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Benutzername: 
sursulapitschi
Wohnort: 
Hannover

Bewertungen

Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Ein Geniestreich

Die Geschichte von Wilhelm Tell hat kennt man vielleicht, hat man auf der Bühne gesehen, mehrfach gelesen, gibt es ein Musical? Auf jeden Fall hat man sie noch nicht wirklich miterlebt, bis man dieses Buch gelesen hat.
In lustig altertümelnder Sprache erzählen hier alle Betroffenen persönlich, wie sie die Geschehnisse um Tell und den Apfel erlebt haben, Tells Familie, Nachbarn, der Pfarrer, einige Soldaten und sogar Gessler, der Landvogt, der Blick wechselt ständig. Es ist ein bisschen wie ein Staffellauf, nach zwei-drei Seiten gibt man das Stöckchen an den nächsten weiter. Das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, man muss gut aufpassen, aber es macht Spaß und das Leseerlebnis sehr intensiv.
Es ist erschütternd, wenn man dabei ist, wie betrunkene Habsburger sich durchs Land schlagen, schrecklich, was die einfache Bevölkerung in der Schweiz zu erleiden hatte, herzzerreißend jedes einzelne Schicksal. Dieses Buch entwickelt nach kürzester Zeit Sogwirkung, man kann es nicht mehr aus der Hand legen, ist mittendrin und leidet mit.
Joachim B. Schmidt ist hier ein Geniestreich gelungen. Er schafft es bewundernswert, sich in jede einzelne Figur glaubhaft einzufühlen, verleiht auch der kleinsten Randfigur ein Gesicht und einen Hintergrund und das auf nur 288 Seiten. Dazu vermittelt er eindrucksvoll das Ambiente und den Zeitgeist, Mittelalter in der Schweiz, pur und authentisch, großes Kino!
Und letztlich wird auch nicht nur eine Geschichte erzählt. Man bekommt außerdem vorgeführt, wie Legenden entstehen, wie ein eigenbrötlerischer Bergbauer zum Helden werden kann, den heute noch jeder kennt.
Ich bin tief beeindruckt und würde gerne sieben Sterne verteilen für ein absolutes Ausnahmebuch mit Schleife und Glöckchen.

Bewertung vom 16.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


weniger gut

Zu viel gewollt

Ich war mir bei diesem Buch eigentlich sicher, etwas ganz Außergewöhnliches zu erwischen. (Vielleicht sollte man misstrauisch werden, wenn aus einer Leseprobe Stellen herausgekürzt werden.) Wie kann man nur eine so gute Idee so gründlich in den Sand setzen?

Um Melbourne herum brennt es mal wieder. Der Qualm zieht in die Stadt, während drei Frauen im Theater "Glückliche Tage" von Samuel Becket sehen. – Allein diese Situation ist originell, hat bittere Ironie und zynische Poesie und bietet unendlich viele Möglichkeiten, die eigentlich alle ungenutzt liegen bleiben.

Sie sind ganz unterschiedlich, älter oder jünger, hetero oder auch nicht, mit diversen Hautfarben und diversem Hintergrund, schon das Personal zeigt das Problem dieses Buches: Es will zu viel auf einmal.

Das Theaterstück ist absurdes Theater vom Feinsten, bietet Gedankenanstöße, Raum für Interpretationen und dient den drei Protagonistinnen als Anlass, die Gedanken schweifen zu lassen. Sie beobachten Details, sehen Parallelen zum eigenen Leben, erinnern sich. – Großartige Idee, wenn sie dabei nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen kämen und ihre Lebensgeschichten gute Geschichten bieten würden. Auch in dieser Hinsicht will das Buch zu viel. Man bekommt hier drei Lebensgeschichten geboten, die an Dramatik nichts auslassen. Drei Leben reflektieren alles Elend dieser Welt so gründlich, dass man keine Protagonistin mehr wirklich sieht oder auch nur ernst nehmen kann und anfängt, sich zu langweilen, weil man es nicht schafft, alle drei Sätze lang über etwas anderes betroffen zu sein.

Das Feuer vor der Stadt hat dabei weitgehend symbolischen Charakter. Einzig die Platzanweiserin macht sich gelegentlich Sorgen, alle anderen juckt es nicht, just another Brandherd, wo doch die ganze Welt brennt, die Umwelt verschandelt wird und die Erde in den letzten Zügen liegt.

Meine anfängliche Begeisterung hat ziemlich schnell nachgelassen. Obwohl der Stil ganz spannend, gelegentlich sogar witzig ist, erstickt die gute Idee in unnötig dramatischen Details und langweilt bald. Ein grundsätzlich gut gemeinter Plot verkommt zu sorgsam geplantem Tiefgang und winkt mit der Große-Kunst-Keule. Bei so etwas fühle ich mich als Leserin plump manipuliert.

Die allgemeine Begeisterung für dieses Buch kann ich leider nicht teilen.

Bewertung vom 29.01.2022
Die Gezeiten gehören uns
Vida, Vendela

Die Gezeiten gehören uns


ausgezeichnet

Von Schein und Sein

Über dieses Buch bin ich durch Zufall gestolpert und habe eine Autorin entdeckt, die ich mir merken werde.
Wir sind in Sea Cliff, der noblen Ecke von San Franzisco, irgendwann in den 80ern. Dort wird der Grundstückswert nach der Aussicht bemessen, Meer, Golden Gate Bride oder beides. Und da gehen die Mädchen in Uniform zur Privatschule, auch die 13järige Eulabee und ihre neue Freundin.
Erst meint man, man liest eine simple Schulgeschichte über Teenager und ihre Befindlichkeiten, die angesagten Mädchen und Familien, ein Thema, das wohl schon in reichlich Fernsehserien verarbeitet worden ist. Der Erzählstil hebt es aber auf eine deutlich andere Ebene.
„Maria Fabiola ist eine Bemerkerin, aber auch eine Lacherin. Sie hat ein Lachen, das in ihrem Brustkorb anfängt und wie Flötentöne aus ihrem Mund kommt. Sie ist bekannt für ihr Lachen, weil es das ist, was die Leute ein ansteckendes Lachen nennen, aber ihres funktioniert anders. Ihr Lachen ist ein Lachen, das einen deswegen zum Mitlachen zwingt, weil man nicht will, dass sie alleine lacht.“
Ganz großes Kino!
Wer zählt wie viel und warum, wird hier messerscharf analysiert. Das Lesen ist ein großer Spaß, bis man dann unversehens in einem veritablen Psychodrama landet. Es geht um Schein und Sein, was passiert, wenn jemand an der schönen Fassade kratzt und die Fakten nicht zum Image passen? Eulabee gerät ins Abseits, als sie es wagt, Marie Fabiolas Behauptungen zu widersprechen.
Sie muss erleben, welch üble Auswirkungen Snobismus, Mobbing und Vorurteile haben können und auch wenn hier Schulkinder im Fokus stehen, ist es auch ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft generell.
Natürlich ist das Thema dieses Buches nicht neu, aber es ist noch immer aktuell, weshalb es wohl auch noch immer nötig ist, darauf hinzuweisen. Hier wird es höchst unterhaltsam und anrührend präsentiert, ein tolles Buch, das ich gerne empfehle.

Bewertung vom 29.01.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


sehr gut

Tolles Buch mit schwierigem Mittelteil

Dieses Buch scheint gerade jeder zu lesen und es scheint zu polarisieren. Ich bin tief beeindruckt, habe aber auch zwischendrin darüber nachgedacht, es abzubrechen. 890 Seiten über drei Jahrhunderte bieten Gelegenheit für vielfältige Eindrücke.

Drei eindrucksvolle Geschichten über 300 Jahre bilden fast so etwas wie eine Familiengeschichte, sogar die Geschichte eines Königshauses, nur ist der rote Faden sehr lose geknüpft.

Sie heißen David, Edward und Charles, immer und überall, haben Freunde, Geliebte und Geschwister, die Peter, Ezra oder Eliza heißen. Auch Norris und Aubrey spielen eine Rolle zu jeder Zeit. Das ist witzig und auch anstrengend, dieses Buch zupft am Nervenkostüm des Lesers, erzählt aber auch von Menschen, die einem nahegehen und die Schicksalhaftes erleiden.

Zu Anfang meint man, es würde eine alternative Vergangenheit entworfen, die Folgen haben muss. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nach dem Sezessionskrieg gar nicht so vereinigt, wie wir es kennen. Es gibt sogar einen Freistaat, in dem man frei lieben und heiraten kann, wen man will, solange man die richtige Hautfarbe hat. Ist das der Weg zum Paradies?
Das Thema bleibt dann leider liegen. Wir verabschieden anrührend einen Aidskranken in den Tod, um dann nach Hawaaii zu reisen, wo der Erbe des ehemaligen Königshauses in einem endlosen Brief von seinem verpfuschten Leben erzählt. Dieser Teil ist ein deprimierender Monolog, der mich trotz spannender Thematik sehr gelangweilt hat.

Dann kommt der geniale Teil des Buches. 2093 ist das Leben in Amerika von Regeln bestimmt, die das Infektionsgeschehen diverser Seuchen eindämmen und regulieren sollen. Charlie lebt in einem Überwachungsstaat übelster Sorte, kennt es aber nicht anders.

Wie es dazu kam erfährt man aus Briefen ihres Großvaters, der noch ein anderes Leben kennengelernt hat.

Hier wird zwar kein Corona-Drama erzählt, aber man denkt zwangsläufig an unsere Situation gerade und bekommt mit schrecklicher Konsequenz vorgeführt, was passiert, wenn die falschen Machthaber falsche Ideen verwirklichen.

Nach 890 Seiten hat man viel durchlebt, ist erschüttert und mitgenommen und steht dann da mit der Frage: Und? Was sagt mir das jetzt?

Man kann viel hineinlesen, bekommt aber an keiner Stelle konkrete Hinweise. Die Autorin wollte viel mit diesem Buch, legt viele wichtige Themen auf den Tisch, weigert sich dann aber Stellung zu beziehen. Natürlich muss man nicht jede Botschaft ausformulieren, aber man sollte mit einer winken, wenn man ein Buch schreibt. Hier bekommt man Ansätze serviert und soll die Botschaft selbst finden. Das kann man machen, das muss aber nicht jedem gefallen.

Mir hat es beinahe gefallen.

Bewertung vom 17.09.2021
Systemfehler
Harlander, Wolf

Systemfehler


schlecht

Klischee meets Logiklücke

Bei diesem Buch überraschen mich in erster Linie die vielen positiven Bewertungen. Ist das Thrillerpublikum wirklich so genügsam?

Grundsätzlich ist die Idee interessant. Was wäre, wenn tatsächlich das Internet ausfallen würde? Nicht nur für Stunden, sondern ganz und gar. Nichts geht mehr. Würde dann nicht alles zusammenbrechen, Wirtschaft, Versorgung, Verkehr, Kommunikation?

Diesen Gedanken spielt Wolf Harlander hier durch, ohne ihn groß zu vertiefen.

Wir durchleben die Krise zusammen mit einer Familie, deren Mitglieder klischeehafter nicht sein könnten.

Vater Daniel arbeitet bei einer Games-Firma, die seine Fähigkeiten unterschätzt und ist gestraft mit einer nörgelnden Ehefrau und Kindern, die tumb genug sind, nach überstandenem Flugzeugabsturz nach Cola zu jammern. Oma Renate kämpft sich tapfer durch die Ausnahmesituation, nur wenn sie bei ihrem Biobauern nicht mit Karte bezahlen kann, dann ist es aus mit ihrer Geduld. Und Daniels Schwester Doris ist Ärztin, die uns zeigt, dass heutzutage Leben vom Datenstrom abhängen, wer hätte das gedacht?

Dazwischen versucht ein Ermittlerteam vom BND, den Verursachern der Krise auf die Spur zu kommen. Nelson und Diana sind weitgehend gesichtslos, stören aber auch nicht weiter.

Es werden hier also wacker alle erwartbaren Probleme abgearbeitet, nur über die Logik sollte man nicht weiter nachdenken. Während das Wasser knapp wird und der Strom ausfällt, wird Nelson frischer Kaffee angeboten, wenn er das richtige Büro besucht. Daniels spielsüchtiger Sohn ersteht auf dem Schwarzmarkt einen guten, alten Commodore 64, mit dem man bekanntlich offline zocken konnte. Dass so ein Gerät vermutlich auch Strom benötigt, ist zu vernachlässigen, wie überhaupt die ganze technische Seite dieses Cyberthrillers einen fragwürdigen Retrocharme verströmt. CB-Funkgeräte und „Spezialsoftware“ sind der Schlüssel zum Erfolg, das ist direkt niedlich.

Beim Hören dieses Werkes ist man hin- und hergerissen zwischen Verwunderung und Entsetzen, weil einfach viel zu viel gar nicht sein kann und immer wieder jemand unfassbar dämlich reagiert.

Es mag vielleicht ein wenig unterhalten, wenn man absolut nichts hinterfragt, aber den Blutdruck treibt es nicht in die Höhe.

Das Hörbuch dauert 10 Stunden, 6 Minuten. Ausnahmsweise war ich nicht böse über die Kürzungen. Uve Teschner liest es tapfer. Seine Interpretation von Frauenstimmen ist immer etwas ungewollt komisch, hier aber einmal wirklich passend.

Dieses Buch ist vermutlich mein persönlicher Flopp des Jahres.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.09.2021
Was man bei Licht nicht sehen kann / Vergissmeinnicht Bd.1
Gier, Kerstin

Was man bei Licht nicht sehen kann / Vergissmeinnicht Bd.1


gut

Teenagerliebe mit ein bisschen Fantasy

Ein neues Buch von Kerstin Gier, sogar ein Dreiteiler soll es werden, die Welt hält den Atem an und ich durfte es vorab lesen. Danke!


Quinn und Matilda erzählen uns die Geschichte abwechselnd. Sie sind Teenager, Nachbarn, Schüler derselben Schule und hatten trotzdem nie viel miteinander zu tun, bis Quinn einen schlimmen Unfall erleidet und plötzlich auf Hilfe angewiesen ist.

Während beispielsweise die Edelsteintrilogie auch wunderbar für Erwachsene geeignet ist, merkt man hier sofort, das ist eine Liebesgeschichte ausdrücklich für Teenager. Quinn ist so cool und Matilda sooo süß, das ist wundervoll, fängt aber vermutlich nur einen Teil der Gier-Fans ein.

Die anderen warten auf atemraubende Fantasy, die es auch sicherlich geben wird, nur hier im ersten Band der Reihe tritt sie noch sehr hinter der Liebesgeschichte zurück.

Es ist mysteriös, originell, gruselig und zauberhaft, was sich Frau Gier hat einfallen lassen. Es gibt sprechende Statuen, Wesen aus einer Zwischenwelt, Feen, wie man sie noch nie gesehen hat, Schicksalhaftes, Prophezeiungen, Gefahr und auch Action. Aber über all dem steht hier ganz dick LIIIEEBE, Matildas Grübchen und Quinn mit dem dunkelblauen Kapuzenpulli und der Ukulele (Dunkelblau ist doch einfach DIE Farbe. Ja, teenagerfreundliche Klischees werden hier auch gut bedient).


Also, dieser erste Band der neuen Reihe von Kerstin Gier ist hübsch zum Einleben. Man schnuppert kurz am eigentlichen Thema und wartet darauf, dass es bald losgeht. Hoffentlich.

Bewertung vom 03.09.2021
Harlem Shuffle
Whitehead, Colson

Harlem Shuffle


gut

Tolle Milieustudie - Ein Roman mit Längen

Colson Whitehead kann meisterhaft erzählen. Er kann sich in eine Zeit einfühlen und darin schwelgen, unfassbar detailreich Zeitkolorit und Atmosphäre erschaffen. Leider macht Atmosphäre allein noch kein gutes Buch.

Hier sind wir in Harlem in den 60er Jahren, wo eigene Regeln herrschen und sich Kleinkriminelle oder auch Größere tummeln und wo man sich behaupten muss.

Carney hat ein Geschäft für Gebrauchtmöbel und ab und an auch andere Gebrauchtwaren. Er möchte ein rechtschaffener Geschäftsmann sein, aber das ist nicht so leicht, wie man meint. Immer wieder kommt sein Cousin Freddie mit Ideen oder heißer Ware. Schnell wird man in krumme Dinge hineingezogen, manchmal kann man sich auch freikaufen, bis man sich schließlich freikaufen muss.

In Harlem ist es schwer, ein ehrlicher Mann zu sein und zu bleiben. Die Gesellschaft dort bildet ein kompliziertes Geflecht aus Abhängigkeiten, die sich nach Einfluss, Hautfarbe, Familie oder Muskelkraft richten. Da gibt es nicht nur schwarz und weiß, sondern auch kaffeebraun in allen Schattierungen.

Das ist hoch interessant, so etwa 150 Seiten lang, dann hat man es verstanden, hat aber noch nicht einmal die Hälfte des Buches gelesen. Immer mehr zwielichtige Gestalten treten auf, deren Background beleuchtet wird, aber es passiert nicht so wirklich was.
Es gibt zahlreiche Rückblenden, Hintergründe, familiäre Befindlichkeiten, historische und politische Analysen oder Anekdoten, nur Handlung gibt es kaum.

Vielleicht muss man dieses Buch als Milieustudie betrachten. In dieser Hinsicht ist es grandios. Als Roman hat es Längen. Zu viel Drumherum verschleiern die sparsame Handlung und dem Helden kommt man nicht so recht nahe.

Dieses Buch hat mich anfangs beeindruckt, dann aber sehr gelangweilt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.09.2021
Mein Sternzeichen ist der Regenbogen
Schami, Rafik

Mein Sternzeichen ist der Regenbogen


ausgezeichnet

Kunterbunt und klug

Rafik Shami erzählt Geschichten und zeigt uns, dass er erzählen kann (Ok, wir wussten das schon :-))


In diesem Buch veröffentlicht er eine Sammlung an Geschichten, die sich anfangs mit Geburtstagen beschäftigen. Es ist wirklich witzig, wie ein jüngerer Rafik vergeblich versucht, seinen Geburtstag herauszufinden, der in der syrischen Kultur keinen großen Stellenwert hat. „Mein Sternzeichen ist der Regenbogen“ ist das diplomatische Fazit dieser Suche.

Dann geht es weiter, kunterbunt, quer durch alle Themen dieser Erde. Es gibt Spitzfindiges, Satirisches, Kluges, Albernes, sogar Absurdes oder auch Märchenhaftes.
Wir reisen nach Italien, Syrien, Deutschland, in den Libanon – „aber das ist eine andere Geschichte“.

Wir sinnieren über den Bezug verschiedener Religionen zum Lachen, besuchen ein Festival für Kunstpfurzer, leben, lieben und betrügen und stellen fest: Überleg dir gut, was du dir wünschst, du könntest es bekommen.

Das ist alles fein, klug, unterhaltsam und wunderbar erzählt, es fehlt nur ein wenig der rote Faden, der diese Geschichten verbindet. Sie wirken etwas wahllos zusammengewürfelt.

Das Hörbuch liest Wolfgang Berger souverän 8 Stunden, 39 Minuten lang. Ich hätte mir etwas längere Pausen zwischen den einzelnen Geschichten gewünscht. Man muss sehr aufpassen, wo die eine aufhört und die andere anfängt. Ein musikalisches Zwischenspiel hätte sich da vielleicht gut gemacht – haben wir nicht, schade.

Dieses Buch ist kluge Unterhaltung für Zwischendurch. Ich habe es gerne gehört.

Bewertung vom 03.09.2021
Dreieinhalb Stunden
Krause, Robert

Dreieinhalb Stunden


ausgezeichnet

Lebendige Geschichte

Diese Situation mag man sich gar nicht vorstellen. Da fährt ein Zug von München nach Ostberlin, du weißt, sie bauen eine Mauer und wenn du bis ans Ziel fährst, kommst du nie wieder zurück. In dreieinhalb Stunden ist die Grenze dicht. Osten oder Westen, wo möchtest du leben? Im Interzonenzug D-151 schlägt die Nachricht über den Mauerbau ein wie eine Bombe.

In kürzester Zeit muss eine Lebensentscheidung gefällt werden, das ist nicht leicht. Gerd brennt dafür, Flugzeuge zu bauen, was in der DDR nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste steht. Seine Frau Marlis glaubt noch immer, dass das sozialistische System ein besseres Leben für alle bewirken kann und möchte sich dafür einsetzen. Was machen sie jetzt? Sollen sie sich trennen? Müssen sie sich trennen? Was wird aus den Kindern?

Hier lernt man so einige Menschen kennen und begleitet sie bei dieser schicksalhaften Entscheidung. Sehr lebendig zeichnet Robert Krause einen ganzen Strauß Personal, Lebenswege, die sich kreuzen, die verbunden sind, mal mehr und mal weniger, deren Vergangenheit und Familiengeschichten.
Man wird sofort hineingezogen in dieses Katastrophenszenario, ist ganz nah dran und leidet mit. Die Perspektiven wechseln ständig und sind kunstvoll verknüpft. Man könnte sich über das ein oder andere Bisschen zu viel an Dramatik streiten, das sollen andere tun. :-)

Dieses Buch zeigt einem, wie unfassbar spannend deutsche Geschichte sein kann und führt einem vor Augen, dass selbst in einem zivilisierten, wohlgeordneten Land absurde Entscheidungen zum Tragen kommen können. Wie kann man nur ein Land durch eine Mauer abriegeln?

Der Bau der Berliner Mauer ist heute zum Glück kein Thema mehr, aber auf jeden Fall ein Ereignis, das nicht in Vergessenheit geraten sollte. Dazu liefert dieses Buch einen wertvollen Beitrag, es ist fesselnd und erschütternd, lebendige Geschichte.

Bewertung vom 07.05.2021
Berlin Heat
Groschupf, Johannes

Berlin Heat


ausgezeichnet

Triller mit prophetischem Anstrich

Während andere Autoren fleißig Coronabücher schreiben, ist Johannes Groschupf schon einen Schritt weiter, gibt sich prophetisch und behauptet, Corona ist vorbei. Punkt.
Es ist Sommer, Berlin schwitzt bei mörderischen Temperaturen und gewöhnt sich daran, keine FFP2 Masken mehr tragen zu müssen. Und auch wenn es wohl ein Blick in eine sehr nahe mögliche Zukunft ist, immerhin regiert noch Frau Merkel, kommt es einem vor wie Science Fiction, schräg, gewagt, aber auch hoffnungsvoll.
Die Pandemie ist vorbei, trotzdem hat die Welt noch mit den Folgen zu kämpfen. Es geht noch längst nicht jedem gut und Tom hat Spielschulden bei einem Kredithai. Er ist eine Art Eventmanager, der Touristen Wohnungen mit individuellen Extras vermittelt. Die Coronakrise hat er wenig erfolgreich mit Zocken überbrückt. Ihm steht das Wasser eh schon bis zum Hals, als er auch noch in einen Entführungsfall verwickelt wird.

Es macht großen Spaß, sich in diese Nach-Corona-Zeit hineinzudenken, die der Autor mit Konsequenz und Einfühlungsvermögen detailliert vor uns ausbreitet. (Natürlich sind dann die Bierpreise gestiegen, müssen doch Bars die Defizite aufholen, klar, logisch.) Genauso einfühlsam versetzt er den Leser in die Zockerszene Berlins, wo sich heruntergekommene Gestalten am Rande der Kleinkriminalität bewegen, Drogen aller Arten kursieren und rechte Schlägerbanden aufräumen. Die Szene, die Tom in ihren Fängen hat, ist gnadenlos, genau wie die Spielsucht, die sein Handeln bestimmt.
Dieses Buch entführt einen in die finstersten Ecken und wirkt dabei durch und durch realistisch. Es ist viel auf einmal: Der anrührende Schicksalsbericht eines Zockers, ein spannender Politthriller, lebendiges Berlin und ein prophetischer Ausblick auf das, was uns vielleicht bald erwartet.
Ich bin beeindruckt und nehme mir vor, das Buch in 10 Jahren noch einmal zu lesen, das ist bestimmt aufschlussreich.