Anna Katharina Hahn
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Um Himmelswillen, wo bleibt der Junge? Als ihr kleiner Enkel Bruno nicht zum Essen kommt, meint Elisabeth, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Ihre Tochter Cornelia hat sich von ihrem Mann getrennt und nimmt eine »Auszeit« in Pennsylvania. Stella, Brunos hinreißende ältere Schwester, treibt sich mit ihren Peers irgendwo in der Stadt herum. Und Bruno ist einfach weg. Unerreichbar. Einmal noch wollte Elisabeth Verantwortung übernehmen, Cornelia vier Wochen lang alles abnehmen, ohne Wenn und Aber. Doch seit dem Schlaganfall ihres Mannes ist der alte Schwung hin, und helfen kann ihr k...
Um Himmelswillen, wo bleibt der Junge? Als ihr kleiner Enkel Bruno nicht zum Essen kommt, meint Elisabeth, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Ihre Tochter Cornelia hat sich von ihrem Mann getrennt und nimmt eine »Auszeit« in Pennsylvania. Stella, Brunos hinreißende ältere Schwester, treibt sich mit ihren Peers irgendwo in der Stadt herum. Und Bruno ist einfach weg. Unerreichbar. Einmal noch wollte Elisabeth Verantwortung übernehmen, Cornelia vier Wochen lang alles abnehmen, ohne Wenn und Aber. Doch seit dem Schlaganfall ihres Mannes ist der alte Schwung hin, und helfen kann ihr keiner.
Anna Katharina Hahn entfaltet ein weites Panorama zwischen den Generationen, die einander immer weniger zu sagen haben. Da sitzt Elisabeth mit ihren Enkeln in Stuttgart, dessen Überfluss nicht mehr zu den Nöten der Menschen in ihrer Umgebung zu passen scheint. Auf der anderen Seite meldet sich ihre Tochter aus dem flirrenden Manhattan oder den Weiten eines provinziellen Hinterlands. Durch Bilder und Textnachrichten, die um die halbe Welt geschickt werden, scheint das alles irgendwie zusammenzuhängen. Doch was nützt das, wenn ein Kind nicht nach Hause kommt? Aus und davon ist der Familienroman des 21. Jahrhunderts.
Anna Katharina Hahn entfaltet ein weites Panorama zwischen den Generationen, die einander immer weniger zu sagen haben. Da sitzt Elisabeth mit ihren Enkeln in Stuttgart, dessen Überfluss nicht mehr zu den Nöten der Menschen in ihrer Umgebung zu passen scheint. Auf der anderen Seite meldet sich ihre Tochter aus dem flirrenden Manhattan oder den Weiten eines provinziellen Hinterlands. Durch Bilder und Textnachrichten, die um die halbe Welt geschickt werden, scheint das alles irgendwie zusammenzuhängen. Doch was nützt das, wenn ein Kind nicht nach Hause kommt? Aus und davon ist der Familienroman des 21. Jahrhunderts.
Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage. Ihr zweiter Roman, Am schwarzen Berg, stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Mit Das Kleid meiner Mutter hat sie 2016, so Denis Scheck, 'ein großes europäisches Tableau' entworfen. Ihr Roman Aus und davon erschien 2020 und stand mehrfach auf der Spiegel-Bestsellerliste.

©Jürgen Bauer
Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- 5. Aufl.
- Seitenzahl: 308
- Erscheinungstermin: 18. Mai 2020
- Deutsch
- Abmessung: 216mm x 134mm x 30mm
- Gewicht: 403g
- ISBN-13: 9783518429198
- ISBN-10: 3518429191
- Artikelnr.: 57912957
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag AG
Torstr. 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
www.suhrkamp.de
+49 (030) 740744-0
Die Taubenpost ist elektronisch
Man reist im Handumdrehen um die ganze Welt und kommt doch niemals voneinander los: "Aus und davon", der vierte Roman von Anna Katharina Hahn, schildert die märchenhaften Schicksale einer Stuttgarter Familie in all ihrer befremdlichen Alltäglichkeit.
Elisabeth Geiger hat mit der Organisation von Fremdheitserlebnissen ihr Brot verdient. Mit ihrem Mann betrieb sie ein Reisebüro in der Stuttgarter Innenstadt. Jetzt ist ihr die eigene Stadt fremd geworden. Um sie herum sind zu viele Frauen mit Kopftüchern und langen Hosen. Dabei steht ihr das gruseligste Erlebnis noch bevor, ein paar Tage und 240 Romanseiten später: Ihre eigene Enkelin Stella wird sich den fremdartigen Mitbürgerinnen
Man reist im Handumdrehen um die ganze Welt und kommt doch niemals voneinander los: "Aus und davon", der vierte Roman von Anna Katharina Hahn, schildert die märchenhaften Schicksale einer Stuttgarter Familie in all ihrer befremdlichen Alltäglichkeit.
Elisabeth Geiger hat mit der Organisation von Fremdheitserlebnissen ihr Brot verdient. Mit ihrem Mann betrieb sie ein Reisebüro in der Stuttgarter Innenstadt. Jetzt ist ihr die eigene Stadt fremd geworden. Um sie herum sind zu viele Frauen mit Kopftüchern und langen Hosen. Dabei steht ihr das gruseligste Erlebnis noch bevor, ein paar Tage und 240 Romanseiten später: Ihre eigene Enkelin Stella wird sich den fremdartigen Mitbürgerinnen
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anverwandeln und in der Hitze eine weite, breit geschnittene Hose und ein langärmeliges Shirt tragen. Mit diesem Schnappschuss könnte sich der vierte Roman von Anna Katharina Hahn auf den letzten Seiten noch in die Horrorgeschichte eines Mädchens verwandeln, das sich aus Liebe zu einem syrischen Flüchtling in die Gefängniswelt einer fundamentalistischen Lebensform hineinziehen lässt.
Aber das Schauermärchen wird nicht Romanwirklichkeit, bleibt eine phantastische Variante der tatsächlichen Handlung - was nicht daran liegt, dass aus Märchen nie Wirklichkeit würde. Die Selbstverständlichkeit, mit der den Figuren des Romans die Märchen aus der Kindheit in den Sinn kommen, verrät im Gegenteil, dass die Wundergeschichten von der zeitweiligen Umkehrung aller Verhältnisse, vom plötzlichen Überfluss und von endlich einmal gerechter Belohnung, ein Korrelat in der Erfahrungswelt haben.
Hamid, Stellas Angebeteter, verlässt Stuttgart und lässt seine Freundin zurück, einem Befehl seiner Mutter folgend. Von dieser in Aleppo zurückgebliebenen Zahnärztin heißt es, dass sie in Stuttgart immer mit dabei gewesen sei. Das Personal des Romans schließt eine ganze Reihe solcher Über-Ich-Instanzen ein, die für das geistige Auge sichtbar sind. Bei Elisabeth Geiger, der Reisekauffrau im Ruhestand, deren Herkunftswelt der schwäbische Pietismus ist, also eine fundamentalistische Spielart des Christentums, sind es zwei Missionsschwestern aus Fellbach, die ihr immer noch ins Gewissen reden, wenn sie vom Weg ins Himmelreich abzukommen droht.
Die Einsicht, dass solche Instanzen trotz himmelweit unterschiedlicher Autorisierung oft sehr ähnliche Maximen vertreten, liegt nicht jenseits des Horizonts der Figuren. Stellas Großmutter stimmt mit Hamids Mutter, "dieser fremden Frau", darin überein, "dass Familie das Wichtigste ist". Wenn in jeder Familie Abwesende mit am Tisch sitzen, so laufen umgekehrt die Anwesenden Gefahr, übersehen zu werden, und zwar auch und gerade dann, wenn ihnen ohne Unterlass die liebevollste Aufmerksamkeit zuteilwird.
Eine Familie, das sind mehrere Personen, die sich als unzertrennliche Einheit empfinden. Was wird leicht übersehen an einer Person, die aus dieser Konstellation nicht wegzudenken ist? Dass sie Augen im Kopf hat: eine eigene Perspektive auf das Ganze der Familie und dessen menschliche Teile. Der Leser, den Anna Katharina Hahn an den Küchentisch in der Stuttgarter Ostendstraße einlädt, wo Elisabeth Geiger aushilfsweise für ihre beiden Enkel kocht, sieht das, weil die Erzählperspektive abwechselt. So sehen wir die Großmutter mit den Augen des kleinen Bruno. "Eli-Omi ist speziell. Sie fällt auf, wenn man mit ihr unterwegs ist, denn sie ist groß und dünn, redet laut, trägt fast immer lange Hosen und Anzugjacken und hat graue Haare, die wie ein Helm frisiert sind."
Das denkt sich jemand, der selbst speziell ist, der jämmerlich darunter leidet, dass er auffällt, wenn man mit ihm unterwegs ist. Bruno ist dick. Ihm kommt der Gedanke nicht, der sich dem Leser aufdrängt, dass lange Hosen im Straßenbild von Stuttgart-Ost doch gar nichts Auffälliges sind. Für den Jungen bezeichnet die eigene Mutter die Norm. Und Cornelia Geiger-Chatzis, Physiotherapeutin und geschiedene Frau eines in die Heimat seiner griechischen Vorfahren verzogenen Physiotherapeuten, trägt Shorts.
Sie ist nach New York gereist und lässt sich von ihrer Mutter am Herd vertreten, weil sie für ihre Regeneration eine Auszeit zu benötigen meint. In ihrem Reisetagebuch führt sie über ihren Zustand so unbarmherzig Buch, wie sie es in der Praxis gelernt hat. Der Eskapismus ihres Projekts liegt dergestalt offen zutage, und sie könnte sofort umkehren - was sie nach dem Eingang der ersten aufs Handy übermittelten Hiobsbotschaft aus der Alten Welt auch tut. Ein Augenblick genügt, um größte Entfernungen zu überwinden: Dank der Technik ist die Erfüllung dieses Versprechens der Märchen in unserer Zeit (noch) Alltag.
Cornelia kann in New York nicht alle Orte aufsuchen, die ihr aus Filmen und Büchern vertraut sind. So lässt sie den Besuch im American Museum of Natural History fort, den sie zu Ehren von Holden Caulfield geplant hatte, dem Helden von "Der Fänger im Roggen". Aber gerade indem sie der Trägheit nachgibt, tut sie es Holden gleich, der in Salingers Roman seinen Kindheitsort auch nicht wieder betritt, sondern sich mit dem Schwelgen in Erinnerungen begnügt.
Auf dem Weg zum Museum kommt Holden im Central Park an Kindern bei einer Wippe vorbei. Eines der Kinder ist dick, darum gesellt sich Holden hinzu, um dem einen Ende der Wippe sein Gewicht zu leihen. Im Hinterhof der Familie Geiger-Chatzis ist eine solche Geste des diskreten Ausgleichs alltäglich. Dort ist zwischen Sonnenschirm und Kastanienbaum eine Hängematte gespannt, und wenn Bruno hineinklettert, setzt Stella sich auf den Schirmfuß. Flüsternd hat sie das den Großeltern erzählt, "mit Verschwörermiene", als dürfte Bruno nichts merken vom Geschwisterliebesdienst. Wenn jemand seinen Platz räumt, sich davonmacht, ist das Gleichgewicht in der Familie nicht so einfach wiederherzustellen, obwohl das Schicksal sich bisweilen wiederholt: Nach Cornelia wurde auch Elisabeth von ihrem Ehemann und lebenslangen Geschäftspartner verlassen. Die alte Dame schämt sich ihres Unglücks und möchte es für sich behalten.
Ein Familiengeheimnis, das Elisabeth Geigers Mutter betrifft, deckt Cornelia in Amerika absichtslos auf, während Elisabeth auf der anderen Seite des großen Meeres gleichzeitig zum ersten Mal davon erzählt, indem sie eine Gute-Nacht-Geschichte für ihren Enkel aufschreibt. Sie kann erzählen, indem sie eine Erzählinstanz einschiebt: die von ihrer Mutter geerbte, aus Lumpen genähte Puppe. Ein genialer Einfall Anna Katharina Hahns: Dieser Linsenmaier, benannt nach seiner Füllung, ist keine Über-Ich-Figur; seine Objektivität stammt daher, dass die Ereignisse, von denen er berichtet, ihn in Mitleidenschaft gezogen haben.
Wieder, wie in den drei früheren Romanen von Anna Katharina Hahn, geht es um die Familie als das vielköpfige Wesen, das die Kräfte zu zerreißen drohen, die es zusammenhalten. Als Zaubermittel, das Distanzen ständig aufhebt und dadurch offenlegt, ist die elektronische Kommunikation hinzugekommen. Für das Befremdliche am ultimativen Näheverhältnis der Familie findet die Autorin eine Kette intensiver Bilder, von der Beschreibung des Ekels, den alltäglichste Verrichtungen auslösen können, bis zur tröstlichen literarischen Anspielung.
Das Totemtier der Geigers ist die Taube. "Eigenartig, wie diese Vögel an ihrer Heimat kleben, obwohl sie genug Flügelkraft und Intelligenz besitzen, um Hunderte von Kilometern zu fliegen und auch wieder zurückzufinden." Von den Vögeln im Museum, den ausgestopften und den an die Wand gemalten, denkt sich Holden Caulfield, dass sie alle so aussähen, als flögen sie nach Süden. Und stelle man sich auf den Kopf und betrachte sie von unten, wirke ihre Eile noch größer. In dieser Untersicht zeigt uns Anna Katharina Hahn die Familie.
PATRICK BAHNERS
Anna Katharina Hahn: "Aus und davon". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 308 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aber das Schauermärchen wird nicht Romanwirklichkeit, bleibt eine phantastische Variante der tatsächlichen Handlung - was nicht daran liegt, dass aus Märchen nie Wirklichkeit würde. Die Selbstverständlichkeit, mit der den Figuren des Romans die Märchen aus der Kindheit in den Sinn kommen, verrät im Gegenteil, dass die Wundergeschichten von der zeitweiligen Umkehrung aller Verhältnisse, vom plötzlichen Überfluss und von endlich einmal gerechter Belohnung, ein Korrelat in der Erfahrungswelt haben.
Hamid, Stellas Angebeteter, verlässt Stuttgart und lässt seine Freundin zurück, einem Befehl seiner Mutter folgend. Von dieser in Aleppo zurückgebliebenen Zahnärztin heißt es, dass sie in Stuttgart immer mit dabei gewesen sei. Das Personal des Romans schließt eine ganze Reihe solcher Über-Ich-Instanzen ein, die für das geistige Auge sichtbar sind. Bei Elisabeth Geiger, der Reisekauffrau im Ruhestand, deren Herkunftswelt der schwäbische Pietismus ist, also eine fundamentalistische Spielart des Christentums, sind es zwei Missionsschwestern aus Fellbach, die ihr immer noch ins Gewissen reden, wenn sie vom Weg ins Himmelreich abzukommen droht.
Die Einsicht, dass solche Instanzen trotz himmelweit unterschiedlicher Autorisierung oft sehr ähnliche Maximen vertreten, liegt nicht jenseits des Horizonts der Figuren. Stellas Großmutter stimmt mit Hamids Mutter, "dieser fremden Frau", darin überein, "dass Familie das Wichtigste ist". Wenn in jeder Familie Abwesende mit am Tisch sitzen, so laufen umgekehrt die Anwesenden Gefahr, übersehen zu werden, und zwar auch und gerade dann, wenn ihnen ohne Unterlass die liebevollste Aufmerksamkeit zuteilwird.
Eine Familie, das sind mehrere Personen, die sich als unzertrennliche Einheit empfinden. Was wird leicht übersehen an einer Person, die aus dieser Konstellation nicht wegzudenken ist? Dass sie Augen im Kopf hat: eine eigene Perspektive auf das Ganze der Familie und dessen menschliche Teile. Der Leser, den Anna Katharina Hahn an den Küchentisch in der Stuttgarter Ostendstraße einlädt, wo Elisabeth Geiger aushilfsweise für ihre beiden Enkel kocht, sieht das, weil die Erzählperspektive abwechselt. So sehen wir die Großmutter mit den Augen des kleinen Bruno. "Eli-Omi ist speziell. Sie fällt auf, wenn man mit ihr unterwegs ist, denn sie ist groß und dünn, redet laut, trägt fast immer lange Hosen und Anzugjacken und hat graue Haare, die wie ein Helm frisiert sind."
Das denkt sich jemand, der selbst speziell ist, der jämmerlich darunter leidet, dass er auffällt, wenn man mit ihm unterwegs ist. Bruno ist dick. Ihm kommt der Gedanke nicht, der sich dem Leser aufdrängt, dass lange Hosen im Straßenbild von Stuttgart-Ost doch gar nichts Auffälliges sind. Für den Jungen bezeichnet die eigene Mutter die Norm. Und Cornelia Geiger-Chatzis, Physiotherapeutin und geschiedene Frau eines in die Heimat seiner griechischen Vorfahren verzogenen Physiotherapeuten, trägt Shorts.
Sie ist nach New York gereist und lässt sich von ihrer Mutter am Herd vertreten, weil sie für ihre Regeneration eine Auszeit zu benötigen meint. In ihrem Reisetagebuch führt sie über ihren Zustand so unbarmherzig Buch, wie sie es in der Praxis gelernt hat. Der Eskapismus ihres Projekts liegt dergestalt offen zutage, und sie könnte sofort umkehren - was sie nach dem Eingang der ersten aufs Handy übermittelten Hiobsbotschaft aus der Alten Welt auch tut. Ein Augenblick genügt, um größte Entfernungen zu überwinden: Dank der Technik ist die Erfüllung dieses Versprechens der Märchen in unserer Zeit (noch) Alltag.
Cornelia kann in New York nicht alle Orte aufsuchen, die ihr aus Filmen und Büchern vertraut sind. So lässt sie den Besuch im American Museum of Natural History fort, den sie zu Ehren von Holden Caulfield geplant hatte, dem Helden von "Der Fänger im Roggen". Aber gerade indem sie der Trägheit nachgibt, tut sie es Holden gleich, der in Salingers Roman seinen Kindheitsort auch nicht wieder betritt, sondern sich mit dem Schwelgen in Erinnerungen begnügt.
Auf dem Weg zum Museum kommt Holden im Central Park an Kindern bei einer Wippe vorbei. Eines der Kinder ist dick, darum gesellt sich Holden hinzu, um dem einen Ende der Wippe sein Gewicht zu leihen. Im Hinterhof der Familie Geiger-Chatzis ist eine solche Geste des diskreten Ausgleichs alltäglich. Dort ist zwischen Sonnenschirm und Kastanienbaum eine Hängematte gespannt, und wenn Bruno hineinklettert, setzt Stella sich auf den Schirmfuß. Flüsternd hat sie das den Großeltern erzählt, "mit Verschwörermiene", als dürfte Bruno nichts merken vom Geschwisterliebesdienst. Wenn jemand seinen Platz räumt, sich davonmacht, ist das Gleichgewicht in der Familie nicht so einfach wiederherzustellen, obwohl das Schicksal sich bisweilen wiederholt: Nach Cornelia wurde auch Elisabeth von ihrem Ehemann und lebenslangen Geschäftspartner verlassen. Die alte Dame schämt sich ihres Unglücks und möchte es für sich behalten.
Ein Familiengeheimnis, das Elisabeth Geigers Mutter betrifft, deckt Cornelia in Amerika absichtslos auf, während Elisabeth auf der anderen Seite des großen Meeres gleichzeitig zum ersten Mal davon erzählt, indem sie eine Gute-Nacht-Geschichte für ihren Enkel aufschreibt. Sie kann erzählen, indem sie eine Erzählinstanz einschiebt: die von ihrer Mutter geerbte, aus Lumpen genähte Puppe. Ein genialer Einfall Anna Katharina Hahns: Dieser Linsenmaier, benannt nach seiner Füllung, ist keine Über-Ich-Figur; seine Objektivität stammt daher, dass die Ereignisse, von denen er berichtet, ihn in Mitleidenschaft gezogen haben.
Wieder, wie in den drei früheren Romanen von Anna Katharina Hahn, geht es um die Familie als das vielköpfige Wesen, das die Kräfte zu zerreißen drohen, die es zusammenhalten. Als Zaubermittel, das Distanzen ständig aufhebt und dadurch offenlegt, ist die elektronische Kommunikation hinzugekommen. Für das Befremdliche am ultimativen Näheverhältnis der Familie findet die Autorin eine Kette intensiver Bilder, von der Beschreibung des Ekels, den alltäglichste Verrichtungen auslösen können, bis zur tröstlichen literarischen Anspielung.
Das Totemtier der Geigers ist die Taube. "Eigenartig, wie diese Vögel an ihrer Heimat kleben, obwohl sie genug Flügelkraft und Intelligenz besitzen, um Hunderte von Kilometern zu fliegen und auch wieder zurückzufinden." Von den Vögeln im Museum, den ausgestopften und den an die Wand gemalten, denkt sich Holden Caulfield, dass sie alle so aussähen, als flögen sie nach Süden. Und stelle man sich auf den Kopf und betrachte sie von unten, wirke ihre Eile noch größer. In dieser Untersicht zeigt uns Anna Katharina Hahn die Familie.
PATRICK BAHNERS
Anna Katharina Hahn: "Aus und davon". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 308 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Ja, eine pietistisch und feministisch inspirierte Familiengeschichte ist Aus und davon auch, aber vor allem ist der Roman eine böse, satirische, schwarzromantische Fantasie in Callots oder eben hoffmannscher Manier. Zubereitet mit viel Mehl, Milch und Hefebrocken und größter Könnerschaft.« Hubert Winkels DIE ZEIT 20200702
Überdeterminiert
Auch in ihrem vierten Roman mit dem Titel «Aus und davon» greift Anna Katharina Hahn thematisch wieder auf die Familie zurück. Aus einer strikt feministischen Warte heraus umfasst ihr erzählerischer Bogen vier Generationen von Frauen und reicht von der …
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Überdeterminiert
Auch in ihrem vierten Roman mit dem Titel «Aus und davon» greift Anna Katharina Hahn thematisch wieder auf die Familie zurück. Aus einer strikt feministischen Warte heraus umfasst ihr erzählerischer Bogen vier Generationen von Frauen und reicht von der Jetztzeit bis zur Weltwirtschaftskrise zurück. In parallelen Handlungssträngen entwickelt sie dabei ein desolates Bild schwäbischer Hausfrauen im Kampf mit den widrigen Umständen, zu denen auch der leidige Generationenkonflikt ihrer Protagonistinnen einiges beiträgt.
Im Mittelpunkt des Plots steht Cornelia, eine von ihrem griechischen Mann verlassene Stuttgarter Physiotherapeutin mit zwei Kindern, die restlos erschöpft eine dringend benötigte Auszeit nimmt und kurz entschlossen auf den Spuren der Großmutter für vier Wochen in die USA fliegt, bereits der Buchtitel deutet diesen zentralen Handlungsfaden an. Ihre ebenfalls gerade erst von ihrem lebenslustigen, katholischen Mann verlassene, evangelikale Mutter Elisabeth merkt schnell, dass sie als Oma mit der Aufgabe überfordert ist, sich derweil um ihre Enkel Stella und den kleinen Bruno zu kümmern. Das pubertierende Mädchen treibt sich mit Jungen herum und lässt sich nichts mehr sagen, der adipöse Bub wird wegen seiner Dickleibigkeit dauernd von den anderen Schülern bös gehänselt und schwänzt die Schule, um dem zu entgehen. Hinzu kommt der chaotische Haushalt ihrer Tochter, in den Elisabeth mit Mühe ein wenig von jenen schwäbischen Hausfrauen-Standards einzubringen versucht, die sie für unverzichtbar hält. Nun ist Eskapismus in Zeiten ständig eingeschalteter Smartphones schwierig zu realisieren, die Familie bleibt in regem Austausch, die Probleme der Oma sind für Cornelia rund um die Uhr präsent. Und so tritt sie resigniert nach kurzem Aufenthalt in New York, einem ernüchternden, eher frustrierenden Besuch der Verwandten in Pennsylvania und abschließendem One Night Stand, den sie sich ganz bewusst mal gönnt, den vorzeitigen Rückflug nach Stuttgart an.
In 23 Kapiteln wird aus unterschiedlichen Perspektiven abwechselnd auktorial vom Geschehen in Stuttgart erzählt, während Cornelia als Ich-Erzählerin aus den USA berichtet. Eine märchenhafte dritte Perspektive benutzt die Autorin für die Geschichte der pietistischen Urgroßmutter, die aus der Sicht vom Linsenmaier erzählt ist. So heißt eine selbst genähte Puppe, heißgeliebtes Maskottchen der als junges Mädchen während der Weltwirtschaftskrise zu Verwandten in die USA geschickten, pietistischen Mutter von Elisabeth, die ihre hungernde schwäbische Familie von dort aus finanziell unterstützt hat. Mit Bleistift schreibt Elisabeth, oft nachts, als «Selbstberuhigungsversuch», die Linsenmaier-Geschichte für ihren Enkel Bruno auf, «Zwei Schulhefte voll sind es geworden», heißt es am Ende, selbst Stella ist beeindruckt.
Besonders am Anfang liest sich diese abgründige Familiengeschichte ziemlich quälend, die von äußeren und inneren Zwängen geprägten Figuren stehen sich gegenseitig im Weg. Wobei das heutige, total konsumbestimmte Alltagsleben, die höchst ungesunde Ernährung, für die Bruno den lebenden Beweis darstellt, sowie die alle Generationen einschließende, in Sucht ausgeartete Smartphone-Hörigkeit einiges Unbehagen beim Lesen aufkommen lässt. Angereichert ist dieser Roman mit einer Fülle von Motiven, zu denen ein Taubenschlag ebenso gehört wie der Pietismus schwäbischer Auswanderer, ein Ausflug zu den Amischen Pennsylvanias, Fastfood und Convenience-Produkte, aufopfernde Krankenpflege oder der bei deutschen Pflegeeltern lebende, syrische Flüchtling. Obwohl mit schwarzem Humor erzählt, wirkt dieses Panorama moderner Lebenswirklichkeit eher abstoßend als amüsant. Der Plot ist deutlich überdeterminiert, weniger Motive mit psychologisch tiefer ausgeleuchteten Figuren wäre literarisch mehr gewesen. Diese Geschichte vom glanzlosen Leben zeigt ungeschminkt eine unerfreuliche Gegenwart, wie es sie ohne Zweifel so auch tatsächlich gibt, - nicht nur in Stuttgart!
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Elisabeth, die „Eli-Oma“, hat Enkel-Dienst. Ihre Tochter gönnt sich eine Verschnaufpause in den Vereinigten Staaten und sie managt derweil den Familienalltag in der Stuttgarter Ostendstraße mit den beiden Kindern. Raus aus dem vertrauten Habitat in Hedelfingen in eine …
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Elisabeth, die „Eli-Oma“, hat Enkel-Dienst. Ihre Tochter gönnt sich eine Verschnaufpause in den Vereinigten Staaten und sie managt derweil den Familienalltag in der Stuttgarter Ostendstraße mit den beiden Kindern. Raus aus dem vertrauten Habitat in Hedelfingen in eine Umgebung, die ihr äußerst suspekt ist, die so gar nichts mit der gewohnten Aufgeräumtheit zu tun hat, die ihr bisheriges Leben bestimmt hat, sie mit Herausforderungen konfrontiert, denen sie sich anfangs nicht gewachsen fühlt, schlussendlich aber doch bewältigt. Auch – und vor allem – durch den Blick zurück.
„Aus und davon“ ist aber mehr als ein bloßer Familienroman. Hahn richtet ihren Blick entlarvend, aber nie wertend, auf die kleinen und großen Fluchten aus brüchigen Beziehungen, auf das Weggehen und das Dableiben, auf das sich Davonstehlen aus Lebensumständen, die die Freude am Leben im Keim ersticken. Elisabeth hat es schon einmal geschafft, konnte sich aber dennoch nicht völlig von ihrer pietistischen Sozialisation lösen, auch wenn sie glaubte, ihr durch die Heirat mit Hinz entkommen zu sein. Jetzt hat er sie nach seinem Schlaganfall verlassen, ist weg mit einer Reha-Bekanntschaft. Auch ihre Tochter Cornelia braucht wieder Luft zum Atmen, nachdem ihr Mann sie verlassen hat und zurück in seine griechische Heimat gegangen ist. Ob ihr die USA-Reise auf den Spuren ihrer ausgewanderten Großmutter dabei helfen kann?
Drei Ebenen aus Vergangenheit und Gegenwart, die Hahn gekonnt verbindet. Natürlich der Stuttgarter Alltag mit Elisabeth und den beiden Enkeln, Cornelias Erlebnisse während ihrer Reise und dazu dann noch der Rückblick auf die Geschichte der Großmutter. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, bedingen und beeinflussen sich gegenseitig, zeigen Zusammenhänge auf und heilen am Ende. Jeden einzelnen. Zumindest ein bisschen.
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Anna Katharina Hahn hat „Aus und davon“ verfasst. Ich muss gestehen, dieser Roman war nicht meins, obwohl ich den Klappentext recht ansprechend fand. Wenn man es schafft, und die ersten 70/80 Seiten gelesen hat, merkt man schnell dass das weitere lesen wahrlich Zeitverschwendung ist. Die …
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Anna Katharina Hahn hat „Aus und davon“ verfasst. Ich muss gestehen, dieser Roman war nicht meins, obwohl ich den Klappentext recht ansprechend fand. Wenn man es schafft, und die ersten 70/80 Seiten gelesen hat, merkt man schnell dass das weitere lesen wahrlich Zeitverschwendung ist. Die Figuren wirken alle unrealistisch, die gesamten Situationen wirken wirr und kein bisschen realitätsnah. Alle Akteure geben ein Bild ab, welches wirklich nur schwer zu durchschauen/zu verstehen ist. Hier ist man ständig nur mit dem Kopf am schütteln dabei...Solch eine Erkenntnis beim lesen zu erhalten, ist für mich reichlich ermüdend. Cornelias Auszeit klingt nach Midlife-Crisis und Ehe-Knatsch, Elisabeth will es sich selbst nochmal beweisen, Bruno nutzt alles und jeden aus und Stella? Da will ich gar nicht näher darauf eingehen...Der Roman bleibt mir als sehr gähnend langweilig in Erinnerung und mit dem Endergebnis, das ein weißes Blatt Papier mehr Aussagekraft hat, als diese Geschichte.
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Hier geht es um Cornelia, eine Frau in ihren Vierzigern, geschieden, Mutter und Physiotherapeutin. Und um ihre Mutter Elisabeth, die bei den Kindern in Stuttgart blebt, während sich Cornelia in die Staaten begibt, um einem Kapitel der Familiengeschichte nachzuspüren.
Sie ist nicht nur …
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Hier geht es um Cornelia, eine Frau in ihren Vierzigern, geschieden, Mutter und Physiotherapeutin. Und um ihre Mutter Elisabeth, die bei den Kindern in Stuttgart blebt, während sich Cornelia in die Staaten begibt, um einem Kapitel der Familiengeschichte nachzuspüren.
Sie ist nicht nur von Cornelia verlassen worden, sondern auch von ihrem Mann Hinz, der nach einem Schlaganfall die Reha in Richtung einem neuen Leben verlässt und zum Kurschatten zieht.
Dazwischen sind mythenartige Sequenzen gepackt, die ein älteres Kapitel der Familiengeschichte beleuchten.
Schöne neue Welt - die scheint sich den Männern: Elisabeths Mann Hinz und Cornelias Exmann Dimi zu eröffnen, denen sich beiden neue Möglichkeiten eröffnen, doch was ist mit den dazu gehörenden Frauen? Müssen sie sehen, wo sie bleiben?
Autorin Anna Katharina Hahn kümmert sich um alle Generationen, auch Cornelias Kindern Bruno und Stella wird genug Aufmerksamkeit gewidmet - eine Familiengeschichte der anderen, der modernen Art. Eben ein ganz normales Familienleben in Stuttgart und drum herum. Ein Schwabenleben.
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