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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sursulapitschi
Wohnort: 
Hannover

Bewertungen

Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 17.09.2020
Kalmann
Schmidt, Joachim B.

Kalmann


sehr gut

Island spezial
Bei diesem Buch fragt man sich lange, ist es ein Krimi, eine Milieustudie oder der Schicksalsbericht eines Außenseiters. Dieses Buch ist anders.
Es ist nicht viel los im isländischen Raufarhöfn. Man fängt seinen Fisch, man kennt sich und man toleriert gegenseitig seine Eigenarten. Sogar Kalmann, der wirklich eigen ist, wird dort akzeptiert. Er ist in Raufarhöfn aufgewachsen und macht den zweitbesten Gammelhai nach seinem Großvater. Allein dafür gebührt ihm Anerkennung.
Mit der Beschaulichkeit des Dorfes ist es vorbei, als Kalmann auf der Jagd eine riesige Blutlache entdeckt. Der Hotelbesitzer wird vermisst. Besteht da ein Zusammenhang?
Das Buch besticht durch sein ungewöhnliches Setting und seine originellen Figuren. Man bekommt eine geballte Prise Seeluft, Island aus Insidersicht, knurrige Originale und Kalmann, den unfreiwilligen Helden mit Handicap, der einem ans Herz wächst, obwohl er nur selten herzerfrischend ist, dazu noch ein paar Rätsel und ordentlich Fisch.
Kalmann berichtet persönlich, ist gelegentlich etwas weitschweifig, aber man verzeiht es ihm gerne, lernt man doch ausführlich Land und Leute kennen und lernt sogar einiges dabei.
Einzig die Auflösung fand ich etwas sehr konstruiert. Hier hat der Autor ein raffiniertes Geheimnis entwickelt, wo ich mir Selbstverständlicheres gewünscht hätte.
Aber sei es drum: „Kalmann“ ist ein wirklich unterhaltsames Buch, das fesselt und Genregrenzen sprengt.

Bewertung vom 15.08.2020
Omama
Eckhart, Lisa

Omama


sehr gut

Von hyperventilierenden Flitscherln und putschenden Tranklern

Herrje! Wie soll man da jetzt eine Rezension schreiben, wo doch die Autorin gerade der Zankapfel des Corona-lahmen kulturellen Sommerlochs ist. Gibt es da nicht viel Berufenere, die Lisa Eckarts Erstling "Omama" glasklar analysieren werden, um dann zum unwiderlegbaren Schluss zu kommen, dass dieses Werk eine literarische Sensation bzw. wahlweise ein verabscheuungswürdiges Werk einer Rassistin, Anti-Feministin usw. ist. Und wird sich da nicht irgendwann die Waagschale der öffentlichen Meinung unwiderruflich auf die eine oder andere Seite neigen? Und was, wenn ich dann hier ganz falsch liege? Ich habe ja schließlich als einfache Leserin die unmaßgeblichste Stimme in diesem Disput.

Aber wie würde die Autorin sagen: "Nun aber wieder schleunigst zurück zu unserer eigentlichen Geschichte." Nämlich der Geschichte der Großmutter der Autorin, bei der sie die ersten sechs Jahre nach der Geburt gelebt hat (was ich aus Wikipedia weiß, im Buch würden solche Details niemals stehen). Die Geschichte beginnt mit der frühpubertären Großmutter zur Zeit des Einmarschs der Russen in die Steiermark. Und von diesem Zeitpunkt an entwickelt sich ein wirres, faszinierendes und wahlweise er- oder abschreckendes Panoptikum von Niedertracht, Bauernschläue und Geilheit, das uns über die 50er Jahre bis heute führt.

Wobei die eigentliche Geschichte nur einen Teil des Buches ausmacht. Den anderen nehmen Lisa-Eckert'sche Ausführungen ein (man hört die Bühnenfigur, wenn man sie liest). Es sind Variationen über Themen wie: die vier sakralen Säulen der Dorfgemeinschaft (der Depp, der Trinker, der Schönling und die Dorfmatratze), wieso der Österreicher, wo er doch den Deutschen hasst, mit ihm in den Krieg zieht (es sei verraten: es ist wegen der Ungarn), oder wieso Menschen mit außergewöhnlich Namen immer fad sein müssen. Diese Einschübe sind oftmals von einer unglaublichen Wortgewalt und von einem unnachahmlichen Humor. Ich durfte oft laut lachen. Aber über 360 Seiten kann die Autorin das nicht immer durchhalten, deshalb werden die Wortspiele manchmal voraussehbar und gezwungen, und manchmal einfach flach. Und so etwas wie der "cogito interruptus" ist wie eine faule Bohne in einem Pfund guten Bohnenkaffee - ein Stern Abzug!

Mit ihrer Omama verbindet die Autorin offenbar eine Hassliebe. "Seneca schauderte vor ihr, könnte er sehen, wie herzlich egal ihr der eigene Tod ist. Weder ersehnt noch fürchtet sie ihn. Für beides bin ich zuständig." Im dritten Teil, wo die Autorin selbst in die Geschichte eintritt, erahnt man, dass die ersten beiden Teile nicht nur eine wilde Phantasterei und an- wie abstoßerregende Ausschmückung von Familienanekdoten sind, sondern uns den Blick der Autorin vor Augen führen. Da ist man ab und zu auch berührt von der Geschichte, obwohl die Autorin sicher abstreiten würde, solch eine Befindlichkeit auslösen zu wollen. Und keine Sorge: sie bleibt sich auch in diesem Teil treu: Es wimmelt von Zumpferln, Tutteln und Popscherln (das sind primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale auf Österreichisch), von Brunzerei und anderen Exkrementen, politischer Unkorrektheit und wilden Gewaltphantasien.
Das Buch kann einen faszinieren, ekeln, langweilen und fesseln. Ich habe es gerne gelesen und würde es wieder tun.

Bewertung vom 13.01.2020
Violet
Chevalier, Tracy

Violet


ausgezeichnet

Öffnet Augen

Nach dem letzten Buch von Tracy Chevalier habe ich mir einen Goldpepping in den Garten gepflanzt. Jetzt möchte ich sticken lernen. Die Autorin ist vielseitig und kann Begeisterung für Themen wecken, auf die man nie gekommen wäre.
Mit diesem Buch zeigt sie, dass wir in Sachen Emanzipation doch schon dazugelernt haben.

1932 war der letzte Krieg zwar vorbei, trotzdem hatte die Bevölkerung noch mit den Folgen zu kämpfen. Violet hat zum Beispiel ihren Verlobten verloren und ist „sitzengeblieben“, 38 Jahre alt, keinen Mann abbekommen und muss in der Zeitung lesen, wie man über den Frauenüberhang witzelt.
Irgendwann hält sie es nicht mehr aus daheim mit ihrer Mutter, der man nichts rechtmachen kann, und zieht nach Winchester, besorgt sich einen Job, ein Zimmer und tritt der Stickgruppe bei, die die kunstvollen Sitzkissen für die Kathedrale gestaltet.

Eigentlich geht es um nicht viel. Eine Frau möchte ein selbstbestimmtes Leben, was nicht verboten ist, aber überall misstrauisch beobachtet wird. Die Vermieterin kontrolliert Telefonate, Besuch und den Kohlenkonsum, alleine essen gehen ist ein Spießrutenlauf, abends ausgehen höchst anrüchig und Bruder und Mutter erwarten ganz selbstverständlich, dass Violet immer zur Verfügung steht, hat sie doch keine eigene Familie zu versorgen. Nur beim Sticken kann Violet abschalten, eine kontemplative Tätigkeit, die ihr Freude bereitet, gesellschaftlich anerkannt ist und bei der Schönes entsteht.

Nichts davon ist neu, es ist auch keine große Geschichte, die einen in Atem hält, allerdings habe ich dieses Thema noch nie so komprimiert vor Augen geführt bekommen. Violets Leben ist trist und leidvoll, auch wenn sie nichts Offensichtliches zu erleiden hat. Es geht um gesellschaftliche Normen, bei denen alleinstehende Frauen nicht vorgesehen sind, Engstirnigkeit, ein Frauenbild, das Frauen irgendwo zwischen Kindern und Haustieren ansiedelt. Das ist tragisch und schockierend, wenn auch kein Pageturner. Im Mittelteil zieht es sich ein klein wenig.
Ein bisschen aufgelockert wird das Geschehen durch eine sehr zaghafte Liebelei, bei der man Interessantes über Glocken und den Beruf eines Glöckners lernt.

Dieses Buch ist beeindruckend, fesselnd und lenkt dem Blick auf ein Thema, was öfter am Rande wahrgenommen, aber selten direkt beleuchtet wird. Es öffnet Augen.

Bewertung vom 26.02.2018
Frau Einstein / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.1
Benedict, Marie

Frau Einstein / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.1


gut

Zu viel Kitsch, zu viel Schmalz

Bücher über die Frauen berühmter Männer sind gerade angesagt. Ich meide sie eigentlich, weil sie oft nur Schmachtfetzen sind, die durch den realen Hintergrund Seriosität versprechen, es dann aber nicht einlösen.
Bei diesem Buch dachte ich eigentlich, dass Mileva Marić als eigenständige Wissenschaftlerin ausreichend Gewicht hat, ein spannendes Buch zu tragen und grundsätzlich hat sie das auch. Sie war eine außergewöhnliche Frau, ihre Geschichte ist erzählenswert. Leider macht Marie Benedict doch ein Rührstück daraus.


Zunächst liest es sich nett. Es ist kurz vor der Jahrhundertwende. Die junge Mileva ist klug, zu klug für eine Frau und beginnt in Zürich Mathematik und Physik zu studieren, weil das zu Hause in Serbien für Frauen nicht möglich ist. Dort lernt sie Albert Einstein kennen und lieben und mit diesem Moment wird die Geschichte gar zu herzig.

"Ich würde ihren kleinen ernsten Mund gerne noch öfter zum Lächeln bringen." sagt zum Beispiel der Herr Einstein. Das ist süß und hat den Charme von Försters Pucki, nichts gegen Pucki, aber hier fließt plötzlich das Schmalz in Strömen. Sie haben zahlreiche Kosenamen füreinander, das ist nett. Wenn aber nahezu jeder Satz damit verziert wird, bekommt das Ganze eine komische Note. -Möchtest du noch Kaffee, Jonkerl? Ja, gerne, mein Daxerl.- Hier wird das Lesen nahezu unerträglich, man beginnt zügig weiterzublättern und verpasst dabei nichts.

Die Liebesgeschichte zwischen den beiden nimmt etwa zwei Drittel des Buches ein. Ja, es ist nicht einfach, ist er doch Jude und sie Serbin. Die Familien sperren sich, einen Job hat er auch noch nicht, dabei ist sie schon schwanger. Skandalös. Skandale sind nicht förderlich, wenn man versucht beruflich Fuß zu fassen. Man hat es längst verstanden, aber die Autorin walzt es aus.

Wirklich interessant wird es eigentlich erst später. Wie viel Anteil hat Mileva an Alberts Relativitätstheorie? Hat ein kluger Egomane eine geniale Frau über den Tisch gezogen? Diese Ansicht kann man wohl tatsächlich vertreten, wie man schon nach gemäßigtem Gegoogel feststellt.
In diesem Buch ist Einstein ein Monster und Mileva sein Opfer. Mag sein, dass es so war, aber nach den vorangestellten Schmalz-Exzessen hält man diese Sicht für maßlos übertrieben.
Das eigentlich Tragische an der Lebensgeschichte der Mileva Marić wird hier im Schnelldurchlauf und in plattester Schwarz-Weiß-Optik abgehandelt. Die Autorin unternimmt noch nicht einmal den Versuch, die Person Albert Einsteins zu erfassen. Bestimmt war er kein einfacher Mensch, aber irgendwelche Qualitäten wird er schon gehabt haben.

Man muss dem Buch zugute halten, dass es einem Mileva Einstein-Marić tatsächlich nahe bringt, allerdings in einer Art und Weise, die man mögen muss. Für mich war es zu viel Kitsch, zu viel Schmalz und zu viel leidvolle Liebesgeschichte. Daraus hätte man mehr machen müssen.

Bewertung vom 26.02.2018
Kühn hat Ärger / Martin Kühn Bd.2
Weiler, Jan

Kühn hat Ärger / Martin Kühn Bd.2


ausgezeichnet

Kriminalfall mit Mehrwert
Dieses Buch ist genial. Es ist ein Krimi mit allen klassischen Krimielementen. Da ist ein Mord, ein Ermittlerteam und Hauptkommissar Kühn hat sogar einige private Probleme, die engagierte Kommissare typischerweise haben. Sein letztes Burnout hat er gerade knapp überwunden und in seiner Ehe läuft es auch nicht rund.

Präsentiert wird dieser Fall allerdings sehr ungewöhnlich. Es wird erstmal das Umfeld abgesteckt. Im Südosten Münchens, in Neuperlach, lebt der junge Amir mit seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen. Es kommt ihm vor wie ein Märchen, als sich tatsächlich Julia van Hauten in ihn verliebt und er dadurch plötzlich in ganz anderen Kreisen verkehrt. Er wusste nicht, wie es sich in Grünwald lebt.

Es liest sich wunderhübsch. Fast meint man, eine Milieustudie erwischt zu haben statt eines Krimis. Liebevoll und mit grandiosem Humor skizziert Jan Weiler hier hoch interessante Figuren und das Ambiente. Ja, er schafft es sogar, seinen langweiligen Nachbarn Rolf plastisch und unterhaltsam zu schildern. Immer wieder liest man skurrile Betrachtungen, wie z.B. ein Exkurs zum Bonsai-Parkett der van Hautens. Dieses Buch macht Spaß.

Dies war mein erstes Buch von Jan Weiler und ich bin beeindruckt. Eigentlich setzt er damit neue Maßstäbe für Kriminalromane. Es geht um einen Mordfall, der geklärt werden muss, aber gleichzeitig auch noch um sehr viel mehr. Hier geht es um Menschen, um Schicksale und um einen Kommissar, der souverän einen Fall löst, dabei aber selbst sein Päckchen zu tragen hat. Kühn hat jede Menge Ärger, der so schnell wohl nicht zu lösen ist.
Ich hoffe, ich bekomme noch mehr von ihm lesen.

Bewertung vom 24.10.2016
Im Wald / Oliver von Bodenstein Bd.8
Neuhaus, Nele

Im Wald / Oliver von Bodenstein Bd.8


gut

Man sieht den Wald vor Bäumen nicht

Es ist kalt und dunkel im Wald, als ein Wohnwagen auf dem abgelegenen Campingplatz explodiert. Und im Wald hat sich auch vor 40 Jahren eine Kinderbande getroffen, als der 11jährige Arthur verschwand, der der beste Freund von Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodensteins war.
Der neuste Fall des K11 wird sehr persönlich für Bodenstein. Die neusten Morde scheinen etwas mit den Geschehnissen in der Vergangenheit zu tun zu haben. Er muss ergründen, was wohl seinem Freund passiert ist, damals in seiner Kindheit.

In Ruppertshain im Taunus kennt jeder jeden, aber jeder hat auch Geheimnisse. Und manches wir auch zur Wahrheit, wenn es nur genügend Leute behaupten. Wer will da widersprechen?
Durch diesen Sumpf muss sich das K11 wühlen. Die Mitglieder der Kinderbande von 1972 sind jetzt gesetzte Herrschaften, haben geheiratet, Familie, Geschwister Eltern und jeder weiß ein wenig, hat aber auch auffällige Gedächtnislücken.

Das Buch ist fesselnd und gut geschrieben. Allerdings kämpft man sich von Anfang an durch einen Wust von Menschen. Da ist die Schwester von X jetzt verheiratet mit dem Bruder von Y und hatte zwischendurch ein Verhältnis mit Z , ihr Bruder dagegen ist jetzt der Schwager von A, weil B in zweiter Ehe mit C verbandelt ist. Es ist verzwickt. Noch dazu muss man die Verhältnisse damals und heute im Auge behalten.
Auch trifft man hier und da jemanden, der in alte Fälle verwickelt war und schwelgt in Erinnerungen. Die Exbeziehungen von Pia und Bodenstein werden resummiert und man fragt sich, ob das wohl für den aktuellen Fall relevant ist. Fans der Reihe sind bestens informiert und brauchen diese Informationen nicht, Neueinsteiger verwirrt es nur, wenn sie im Nebensatz ein Vorgängerbuch erklärt bekommen. Man wird zugeschüttet mit unnötigen Informationen und hat Mühe, die echten Hinweise im Auge zu behalten.

Ich kann mich an Bücher von Nele Neuhaus erinnern, die ich gebannt vor Spannung gelesen habe. Diese Momente hat man hier eher selten. Gelegentlich thrillt es, aber die meiste Zeit sortiert man alte Geschichten, relevante und irrelevante.
Dieses Buch kann man durchaus lesen. Ich habe mich nicht gelangweilt. Nur versinkt die Spannung ein wenig im unnötigen Input von Nebensächlichkeiten.

Bewertung vom 31.08.2016
Am Ende aller Zeiten
Walker, Adrian J.

Am Ende aller Zeiten


gut

Apokalypse von der Stange
Die Welt geht mal wieder unter. Das ist immer spannend und beängstigend. Nur inzwischen gibt es so viele Endzeitromane und auch Filme, dass man sich wirklich etwas einfallen lassen muss, um das Publikum noch in Erstaunen zu versetzen. Adrian J Walker hat es zumindest versucht.

Er schickt Ed auf eine Wanderung. 500 Meilen muss er durch das zerstörte Großbritannien laufen, um seine Familie wiederzufinden. Er war bislang ein schlechter Vater, ein gedankenloser Ehemann, einer, der sich gerne in die Kneipe verdrückt, wenn die Familie zu anstrengend wird. Das bereut er jetzt bitter, jetzt wo es fast zu spät ist.

Eindrucksvoll liest man hier, wie ein Durchschnittsschotte durch pure Willenskraft zum Marathonman wird und unterwegs mit unterschiedlichsten Gefahren fertig werden muss. Das ist spannend und aufreiben, nur leider hat man das Gefühl, man kennt das alles schon irgendwoher. Jeder apokalyptische Reisende bekommt es mit marodierenden Jugendlichen zu tun, durchsucht verlassene Häuser nach Lebensmitteln und verspeist gelegentlich Ratten. Ed findet Reisegefährten, die das Geschehen beleben könnten, die aber leider sehr blass bleiben.

Eigentlich geht es hier wohl gar nicht vorrangig um das apokalyptische Szenario. Das Augenmerk liegt auf Ed und seinem Weg, der gewissermaßen ein Selbstfindungstrip ist, was auch interessant sein könnte, wenn nicht schon auf den ersten Seiten hinlänglich geklärt würde, dass Ed nun mal ein schlechter Vater ist. Ed weiß es, der Leser weiß es und alle, die ihn kennen, wissen es auch. Trotzdem grübelt er unterwegs ständig darüber nach, ohne zu neuen Erkenntnissen zu kommen, was dann schon etwas ermüdet.

Was lernt er noch? Das Laufen. Er stellt fest, dass man sich durch pure Willenskraft zu Höchstleistungen antreiben kann und entdeckt das Laufen, das beinahe eine Droge für ihn wird. Auch das hätte einen gewissen Reiz haben können. Nur schmückt der Autor gerade diesen Aspekt reichlich aus mit philosophischen Gedanken zum Leben, Glauben, Willen, die sicher ausgesprochen klug sind, die aber Ed niemand abkauft. Es wirkt halbgar und aufgesetzt.

Mir kam dieses Buch vor wie die Apokalypse von der Stange. Man nehme ein paar gängige Endzeitelemente, eine Portion Drama und eine große Tüte Moral und rühre gut um. Das tut keinem weh, reißt aber auch niemanden vom Hocker.

Bewertung vom 01.02.2016
Der goldene Sohn
Gowda, Shilpi Somaya

Der goldene Sohn


sehr gut

Indien in Licht und Schatten
Wenn man an Indien denkt, denkt man an leuchtende Saris, klirrende Armreifen, bunte Blumen, Elefanten und leckere Reisgerichte. Dass es dort auch Schattenseiten gibt, ahnt man spätestens, wenn man Slumdog Millionaire gesehen hat. Was für schreckliche Blüten die traditionellen Heiratssitten mit arrangierten Ehen und einer ausgehandelten Mitgift treiben kann, liest man hier und ist entsetzt.

Anil und Leena waren als Kinder Freunde und sind zusammen aufgewachsen, obwohl sie aus Familien unterschiedlichen Rangs kommen, sind sie doch Nachbarn.
Anil ist der goldene Sohn, der Älteste, der in die Fußstapfen seines Vaters treten soll als das Familienoberhaupt, das die Dorfgemeinschaft leitet und Schiedsgerichte abhält, wenn Streitigkeiten auftreten. Allerdings hat er eigene Pläne. Er möchte Arzt werden und in Amerika als Assistenzarzt arbeiten.
Leena kommt aus einer einfachen Bauernfamilie. Ihre Eltern suchen für sie, wie die Tradition es verlangt, einen Ehemann aus. Die erforderliche Mitgift bringt Leenas Eltern an die Grenzen ihrer Möglichkeiten.
Abwechselnd verfolgt man hier Anils und Leenas Schicksal. Während Anil dem harten Alltag eines Assistenzarztes in einem großen Krankenhaus ausgesetzt ist und nebenher auch Fremdenhass in Amerika erlebt, muss Leena feststellen, dass ihr neuer Ehemann nicht hält, was er versprochen hat.

Dieses Buch ist fesselnd und bringt einem Indien nahe. Man lernt viel über Sitten, Gebräuche, Traditionen, die bestehen, auch wenn sie vielleicht belastend sind und in eine moderne Welt nicht mehr so gut passen. Und wie gehen Inder im Ausland damit um? Was passiert, wenn Traditionen dem persönlichen Glück im Wege stehen? Und wie ist die Stellung einer indischen Frau in der Gesellschaft, wenn sie einerseits devot ihren Ehemann bedienen muss, andererseits aber doch viel Einfluss haben kann? Warum werden fürstliche Mitgiften gezahlt, wenn doch diese Tradition eigentlich gesetzlich verboten ist?
All das steckt in diesem Buch und wird in eine eindrucksvolle Geschichte verpackt, was wirklich großartig wäre, wäre der Erzählstil nicht gar so schlicht. Es liest sich leicht, schnörkellos geradeaus. Um restlos davon begeistert zu sein, hätte ich mir an dieser Stelle ein paar Finessen gewünscht.
Auch gelegentliche Logikschnitzer fallen auf.

„Der goldene Sohn“ ist ein Buch, das einem die Augen öffnet. Einige Vorkommnisse hätte ich für maßlos überzogen gehalten, wenn nicht Google selbst die schlimmsten Auswüchse bestätigen würde. Man bekommt ein lebendiges Bild vom modernen Indien mit Licht und Schatten, faszinierend, bestürzend und fesselnd.