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Benutzername: 
sursulapitschi
Wohnort: 
Hannover

Bewertungen

Insgesamt 67 Bewertungen
Bewertung vom 30.01.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Schönes Buch mit Vorbehalt

Eigentlich hat dieses Buch alle Voraussetzungen für ein Lieblingsbuch. Eine fesselnde Idee, ein spannendes Setting, lebendige Figuren und sehr schöne Sprache. Leider hat sich der Plot ein bisschen verlaufen.
Es geht um die Familie Ambacher, die eine sehr wechselvolle Geschichte hat. Umgesiedelt, deportiert, vertrieben oder rückgekehrt. Josef Ambacher landet 1945 als Kind in Sibirien, in Kasachstan. Als Erwachsener verschlägt es ihn und seine Familie nach Mühlhausen in Norddeutschland. Und wo auch immer er lebte war er fremd und musste sich arrangieren.
Vielleicht bin ich mit falschen Voraussetzungen an dieses Buch herangegangen. Ich wollte die entbehrungsreiche Geschichte von Menschen lesen, die nach Sibirien deportiert wurden. Die gibt es hier natürlich auch, aber leider eher am Rande. Die Autorin wollte mehr und erweitert das Thema um einen Handlungsstrang in den 90er Jahren in Mühlheim.
Vergangenheit und Gegenwart greifen kunstvoll ineinander, das ist sehr schön gelöst und die Handlung in Sibirien ist durch und durch fesselnd. Man spürt die Kargheit, die Kälte, die Naturverbundenheit und auch Geheimnisvolles. Die kasachische Kultur ist hoch interessant und ursprünglich. Unter der russischen Knute haben alle zu leiden, Aussiedler und auch Einheimische.
Daneben erzählt Josefs Tochter Leila von ihrer Kindheit in Mühlheim und verliert dabei ein bisschen den Focus. Es liegen große Themen auf dem Tisch: Wie kommen „Rückkehrer“ in Deutschland zurecht? Sie waren in Russland noch nach Jahrzehnten „die Deutschen“ und in Deutschland sind sie „Die Russen“. Auch die zweite Rückkehrerwelle in den 90ern ist hoch spannend.
Das alles wird aber nur gestreift und tritt zurück hinter Leilas Kindheitserinnerungen, die sich hauptsächlich um einen unglücklichen Kinderstreich drehen, den ich durch und durch uninteressant fand, selbst wenn er natürlich, wie vieles in diesem Buch, einen doppelten Boden hat. Ich hatte beim Lesen ein wenig das Gefühl, wir beschäftigen uns mit Nebenschauplätzen und die interessanten Dinge bleiben liegen.
Das originelle, berührende Ende macht allerdings wieder ein bisschen gut.
Das Hörbuch ist sehr empfehlenswert, schön gelesen von Julia Nachtmann und trotz einiger Zeitsprünge nicht zu kompliziert. Es dauert genau 10 Stunden.

Bewertung vom 22.08.2022
Der Mann, der vom Himmel fiel
Tevis, Walter

Der Mann, der vom Himmel fiel


sehr gut

Walter Trevis ist ein Autor mit ungewöhnlichen Ideen, und offensichtlich ein Spezialist dafür, die Situation von Ausnahmemenschen einfühlsam in Szene zu setzen. Nicht nur das, er kann sich auch in Aliens einfühlen, wie man hier lesen kann.

Ein Mann vom Planeten Anthena kommt auf die Erde und hat eine Mission. Er ist den Menschen intellektuell weit überlegen, versucht sich anzupassen und lässt sich dann aber vom allzu Menschlichen vereinnahmen, ein einsamer Alien mit Heimweh in der Zwickmühle. Das ist eine hoch spannende Geschichte, sogar eine Tragödie, die einen mitnimmt und viele Denkansätze liefert.

Der Planet Anthena ist am Ende, ausgetrocknet, sind wir auf dem gleichen Weg und wollen es nicht hören? Und wie sollte man damit umgehen, wenn man auf tatsächlich Aliens treffen würde?

Dieses Buch wurde in den 60er Jahren geschrieben und kommt einem trotzdem sehr aktuell vor. Es liest sich leicht und hat Sogwirkung, obwohl gar nicht so viel passiert. Mir hat es sehr gefallen.

Eine ungewöhnliche Geschichte, die anrührt, einfühlsam und spannend geschrieben, mit ein paar winzigen Längen.

Bewertung vom 22.08.2022
An den Ufern von Stellata
Raimondi, Daniela

An den Ufern von Stellata


sehr gut

Diese umfangreiche Familiengeschichte beginnt im Jahr 1800 mit Giacomo Casadio, der die schöne Viollca heiratet, die mit dem fahrenden Volk nach Stellata kam. Eigentlich dachte man, die passende Frau für ihn gäbe es gar nicht, aber Viollca war da anderer Meinung.

Seitdem haben die Mitglieder der Familie entweder überraschend blaue Augen oder tiefschwarzes Haar und immer wieder hat jemand besondere Fähigkeiten, ist hellsichtig wie Viollca oder kann mit Toten sprechen. Noch Generationen später stellen sie alle ein Schälchen Milch für die Schlange des Hauses vor die Tür. So erklärt bekommen abergläubische Traditionen einen Sinn.

Sie sind alle originelle Menschen in dieser Familie, jede Generation bietet eine spannende Geschichte und erzählt gleichzeitig die Geschichte Italiens bis in die 1990er Jahre hinein. Das macht großen Spaß. Allerdings sind sie auch wirklich viele. Man rast hier durch die Zeit und lernt immer wieder neue Menschen kennen, neue Schicksale und es spricht sehr für dieses Buch, dass man sich trotzdem nicht langweilt. Es ist schön erzählt, einfühlsam, man gewinnt sie alle lieb, bangt mit, leidet mit, staunt, weint und lacht mit. Trotzdem denkt man so etwa in den 1960er Jahren, jetzt ist es genug. Irgendwann sind es dann doch zu viele Figuren. Man verliert den Überblick, da hilft auch der Stammbaum im Anhang nicht viel.

Trotzdem habe ich dieses Buch gerne gelesen. Es ist ein unterhaltsamer Schnellkurs in italienischer Geschichte und Mentalität und zeigt, die vielfältigen Gesichter dieses Landes, das wir nur allzu leicht auf blaues Meer und leckeres Essen reduzieren.

Bewertung vom 22.08.2022
Die Wunder
Medel, Elena

Die Wunder


gut

María und Alicia, Großmutter und Enkelin, verrät uns die Buchbeschreibung und nimmt damit auch das Geheimnis, das dieses Buch bietet. Wir wissen nämlich lange nicht, wer sie sind, diese beiden Frauen, eine jung, eine alt, keine hatte es leicht.

In vielen Rückblenden erfährt man vom Leben der beiden, von ihren Familien, von Schicksalsschlägen, Fehltritten, und wie sie damit umgehen, vom Leben in Madrid und von Spanien im Umbruch.
Das ist eine spannende, leidvolle Geschichte, die mich trotzdem nicht packen konnte. Ich bin mit dem sehr nüchternen, sprunghaften Erzählstil nicht warm geworden.

Zahlreiche Namen und Figuren sind zu verdauen, von denen nur wenige zum Plot beitragen. Lange Monologe und trockene Dialoge wirken zäh, selbst wenn eigentlich Berührendes erzählt wird.

Dieses Buch kann ganz sicher berühren und bereichern, hat Tiefe, Ideen und erzählt eine ungewöhnliche Familiengeschichte. Es ist wohl einfach nicht jederfraus Geschmack. Mir war es zu sperrig und schnörkellos.

Bewertung vom 21.04.2022
Der Papierpalast
Heller, Miranda Cowley

Der Papierpalast


gut

Dieses Buch scheint gerade in aller Munde zu sein und wenn man die Lobeshymnen dazu hört, kommt man wohl nicht daran vorbei. Für meinen Geschmack hält es nicht, was es verspricht.

Im Grunde ist es eine simple Liebesgeschichte: Elle ist verheiratet, hat einen Ehemann und drei Kinder, als sie plötzlich feststellt, dass sie noch Gefühle für ihre Jugendliebe hat. Sie treffen sich noch immer jeden Sommer in Cape Cod, wo sie Ferienhäuser nebeneinander haben und wo sie inzwischen mit ihren Familien aufschlagen. Plötzlich prickelt es, Tür an Tür, ein neues Leben klopft an. Lässt man dafür seine Familie im Stich? Ist es eine neue Chance oder eine alte Chance, die nie genutzt wurde?

Elle und Jonas haben viel zusammen durchgemacht in ihrer Kindheit. In Rückblenden erfährt man deren komplette Familiengeschichte, die geprägt ist von Trennungen, Scheidungen, wechselnden Vätern quer durch die Generationen. Fast könnte man den Eindruck bekommen, dass in Amerika grundsätzlich keine Beziehungen funktionieren, es trifft auch Nachbarn, Freunde und jeden, der da so auftaucht. Kinder spielen keine Rolle in dieser Welt, sie werden im besten Fall ignoriert, wenn nicht gar gequält. Ja, und dann war da noch das Ereignis, das alles veränderte.

Ich fürchte, dieses Buch ist ganz etwas anderes, als ich erwartet habe. Der Stil und der Aufbau sind toll, die Rückblenden geschickt mit der Gegenwart verwoben. Auch das Ambiente wird wunderbar geschildert, in dieser Traumgegend möchte ich auch einmal Urlaub machen.

Nur sind die Figuren durch die Bank unglaubwürdig und die Handlung dürftig, aufgeplustert mit ein paar Dramen aus der Vergangenheit, aber dennoch in Summe dürftig.

Vielleicht kann jemand, der gerne Liebesgeschichten liest, der Sache mehr abgewinnen. Für mich ist das eher viel Lärm um nichts in schöner Sprache.

Bewertung vom 20.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


ausgezeichnet

Diplomatie für Fortgeschrittene

Was machen eigentlich Botschafter genau? Das ist eine Berufsgruppe, mit der man selten zu tun hat und die man nicht wahrnimmt, wenn sie nicht gerade Reisehinweise verfassen. Wie aufreibend, verantwortungsvoll und gefährlich so ein Job ist, zeigt uns Lucy Fricke in diesem Buch.

Fred ist schon seit Jahren Konsulin und kennt sich aus. In ihrer Branche wechselt man alle vier Jahr das Land. Ihr Posten im beschaulichen Montevideo scheint etwas zum Ausruhen zu sein.

Mit köstlichem Humor beschreibt die Autorin das Leben und Lebenlassen in Uruguay, einem Land, das irgendwas zwischen kuschelig und kurios ist. Herrlich zu lesen, wie sich die deutsche Botschaft damit arrangiert, bis ein unglücklicher Zwischenfall erfordert, dass jemand Verantwortung übernimmt. Auch das ist ein Aspekt von Freds Beruf.

Jahre später bekommt sie den Posten in Istanbul und da geht es anders zu. Hier ist dann echte Diplomatie gefragt, wenn einen ein falsches Wort ins Gefängnis bringen kann, Deutsche aus unterschiedlichsten Gründen in Schwierigkeiten geraten und Hilfe von der deutschen Botschaft erwarten. Ein Tanz auf dem Drahtseil. Fred muss plötzlich abwägen, was nötig, was legal und was sinnvoll ist. Und sie selbst ist auch nicht aus Stein.

Dieses Buch ist viel zugleich, ein eindrucksvolles Berufsportrait, beinahe ein Thriller, ein kritischer Blick in die Türkei, die Geschichte einer Frau, die sich in einer Männerdomäne behauptet, wobei auch das Zusammenspiel von Karrierewunsch, Älterwerden, Liebe und Einsamkeit im Alter kommt zum Tragen kommt. Es ist einfühlsam und auch urkomisch, ergreifend und staubtrocken, spannend und originell.

Bettina Hoppe ist eine geniale Sprecherin für das Hörbuch und trifft ganz wunderbar den maliziösen Ton des Textes, ein großer Spaß und ein Erlebnis. Es dauert 5 Stunden, 1 Minute. Ich hätte auch mehr davon vertragen.

Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Ein Geniestreich

Die Geschichte von Wilhelm Tell hat kennt man vielleicht, hat man auf der Bühne gesehen, mehrfach gelesen, gibt es ein Musical? Auf jeden Fall hat man sie noch nicht wirklich miterlebt, bis man dieses Buch gelesen hat.
In lustig altertümelnder Sprache erzählen hier alle Betroffenen persönlich, wie sie die Geschehnisse um Tell und den Apfel erlebt haben, Tells Familie, Nachbarn, der Pfarrer, einige Soldaten und sogar Gessler, der Landvogt, der Blick wechselt ständig. Es ist ein bisschen wie ein Staffellauf, nach zwei-drei Seiten gibt man das Stöckchen an den nächsten weiter. Das ist anfangs gewöhnungsbedürftig, man muss gut aufpassen, aber es macht Spaß und das Leseerlebnis sehr intensiv.
Es ist erschütternd, wenn man dabei ist, wie betrunkene Habsburger sich durchs Land schlagen, schrecklich, was die einfache Bevölkerung in der Schweiz zu erleiden hatte, herzzerreißend jedes einzelne Schicksal. Dieses Buch entwickelt nach kürzester Zeit Sogwirkung, man kann es nicht mehr aus der Hand legen, ist mittendrin und leidet mit.
Joachim B. Schmidt ist hier ein Geniestreich gelungen. Er schafft es bewundernswert, sich in jede einzelne Figur glaubhaft einzufühlen, verleiht auch der kleinsten Randfigur ein Gesicht und einen Hintergrund und das auf nur 288 Seiten. Dazu vermittelt er eindrucksvoll das Ambiente und den Zeitgeist, Mittelalter in der Schweiz, pur und authentisch, großes Kino!
Und letztlich wird auch nicht nur eine Geschichte erzählt. Man bekommt außerdem vorgeführt, wie Legenden entstehen, wie ein eigenbrötlerischer Bergbauer zum Helden werden kann, den heute noch jeder kennt.
Ich bin tief beeindruckt und würde gerne sieben Sterne verteilen für ein absolutes Ausnahmebuch mit Schleife und Glöckchen.

Bewertung vom 16.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


weniger gut

Zu viel gewollt

Ich war mir bei diesem Buch eigentlich sicher, etwas ganz Außergewöhnliches zu erwischen. (Vielleicht sollte man misstrauisch werden, wenn aus einer Leseprobe Stellen herausgekürzt werden.) Wie kann man nur eine so gute Idee so gründlich in den Sand setzen?

Um Melbourne herum brennt es mal wieder. Der Qualm zieht in die Stadt, während drei Frauen im Theater "Glückliche Tage" von Samuel Becket sehen. – Allein diese Situation ist originell, hat bittere Ironie und zynische Poesie und bietet unendlich viele Möglichkeiten, die eigentlich alle ungenutzt liegen bleiben.

Sie sind ganz unterschiedlich, älter oder jünger, hetero oder auch nicht, mit diversen Hautfarben und diversem Hintergrund, schon das Personal zeigt das Problem dieses Buches: Es will zu viel auf einmal.

Das Theaterstück ist absurdes Theater vom Feinsten, bietet Gedankenanstöße, Raum für Interpretationen und dient den drei Protagonistinnen als Anlass, die Gedanken schweifen zu lassen. Sie beobachten Details, sehen Parallelen zum eigenen Leben, erinnern sich. – Großartige Idee, wenn sie dabei nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen kämen und ihre Lebensgeschichten gute Geschichten bieten würden. Auch in dieser Hinsicht will das Buch zu viel. Man bekommt hier drei Lebensgeschichten geboten, die an Dramatik nichts auslassen. Drei Leben reflektieren alles Elend dieser Welt so gründlich, dass man keine Protagonistin mehr wirklich sieht oder auch nur ernst nehmen kann und anfängt, sich zu langweilen, weil man es nicht schafft, alle drei Sätze lang über etwas anderes betroffen zu sein.

Das Feuer vor der Stadt hat dabei weitgehend symbolischen Charakter. Einzig die Platzanweiserin macht sich gelegentlich Sorgen, alle anderen juckt es nicht, just another Brandherd, wo doch die ganze Welt brennt, die Umwelt verschandelt wird und die Erde in den letzten Zügen liegt.

Meine anfängliche Begeisterung hat ziemlich schnell nachgelassen. Obwohl der Stil ganz spannend, gelegentlich sogar witzig ist, erstickt die gute Idee in unnötig dramatischen Details und langweilt bald. Ein grundsätzlich gut gemeinter Plot verkommt zu sorgsam geplantem Tiefgang und winkt mit der Große-Kunst-Keule. Bei so etwas fühle ich mich als Leserin plump manipuliert.

Die allgemeine Begeisterung für dieses Buch kann ich leider nicht teilen.

Bewertung vom 29.01.2022
Die Gezeiten gehören uns
Vida, Vendela

Die Gezeiten gehören uns


ausgezeichnet

Von Schein und Sein

Über dieses Buch bin ich durch Zufall gestolpert und habe eine Autorin entdeckt, die ich mir merken werde.
Wir sind in Sea Cliff, der noblen Ecke von San Franzisco, irgendwann in den 80ern. Dort wird der Grundstückswert nach der Aussicht bemessen, Meer, Golden Gate Bride oder beides. Und da gehen die Mädchen in Uniform zur Privatschule, auch die 13järige Eulabee und ihre neue Freundin.
Erst meint man, man liest eine simple Schulgeschichte über Teenager und ihre Befindlichkeiten, die angesagten Mädchen und Familien, ein Thema, das wohl schon in reichlich Fernsehserien verarbeitet worden ist. Der Erzählstil hebt es aber auf eine deutlich andere Ebene.
„Maria Fabiola ist eine Bemerkerin, aber auch eine Lacherin. Sie hat ein Lachen, das in ihrem Brustkorb anfängt und wie Flötentöne aus ihrem Mund kommt. Sie ist bekannt für ihr Lachen, weil es das ist, was die Leute ein ansteckendes Lachen nennen, aber ihres funktioniert anders. Ihr Lachen ist ein Lachen, das einen deswegen zum Mitlachen zwingt, weil man nicht will, dass sie alleine lacht.“
Ganz großes Kino!
Wer zählt wie viel und warum, wird hier messerscharf analysiert. Das Lesen ist ein großer Spaß, bis man dann unversehens in einem veritablen Psychodrama landet. Es geht um Schein und Sein, was passiert, wenn jemand an der schönen Fassade kratzt und die Fakten nicht zum Image passen? Eulabee gerät ins Abseits, als sie es wagt, Marie Fabiolas Behauptungen zu widersprechen.
Sie muss erleben, welch üble Auswirkungen Snobismus, Mobbing und Vorurteile haben können und auch wenn hier Schulkinder im Fokus stehen, ist es auch ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft generell.
Natürlich ist das Thema dieses Buches nicht neu, aber es ist noch immer aktuell, weshalb es wohl auch noch immer nötig ist, darauf hinzuweisen. Hier wird es höchst unterhaltsam und anrührend präsentiert, ein tolles Buch, das ich gerne empfehle.

Bewertung vom 29.01.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


sehr gut

Tolles Buch mit schwierigem Mittelteil

Dieses Buch scheint gerade jeder zu lesen und es scheint zu polarisieren. Ich bin tief beeindruckt, habe aber auch zwischendrin darüber nachgedacht, es abzubrechen. 890 Seiten über drei Jahrhunderte bieten Gelegenheit für vielfältige Eindrücke.

Drei eindrucksvolle Geschichten über 300 Jahre bilden fast so etwas wie eine Familiengeschichte, sogar die Geschichte eines Königshauses, nur ist der rote Faden sehr lose geknüpft.

Sie heißen David, Edward und Charles, immer und überall, haben Freunde, Geliebte und Geschwister, die Peter, Ezra oder Eliza heißen. Auch Norris und Aubrey spielen eine Rolle zu jeder Zeit. Das ist witzig und auch anstrengend, dieses Buch zupft am Nervenkostüm des Lesers, erzählt aber auch von Menschen, die einem nahegehen und die Schicksalhaftes erleiden.

Zu Anfang meint man, es würde eine alternative Vergangenheit entworfen, die Folgen haben muss. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nach dem Sezessionskrieg gar nicht so vereinigt, wie wir es kennen. Es gibt sogar einen Freistaat, in dem man frei lieben und heiraten kann, wen man will, solange man die richtige Hautfarbe hat. Ist das der Weg zum Paradies?
Das Thema bleibt dann leider liegen. Wir verabschieden anrührend einen Aidskranken in den Tod, um dann nach Hawaaii zu reisen, wo der Erbe des ehemaligen Königshauses in einem endlosen Brief von seinem verpfuschten Leben erzählt. Dieser Teil ist ein deprimierender Monolog, der mich trotz spannender Thematik sehr gelangweilt hat.

Dann kommt der geniale Teil des Buches. 2093 ist das Leben in Amerika von Regeln bestimmt, die das Infektionsgeschehen diverser Seuchen eindämmen und regulieren sollen. Charlie lebt in einem Überwachungsstaat übelster Sorte, kennt es aber nicht anders.

Wie es dazu kam erfährt man aus Briefen ihres Großvaters, der noch ein anderes Leben kennengelernt hat.

Hier wird zwar kein Corona-Drama erzählt, aber man denkt zwangsläufig an unsere Situation gerade und bekommt mit schrecklicher Konsequenz vorgeführt, was passiert, wenn die falschen Machthaber falsche Ideen verwirklichen.

Nach 890 Seiten hat man viel durchlebt, ist erschüttert und mitgenommen und steht dann da mit der Frage: Und? Was sagt mir das jetzt?

Man kann viel hineinlesen, bekommt aber an keiner Stelle konkrete Hinweise. Die Autorin wollte viel mit diesem Buch, legt viele wichtige Themen auf den Tisch, weigert sich dann aber Stellung zu beziehen. Natürlich muss man nicht jede Botschaft ausformulieren, aber man sollte mit einer winken, wenn man ein Buch schreibt. Hier bekommt man Ansätze serviert und soll die Botschaft selbst finden. Das kann man machen, das muss aber nicht jedem gefallen.

Mir hat es beinahe gefallen.