstrickung, atmosphärisch, spannend und klug - ein großer Gesellschaftsroman.
© BÜCHERmagazin, Michael Pöppl (mpö)
Frankreich
verstehen
„Die Gefängnisse der anderen“ heißt ein Buch des italienischen Intellektuellen Adriano Sofri, der in den Neunzigerjahren – aufgrund alter Rechnungen selbst inhaftiert – ganze Kohorten korrupter Politiker in die Gefängnisse wandern sah. Die Selbstreinigung der politischen Klasse blieb freilich aus, und danach kam alles nur noch schlimmer. Auch anderswo. Zum Beispiel Frankreich: Gila Lustiger, aus deutsch-jüdischer Familie stammend, lebt und schreibt seit dreißig Jahren in Paris. Das Land, seine krisenhafte Gegenwart und die merkwürdigen Gesellschaftsrituale seiner Eliten, sind ihr seither fremder denn je geworden. Also hat sie dort noch mal wie von vorne angefangen. Als Feldforscherin ist sie in die Banlieus und die Provinzen aufgebrochen, um Land und Leute mit detektivisch geschärftem Blick zu erkunden. Ihren Nachforschungen über unselige Verknüpfungen von politischer und wirtschaftlicher Macht hat sie die Form eines spannend zu lesenden Gesellschafts- und Kriminalromans gegeben: Mit einem investigativ recherchierenden Helden, der zwischen allen Stühlen sitzt – am Ende auch jenen von Schuld und Unschuld.
VOLKER BREIDECKER
Gila Lustiger: Die Schuld der anderen. Berlin Verlag, Berlin 2016. 496 Seiten, 11 Euro.
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»Ein ungeheuer intelligentes und spannendes Buch, das die französischen Verhältnisse der jüngeren Vergangenheit offenlegt. [...]. Ein echter Literaturdiamant, der durch seine vielen Facetten unglaublich viele Perspektiven des französischen Lebens und vieles, was in Frankreich vor sich geht, verständlich macht und zudem echte Spannung erzeugt.« Stephan Schwammel Eschborner Zeitung 20160201
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sandra Kegel scheint der Blick von außen bedeutsam, wenn Gila Lustiger, die allerdings seit 30 Jahren in Paris lebt, die kriminellen Verflechtungen von Wirtschaft und Politik in Frankreich literarisch untersucht. Was dabei über die gesellschaftliche Wirklichkeit ans Licht kommt, lässt Kegel ungläubig staunen. Allerdings handelt es sich um einen Krimi. Daher freut sich Kegel auch über die Spannung, die auf den Recherchen der Autorin fußen und auf einem Plot, der auf einen alten Prostituiertenmordfall während der Mitterand-Zeit zurückgreift, um Bestechung, Gewalt und Armut zwischen Frankreichs Eliten und Frankreichs Banlieues auszuleuchten. Eine böse Lektion, findet die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Gila Lustiger kennt Frankreichs verkommene Sitten
Vielleicht braucht es den Blick von außen, um sich der gesellschaftlichen Gegenwart Frankreichs so schonungslos zu nähern, wie dies Gila Lustiger in ihrem Gesellschaftsthriller tut. "Die Schuld der Anderen" ist dabei nicht nur ihr erster Krimi - die 1963 in Frankfurt geborene Autorin, die seit fast dreißig Jahren in Paris lebt, wendet sich darin ihrer Wahlheimat erstmals auch literarisch zu. Und wirft einen so unbestechlichen wie entlarvenden Blick auf die Verfilzungen der Grande Nation, wie dies derzeit vielleicht nur noch Michel Houellebecq wagt.
Über die Umkehrung der eigenen Geschichte, dass sie mithin erst im Nachhinein über die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz erfuhr, davon handelte Gila Lustigers hochgelobter Familienroman "So sind wir", der im Jahr 2005 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Eine ähnliche Konstellation, die nicht unwesentlich zur Spannung beiträgt und erst am Ende ihre ruinöse Wirkung entfaltet, liegt auch dieser Geschichte zugrunde. Im Zentrum steht der Journalist Marc Rappaport. Der einzelgängerische Sohn aus vermögendem Hause, Mutter katholisch, Vater jüdisch, Absolvent gleich mehrerer Eliteschulen des Landes, hat mit der eigenen Sippe nicht viel am Hut. Stattdessen deckt er Artikel um Artikel die Machenschaften derjenigen auf, die sich ihr Leben in Neuilly oder Biarritz mit Steuerhinterziehung, Korruption und Schattenwirtschaft ermöglichen.
Von den Männern, die mit "schlafwandlerischer Sicherheit" immer neue Möglichkeiten erkennen, Geld zu verdienen, ist Rappaport gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen: dass sie sich auserkoren wähnen, weil sie auf der Erfolgsleiter ganz oben stehen, und es als ihr Recht erachten, sich zu nehmen, was immer sie begehren. Diese "Unstillbaren", denen noch der größte Reichtum zu eng, der beeindruckendste Erfolg zu bescheiden ist, will er zu Fall bringen. Dass das schwarze Schaf der Familie die Aufgabe mit jenem fiebrigen Eifer verfolgt, mit dem sein Großvater einst Millionen machte, ist nicht die einzige Ähnlichkeit des Ahnungslosen mit dem kriminellen Vorfahren.
Die Story, auf die Rappaport durch Zufall stößt, weitet sich von einer Zehn-Zeilen-Meldung rasch zum handfesten Skandal. Eigentlich wollte der Reporter nur herausfinden, was es mit einem ungeklärten Mord an einer Prostituierten vor siebenundzwanzig Jahren auf sich hat, der mit Hilfe einer DNA-Analyse angeblich aufgeklärt wurde. Doch dann stößt er bei seinen Recherchen in der Provinz auf die Machenschaften eines Futtermittelkonzerns, und die Geschichte der getöteten Emilie Thevenin führt ihn in ein komplexes System aus Bestechung, Gewalt und krimineller Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Denn dieser Konzern produzierte in den achtziger Jahren Vitamin A für die Massentierhaltung, doch das Verfahren stellte sich für die Arbeiter als krebserregend heraus, was jahrelang vertuscht wurde.
Zwei Jahre lang ist Gila Lustiger für ihren Stoff, der auf einem realen Fall fußt, durch Frankreich gereist und hat die deindustrialisierten Provinzen und die von Armut und Gewalt geprägten Banlieues besucht. Dass sie Frankreich nicht mehr verstanden habe - die Krawalle der Jugendlichen, die Streiks der Arbeiter, der Erfolg Marine Le Pens -, gab für sie nach eigener Aussage den Anstoß für das Buch.
Ihr Befund lässt sich in "Die Schuld der Anderen" nun nachlesen: dass nämlich die französische Elite sich nur noch aus sich selbst ernährt und wer aus den abgehängten Regionen Frankreichs kommt, keinerlei Aufstiegschancen hat. Wie die Pariser Politik ihre wirtschaftlichen Interessen ausspielt und wovon die französischen Eliten profitieren, beleuchtet die Autorin aus Reporter-Perspektive von der Mitterrand-Regierung bis in die Gegenwart. Die böse Lektion, die Gila Lustiger ihrem Protagonisten dabei zuletzt erteilt, ist nicht nur eine irre Volte. Sie straft auch den Titel Lügen.
SANDRA KEGEL
Gila Lustiger: "Die Schuld der Anderen".
Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2015. 496 S., geb., 22,99 [Euro].
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