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Benutzername: 
sursulapitschi
Wohnort: 
Hannover

Bewertungen

Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 01.03.2021
Der Zirkus von Girifalco
Dara, Domenico

Der Zirkus von Girifalco


gut

Nach Beenden dieses Buches bin ich ein wenig ratlos, wie man so etwas beurteilen soll. Es ist ein besonderes Buch, auf jeden Fall, gekonnt erzählt, sehr eigen und sehr italienisch. Es ist aber auch eine echte Herausforderung.

Kurz vor Mariä Himmelfahrt verfährt sich der Zirkus Engelmann und landet in dem kleinen Ort Girifalco in Kalabrien. Bis es so weit ist, gehen allerdings knapp 100 Seiten ins Land, in denen wir einige Bewohner des Städtchens gründlichst kennenlernen. Da ist Lulù, der Verrückte, der im Irrenhaus lebt, aber tagsüber durch die Straßen strolcht, Don Venanziu, der Schneider und Tröster gelangweilter Ehefrauen, Cuncettina, die Vertrocknete, die einfach nicht schwanger wird oder Rorò, die glückliche Bäckerin, der einfach alles gelingt.

Als der Zirkus über die Feiertage dort aufschlägt, geraten Dinge in Bewegung. Veränderung liegt in der Luft und heißt es nicht eh, dass Wunder geschehen können zu hohen Festen? Archidemu, der Stoiker, sieht Hinweise in der Sternenkonstellation, die Reliquien werden hervorgeholt und ausgestellt, auch das hat doch immer Auswirkungen.

Domenico Dara spielt hier liebevoll mit Typen und Stereotypen, mit Vorurteilen und den Eigenarten italienischer Originale. Er hat aber auch die Weitschweifigkeit für sich entdeckt, kultiviert und zur Meisterschaft erhoben und zelebriert sie in diesem Buch beeindruckend.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich so eine Erzählweise tolldreist, nervtötend oder genial finde. Es ist kreuzkomisch aber auch eine Geduldsprobe und bringt den Leser an seine Grenzen. Ich habe mich köstlich amüsiert, nachdem ich die Phase der Verzweiflung überwunden hatte, kann aber auch verstehen, wenn manch einer zwischenzeitlich das Handtuch schmeißt.

Auf jeden Fall ist es ein Buch, das seinesgleichen sucht und das man so schnell nicht vergisst. Es ist wirklich schwer, so etwas zu bewerten. Drei Sterne sind eigentlich zu wenig, aber vier Sterne verharmlosen dann doch die Problematik… es bekommt von mir drei Sterne und meine Hochachtung für meisterliche Erzählkunst und Unverfrorenheit.

Bewertung vom 11.02.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


sehr gut

Schnörkelloser Ausflug nach Korea

So ein Buch bekommt man nicht oft zu lesen.

Jiyoung ist eine junge Mutter, die sich plötzlich merkwürdig verhält. Ihr Psychiater erzählt von ihrer Situation und von ihrem Leben und holt dabei ganz weit aus.
Jiyoung hat schon als Kind gelernt, dass Männer wichtiger sind. Ganz selbstverständlich wurden Vater und Bruder bevorzugt behandelt. In der Schule, beim Studium, im Beruf, überall finden die absurdesten Ungerechtigkeiten statt, die die koreanische Gesellschaft als ganz normal zu empfinden scheint. Trotz bester Noten konnte sie nicht ihren Wunschberuf ergreifen und ihrer Mutter ist es nicht besser ergangen.

Sehr sachlich wird hier Jiyoungs Familiengeschichte ausgerollt. Ihre Mutter wäre gerne Lehrerin geworden, musste aber schon mit 14 Jahren Geld verdienen, damit die Brüder studieren konnten. Sie hat am eigenen Leib erfahren, was Mädchen zu erdulden haben und unterstützt ihre Töchter, wo sie kann. Trotzdem hat sie nur wenig Einfluss.

„Laut einer Statistik aus dem Jahr 2014 verdienen Frauen OECD-weit umgerechnet 844 Dollar auf 1000 Dollar Einkommen der Männer, in Korea sind es lediglich 633 Dollar. Auch auf dem Index zur Gläsernen Decke, den die englische Zeitschrift Economist im Jahr 2016 veröffentlichte, steht Südkorea auf dem letzten Platz der untersuchten Staaten und ist damit das Land, in dem Frauen am härtesten arbeiten müssen.“

Ohne Zweifel behandelt dieses Buch ein wichtiges Thema, deckt haarstäubende Missstände auf, die sogar heute noch viele koreanische Frauen klaglos hinzunehmen scheinen, weil sie gelernt haben, sich nicht zu beschweren.

Literarisch ist es allerdings keine Sensation. Der Erzählstil ist nüchtern, berichtend, was natürlich zu einem erzählenden Psychiater passt, nur ein Vergnügen ist das Lesen eher nicht. Ich habe schon Sachbücher in einem geschliffeneren Stil gelesen.
Auch der Plot ist raffinierter gemeint als ausgeführt. Es wäre eindrucksvoll und plausibel, Jiyoung beim Verrückwerden zuzusehen, nur findet die Entwicklung dahin kaum statt. Irgendwann ist es eben so, man kann es ihr nicht verdenken, aber ein geniales Buch hätte das fühlbar gemacht.

Ich kann gut verstehen, dass so ein Buch in Korea große Wellen schlägt, scheint doch allein schon der Protest ungehörig für eine Frau zu sein, selbst heute noch. Es ist ein aufschlussreiches Buch, von dem ich mir gewünscht hätte, dass es ein klein wenig mehr berührt. Ein lohnenswerter Ausflug nach Korea war es trotzdem.

Bewertung vom 02.02.2021
Der Klang der Wälder
Miyashita, Natsu

Der Klang der Wälder


weniger gut

Erst Kunst, dann Kitsch

Ich hatte von diesem Buch Originelles erwartet und eigentlich bekommt man das auch. Es gibt bestimmt nicht so viele Bücher über Klavierstimmer.
Bis zur Hälfte des Buches war ich auch recht angetan. Es ist sanft, poetisch und sehr japanisch und die Idee ist hübsch.
Tomura möchte unbedingt Klavierstimmer werden, seitdem er einmal einem wirklichen Könner dieses Berufs in seiner Schulturnhalle begegnet ist. Als Itadori-san den Schulflügel erklingen ließ, meinte Tomura plötzlich die Wälder seiner Heimat vor sich zu sehen. Und nun brennt er dafür, auch diese Fertigkeit zu erlangen, steht aber noch ganz am Anfang seiner Ausbildung.
Er lernt von unterschiedlichen Meistern unterschiedliche Ansätze kennen und macht sich viele Gedanken über das Wesen der Kunst und der Musik. Ist ein Pianist erst ein Künstler, wenn er Konzertsäle füllt oder sollte man auch den bewundern, der sich selbst vergessen kann, wenn er alleine zu Hause für sich spielt? Ist ein Klavierstimmer auch ein Künstler oder ein Dienstleister? Und kann und sollte jedes Klavier den Klang der Wälder seiner Heimat hervorrufen können?
„Hell, ruhig und klar, an wehmütige Erinnerungen rührend, zugleich aber mit einer milden Strenge in die Tiefe gehend. Schön wie ein Traum und greifbar wie die Wirklichkeit.“ So sollte Literatur sein, hat der Schriftsteller Takimi Hara gesagt, aber gleichzeitig könnte man so doch den idealen Klang beschreiben.
Über all das macht man sich hier Gedanken, höchst japanisch, elegant geblümt, zurückhaltend kunstvoll und ein klein wenig lieblich. Es ist klug und erbaulich, wird dann auf Dauer aber doch etwas lang, wenn sich die Betrachtungen zusammen mit der sparsamen Handlung dann irgendwann nur noch im Kreis drehen.
Die recht blumige Erzählweise ist ungewohnt, aber natürlich auch japanisch-poetisch. Ich konnte sie die meiste Zeit sozusagen touristisch konsumieren, bis es zum Ende hin dann leider doch in wirklich üblen Kitsch abgleitet.
Mit diesem Buch macht man einen netten Ausflug nach Japan, schnuppert an Kunst und der Liebe zur Musik, allerdings habe ich den Eindruck, es war dann doch nicht ganz seinem Anspruch gewachsen. Die schöne Idee verpufft irgendwo unterwegs.

Bewertung vom 19.12.2020
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


ausgezeichnet

Liest sich von selbst

Mein erstes Buch von Rachel Joyce hat mir gezeigt, dass nicht jeder Hype unberechtigt ist und dass man durchaus mit Stereotypen arbeiten kann, wenn man es kann. Rachel Joyce ist eine Meisterin.
Hier lernt man Margery Benson kennen, 47 Jahre alt, Lehrerin, groß, korpulent, unbeholfen, mit lilanem Kleid und vernünftigem Schuhwerk, eine alte Jungfer aus dem Bilderbuch, die aufgerüttelt wird und plötzlich mehr vom Leben will. Sie trifft auf Enid Pretty, die blondgefärbte Quasselstrippe mit Rechtschreibproblem und Pompon-Sandalen, das perfekte Gegenklischee.
Und während man dazu ansetzt, mit den Augen zu rollen darf man dann lesen: „…ihre lackierten Nägel sahen aus wie Bonbons mit flüssigem Kern.“ oder „Sie trug ein Kleid mit vielen weißen Rüschen. Margery hatte den Eindruck, sich mit einer Hochzeitstorte zu unterhalten.“
Das ist reizend und entzückend und so wunderbar selbstironisch, dass man diesem Buch einfach alles verzeiht, was man sonst als Plattitüde gebrandmarkt hätte.
Man begleitet Margery und Enid auf ihrer abenteuerliche Reise nach Neukaledonien, wo es so hübsch chaotisch ist, dass man sofort hinfahren möchte.
Dieses Buch liest sich von selbst. Ja, es ist vieles sehr überzogen, schwarz- weiß gemalt, absolut unrealistisch und trotzdem so wundervoll erzählt, dass ich mich weigere, dieses Buch mit Logik und Vernunft zu beurteilen.
Es ist eigentlich ein abenteuerliches Märchen, das warmherzig von ein paar Einzelgängern erzählt, die mit Mut und Witz zu sich selbst finden, eine Ode an den Mut, Neues zu wagen und sein Glück zu suchen, auch wenn es unerreichbar zu sein scheint.
Ich habe überlegt, ob ich einen Stern abziehe für ein bisschen zu viel dies und das, hier und da, aber ich tue es nicht! Nein. Fakt ist, mir hat schon lange kein Buch mehr so viel Spaß bereitet.

Bewertung vom 25.09.2020
Zugvögel
McConaghy, Charlotte

Zugvögel


weniger gut

Eine Umweltschmonzette

Dieses Buch erstaunt auf ganzer Linie. Es wollte wohl etwas Umweltdystopisches werden, hat aber ziemlich bald den Kurs verlassen und sich verlaufen. Was es letztendlich ist, kann ich gar nicht genau sagen. Auf jeden Fall spart es nicht mit großen Gefühlen.


Da ist Franny, die tief trauert, die im Gefängnis war und die den Küstenseeschwalben folgt. Entgegen der Behauptung der Buchbeschreibung ist sie weder Ornithologin noch strebt sie irgendwelche tierschützenden Maßnahmen an. Sie hat ganz andere Gründe, sich in die Arktis aufzumachen. Das ist das Rätsel, das den Leser bei der Stange hält, während es hier auf mehreren Zeitebenen zur Sache geht. Es liegen so einige Rätsel auf dem Tisch. Nur werden die im Verlauf des Geschehens eher mehr als weniger.

Die Reise und der Tierschutz sind eigentlich nur der Aufhänger, Frannys Vergangenheit und ihre große Liebe aufzuarbeiten, mit großen Gefühlen und einigem Pathos, wobei sie damit nicht alleine ist. Auch der Kapitän des Schiffes hat sein Päckchen zu tragen, hat riesige Hände und ist doch so hilflos.

Was als abenteuerliche Dystopie begann mutiert zur allgemeinen Elegie über verlorene Liebe, Weltschmerz und das Sterben der Natur. An Dramatik und Kitsch wird nicht gespart. Zum Ende hin gibt es noch ein bisschen Action und eine halbgare Auflösung.


Dieses Buch ist eine pathetisch geschriebene Schmonzette und tarnt das mit ordentlich Seeluft, ein bisschen Umweltkatastrophe und ganz viel Betroffenheit. Ich weiß nicht, womit ich gerechnet habe, damit auf jeden Fall nicht.
Das Hörbuch wird sehr schön gelesen, dafür gibt es den zweiten Stern, allerdings keine Leseempfehlung.

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.09.2020
INFINITUM - Die Ewigkeit der Sterne
Paolini, Christopher

INFINITUM - Die Ewigkeit der Sterne


weniger gut

Ambitioniert, aber unausgegoren

Natürlich müssen echte Eragon Fans dieses Buch lesen. Und natürlich ist von vornherein klar, dass es absolut gar nichts mit Eragon zu tun hat, ja, dass es noch nicht einmal Fantasy ist. Allerdings erwartet man doch, dass es einen nach wenigen Seiten packt und man dann dieses Buch verschlingt. Nichts davon wird hier eingelöst.

Im Jahr 2257 leben Menschen auf unterschiedlichsten Planeten. Kira, eine Xenobiologin, erkundet dazu neue Lebensräume. Auf einer ihrer Missionen hat sie eine Begegnung der dritten Art, die sie verändert und die offensichtlich einen interstellaren Krieg auslöst.
Warum die Dinge so sind, wie sie sind, wird dabei nicht hinlänglich klar. Es steht lose die Idee einer uralten Spezies im Raum, deren Fähigkeiten auf Kira übergegangen sind. Tatsächlich muss die Menschheit aber mit Angriffen diverser Monsterwesen fertig werden.


Leider habe ich auch nach 950 Seiten nicht verstanden, was diese „Jellys“ überhaupt wollten. Sie sind ekelig, glibberig und böse, hätten durchaus Raum für eine eigene Welt nebst Background gehabt, das gönnt uns der Autor aber nicht. Es fallen lediglich ein paar Andeutungen.

Da trifft man schon mal echte Aliens und lernt so gut wie nichts über sie. Im Wesentlichen fliegen wir durch das All, meistens im Kryoschlaf, um ab und an aufzuwachen und blutige Kämpfe zu bestehen. Die ständige Frage: „Alles ok?“ beschäftigt die Crew des Raumschiffs und natürlich ist immer alles ok, auch wenn das Blut in Strömen fließt.

Mein persönliches Highlight: „Ist dein Arm in Ordnung?“ – „Ja, ich kann ihn nur nicht mehr bewegen.“

Immerhin lernt man doch ein paar Absonderlichkeiten kennen, die dann mit putzigen Namen versehen werden. Vermutlich sollte ein archaischer Eindruck entstehen, es klingt aber eher hilflos komisch, wenn dann Kiras Saat gegen den Schlund und den Tumor kämpft, die Jellys einen Nahduft des Hohns verströmen und Artefakte in Whirlpools gefunden werden.

Dieses Werk ist ambitioniert, aber unausgegoren. Es wollte eine Welt erschaffen, die Dimensionen sprengt, schafft es aber nicht, sie mit Leben zu füllen. Am Ende steht ein kruder Entwurf im Raum, der mit viel Pathos und Pseudophilosophie Altes mit Neuem verbinden will, dabei aber zu schwammig bleibt, um zu überzeugen.

Den zweiten Stern gibt es für Gregorovich, das sarkastische Schiffsgehirn, mit Nervenzusammenbruch, den einzigen Protagonisten mit Profil.

Bewertung vom 17.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


sehr gut

Island spezial
Bei diesem Buch fragt man sich lange, ist es ein Krimi, eine Milieustudie oder der Schicksalsbericht eines Außenseiters. Dieses Buch ist anders.
Es ist nicht viel los im isländischen Raufarhöfn. Man fängt seinen Fisch, man kennt sich und man toleriert gegenseitig seine Eigenarten. Sogar Kalmann, der wirklich eigen ist, wird dort akzeptiert. Er ist in Raufarhöfn aufgewachsen und macht den zweitbesten Gammelhai nach seinem Großvater. Allein dafür gebührt ihm Anerkennung.
Mit der Beschaulichkeit des Dorfes ist es vorbei, als Kalmann auf der Jagd eine riesige Blutlache entdeckt. Der Hotelbesitzer wird vermisst. Besteht da ein Zusammenhang?
Das Buch besticht durch sein ungewöhnliches Setting und seine originellen Figuren. Man bekommt eine geballte Prise Seeluft, Island aus Insidersicht, knurrige Originale und Kalmann, den unfreiwilligen Helden mit Handicap, der einem ans Herz wächst, obwohl er nur selten herzerfrischend ist, dazu noch ein paar Rätsel und ordentlich Fisch.
Kalmann berichtet persönlich, ist gelegentlich etwas weitschweifig, aber man verzeiht es ihm gerne, lernt man doch ausführlich Land und Leute kennen und lernt sogar einiges dabei.
Einzig die Auflösung fand ich etwas sehr konstruiert. Hier hat der Autor ein raffiniertes Geheimnis entwickelt, wo ich mir Selbstverständlicheres gewünscht hätte.
Aber sei es drum: „Kalmann“ ist ein wirklich unterhaltsames Buch, das fesselt und Genregrenzen sprengt.

Bewertung vom 15.08.2020
Omama
Eckhart, Lisa

Omama


sehr gut

Von hyperventilierenden Flitscherln und putschenden Tranklern

Herrje! Wie soll man da jetzt eine Rezension schreiben, wo doch die Autorin gerade der Zankapfel des Corona-lahmen kulturellen Sommerlochs ist. Gibt es da nicht viel Berufenere, die Lisa Eckarts Erstling "Omama" glasklar analysieren werden, um dann zum unwiderlegbaren Schluss zu kommen, dass dieses Werk eine literarische Sensation bzw. wahlweise ein verabscheuungswürdiges Werk einer Rassistin, Anti-Feministin usw. ist. Und wird sich da nicht irgendwann die Waagschale der öffentlichen Meinung unwiderruflich auf die eine oder andere Seite neigen? Und was, wenn ich dann hier ganz falsch liege? Ich habe ja schließlich als einfache Leserin die unmaßgeblichste Stimme in diesem Disput.

Aber wie würde die Autorin sagen: "Nun aber wieder schleunigst zurück zu unserer eigentlichen Geschichte." Nämlich der Geschichte der Großmutter der Autorin, bei der sie die ersten sechs Jahre nach der Geburt gelebt hat (was ich aus Wikipedia weiß, im Buch würden solche Details niemals stehen). Die Geschichte beginnt mit der frühpubertären Großmutter zur Zeit des Einmarschs der Russen in die Steiermark. Und von diesem Zeitpunkt an entwickelt sich ein wirres, faszinierendes und wahlweise er- oder abschreckendes Panoptikum von Niedertracht, Bauernschläue und Geilheit, das uns über die 50er Jahre bis heute führt.

Wobei die eigentliche Geschichte nur einen Teil des Buches ausmacht. Den anderen nehmen Lisa-Eckert'sche Ausführungen ein (man hört die Bühnenfigur, wenn man sie liest). Es sind Variationen über Themen wie: die vier sakralen Säulen der Dorfgemeinschaft (der Depp, der Trinker, der Schönling und die Dorfmatratze), wieso der Österreicher, wo er doch den Deutschen hasst, mit ihm in den Krieg zieht (es sei verraten: es ist wegen der Ungarn), oder wieso Menschen mit außergewöhnlich Namen immer fad sein müssen. Diese Einschübe sind oftmals von einer unglaublichen Wortgewalt und von einem unnachahmlichen Humor. Ich durfte oft laut lachen. Aber über 360 Seiten kann die Autorin das nicht immer durchhalten, deshalb werden die Wortspiele manchmal voraussehbar und gezwungen, und manchmal einfach flach. Und so etwas wie der "cogito interruptus" ist wie eine faule Bohne in einem Pfund guten Bohnenkaffee - ein Stern Abzug!

Mit ihrer Omama verbindet die Autorin offenbar eine Hassliebe. "Seneca schauderte vor ihr, könnte er sehen, wie herzlich egal ihr der eigene Tod ist. Weder ersehnt noch fürchtet sie ihn. Für beides bin ich zuständig." Im dritten Teil, wo die Autorin selbst in die Geschichte eintritt, erahnt man, dass die ersten beiden Teile nicht nur eine wilde Phantasterei und an- wie abstoßerregende Ausschmückung von Familienanekdoten sind, sondern uns den Blick der Autorin vor Augen führen. Da ist man ab und zu auch berührt von der Geschichte, obwohl die Autorin sicher abstreiten würde, solch eine Befindlichkeit auslösen zu wollen. Und keine Sorge: sie bleibt sich auch in diesem Teil treu: Es wimmelt von Zumpferln, Tutteln und Popscherln (das sind primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale auf Österreichisch), von Brunzerei und anderen Exkrementen, politischer Unkorrektheit und wilden Gewaltphantasien.
Das Buch kann einen faszinieren, ekeln, langweilen und fesseln. Ich habe es gerne gelesen und würde es wieder tun.

Bewertung vom 13.01.2020
Violet
Chevalier, Tracy

Violet


ausgezeichnet

Öffnet Augen

Nach dem letzten Buch von Tracy Chevalier habe ich mir einen Goldpepping in den Garten gepflanzt. Jetzt möchte ich sticken lernen. Die Autorin ist vielseitig und kann Begeisterung für Themen wecken, auf die man nie gekommen wäre.
Mit diesem Buch zeigt sie, dass wir in Sachen Emanzipation doch schon dazugelernt haben.

1932 war der letzte Krieg zwar vorbei, trotzdem hatte die Bevölkerung noch mit den Folgen zu kämpfen. Violet hat zum Beispiel ihren Verlobten verloren und ist „sitzengeblieben“, 38 Jahre alt, keinen Mann abbekommen und muss in der Zeitung lesen, wie man über den Frauenüberhang witzelt.
Irgendwann hält sie es nicht mehr aus daheim mit ihrer Mutter, der man nichts rechtmachen kann, und zieht nach Winchester, besorgt sich einen Job, ein Zimmer und tritt der Stickgruppe bei, die die kunstvollen Sitzkissen für die Kathedrale gestaltet.

Eigentlich geht es um nicht viel. Eine Frau möchte ein selbstbestimmtes Leben, was nicht verboten ist, aber überall misstrauisch beobachtet wird. Die Vermieterin kontrolliert Telefonate, Besuch und den Kohlenkonsum, alleine essen gehen ist ein Spießrutenlauf, abends ausgehen höchst anrüchig und Bruder und Mutter erwarten ganz selbstverständlich, dass Violet immer zur Verfügung steht, hat sie doch keine eigene Familie zu versorgen. Nur beim Sticken kann Violet abschalten, eine kontemplative Tätigkeit, die ihr Freude bereitet, gesellschaftlich anerkannt ist und bei der Schönes entsteht.

Nichts davon ist neu, es ist auch keine große Geschichte, die einen in Atem hält, allerdings habe ich dieses Thema noch nie so komprimiert vor Augen geführt bekommen. Violets Leben ist trist und leidvoll, auch wenn sie nichts Offensichtliches zu erleiden hat. Es geht um gesellschaftliche Normen, bei denen alleinstehende Frauen nicht vorgesehen sind, Engstirnigkeit, ein Frauenbild, das Frauen irgendwo zwischen Kindern und Haustieren ansiedelt. Das ist tragisch und schockierend, wenn auch kein Pageturner. Im Mittelteil zieht es sich ein klein wenig.
Ein bisschen aufgelockert wird das Geschehen durch eine sehr zaghafte Liebelei, bei der man Interessantes über Glocken und den Beruf eines Glöckners lernt.

Dieses Buch ist beeindruckend, fesselnd und lenkt dem Blick auf ein Thema, was öfter am Rande wahrgenommen, aber selten direkt beleuchtet wird. Es öffnet Augen.

Bewertung vom 26.02.2018
Frau Einstein / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.1
Benedict, Marie

Frau Einstein / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.1


gut

Zu viel Kitsch, zu viel Schmalz

Bücher über die Frauen berühmter Männer sind gerade angesagt. Ich meide sie eigentlich, weil sie oft nur Schmachtfetzen sind, die durch den realen Hintergrund Seriosität versprechen, es dann aber nicht einlösen.
Bei diesem Buch dachte ich eigentlich, dass Mileva Marić als eigenständige Wissenschaftlerin ausreichend Gewicht hat, ein spannendes Buch zu tragen und grundsätzlich hat sie das auch. Sie war eine außergewöhnliche Frau, ihre Geschichte ist erzählenswert. Leider macht Marie Benedict doch ein Rührstück daraus.


Zunächst liest es sich nett. Es ist kurz vor der Jahrhundertwende. Die junge Mileva ist klug, zu klug für eine Frau und beginnt in Zürich Mathematik und Physik zu studieren, weil das zu Hause in Serbien für Frauen nicht möglich ist. Dort lernt sie Albert Einstein kennen und lieben und mit diesem Moment wird die Geschichte gar zu herzig.

"Ich würde ihren kleinen ernsten Mund gerne noch öfter zum Lächeln bringen." sagt zum Beispiel der Herr Einstein. Das ist süß und hat den Charme von Försters Pucki, nichts gegen Pucki, aber hier fließt plötzlich das Schmalz in Strömen. Sie haben zahlreiche Kosenamen füreinander, das ist nett. Wenn aber nahezu jeder Satz damit verziert wird, bekommt das Ganze eine komische Note. -Möchtest du noch Kaffee, Jonkerl? Ja, gerne, mein Daxerl.- Hier wird das Lesen nahezu unerträglich, man beginnt zügig weiterzublättern und verpasst dabei nichts.

Die Liebesgeschichte zwischen den beiden nimmt etwa zwei Drittel des Buches ein. Ja, es ist nicht einfach, ist er doch Jude und sie Serbin. Die Familien sperren sich, einen Job hat er auch noch nicht, dabei ist sie schon schwanger. Skandalös. Skandale sind nicht förderlich, wenn man versucht beruflich Fuß zu fassen. Man hat es längst verstanden, aber die Autorin walzt es aus.

Wirklich interessant wird es eigentlich erst später. Wie viel Anteil hat Mileva an Alberts Relativitätstheorie? Hat ein kluger Egomane eine geniale Frau über den Tisch gezogen? Diese Ansicht kann man wohl tatsächlich vertreten, wie man schon nach gemäßigtem Gegoogel feststellt.
In diesem Buch ist Einstein ein Monster und Mileva sein Opfer. Mag sein, dass es so war, aber nach den vorangestellten Schmalz-Exzessen hält man diese Sicht für maßlos übertrieben.
Das eigentlich Tragische an der Lebensgeschichte der Mileva Marić wird hier im Schnelldurchlauf und in plattester Schwarz-Weiß-Optik abgehandelt. Die Autorin unternimmt noch nicht einmal den Versuch, die Person Albert Einsteins zu erfassen. Bestimmt war er kein einfacher Mensch, aber irgendwelche Qualitäten wird er schon gehabt haben.

Man muss dem Buch zugute halten, dass es einem Mileva Einstein-Marić tatsächlich nahe bringt, allerdings in einer Art und Weise, die man mögen muss. Für mich war es zu viel Kitsch, zu viel Schmalz und zu viel leidvolle Liebesgeschichte. Daraus hätte man mehr machen müssen.