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ninchenpinchen
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Potsdam

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Insgesamt 70 Bewertungen
Bewertung vom 26.10.2021
Die letzten Romantiker
Conklin, Tara

Die letzten Romantiker


ausgezeichnet

Coming of Age x 4

Bei manchen Büchern weiß man instinktiv schon im Vorfeld, dass sie gefallen werden. Würde man sie sonst lesen?

„Die letzten Romantiker“ gehen über ganze Leben, mindestens aber über vierzig Lebensjahre. Die Ich-Erzählerin Fiona steht sogar mit einhundertzwei Jahren noch auf der Bühne und der Roman beginnt, als sie vier Jahre alt ist. Da ist ihr Bruder Joe sieben und die Schwester Caroline acht und zur Vervollständigung des Quartetts Renee elf Jahre alt.

Der Vater stirbt jung und unerwartet. Da zieht die Mutter sich zurück – in die große Pause – wie die Auszeit von den Kindern genannt wird. Die vier Kinder sind auf sich gestellt, mehr oder weniger. Denn die Mutter kommt nur sporadisch aus ihrem Zimmer, backt mal einen Geburtstagskuchen, ist aber meistens unerreichbar für die Kinder. Wenn auch physisch anwesend, so dauert doch die große Pause etwa drei Jahre.

Alle vier Kinder entwickeln sich so unterschiedlich, wie es nur sein kann. Renee, die Älteste, kümmert sich – so gut sie kann – um ihre Geschwister, ist aber oft völlig überfordert. Joe glänzt mit sportlichen Höchstleistungen und rettet Caroline und Fiona aus unterschiedlichen bedrohlichen Lebenslagen.

Der Roman gliedert sich in vier Teile: Kindheit und Jugend in Bexley, die jungen Erwachsenenjahre in NYC, später dann Miami und noch später wieder hier und da. Zwischendurch springen wir mit Fiona ganz weit in die Zukunft, ins Jahr 2079.

In der Danksagung am Ende erwähnt die Autorin, dass ihre Idee zu diesem Buch einer Familientragödie entsprang, die sie mit großer Beklommenheit erforscht hat. Wessen Familientragödie bleibt offen oder ob sich möglicherweise Autobiographisches hier verbirgt. Und dass dieses Buch lange gebraucht hat, ist glaubwürdig. Denn, so lange es gebraucht haben mag, es wird auch lange nachwirken.

Ich war gar nicht in der Lage, so schnell einen neuen Roman anzufangen, obwohl mir schon zwei Bücher aus dem Schrank ungelesener Bücher heftig zuwinken.

Die Figuren sind so durchdacht, wie man es nur selten findet. Ebenso die Dialoge. Hier erleben wir Schicksale, die sich so oder sehr, sehr ähnlich abgespielt haben müssen. Wir tauchen als Leser tief ein, so tief wie Fiona in den See der Kindertage. (S. 39/40)

Obwohl ich selbst keine Geschwister habe, glaube ich jetzt zu wissen, wie sich geschwisterliche Nähe, Entfremdung und erneute Nähe anfühlen. Und überhaupt lesen und erfahren wir, nebst Lügen, Geheimnissen und Verrat, wie unterschiedlich Menschen sein können, welche Lebensziele sie haben, was ihnen wichtig ist und wie sie bereuen, manches versäumt zu haben, was sich nicht nachholen lässt.

Und jetzt verspüre ich Lust und Bedürfnis, mir „The House Girl“, Tara Conklins Debüt, näher anzuschauen.

Fazit: Weit eindrucksvoller, als Titel und Cover erahnen lassen. Eins der Jahreshighlights auf jeden Fall. Unvergesslich. Wirkt nach. Lädt zum Noch-Einmal-Lesen ein. *****

Bewertung vom 05.10.2021
Was fehlt dir
Nunez, Sigrid

Was fehlt dir


gut

Fallbeispiele

Wenn ich sagen sollte, warum ich „Was fehlt dir“ lesen wollte, gäbe es nur diese Antwort: Ich fand es gleichermaßen verstörend wie gemütlich (hygge!) mit einer sterbenden Freundin in ein unbekanntes Haus zu ziehen. Vorübergehend natürlich.

Und nicht beleidigt zu sein, wenn zwei bessere Freundinnen dieses Ansinnen schon abgelehnt hatten.

Bald sterben kann auch lustig sein. Ich erinnere mich selbst noch daran, wieviel Spaß wir zu dritt hatten beim Abschied von der Mutter meiner Freundin. Die zum aktiven Sterben in die Schweiz fahren wollte und das dann auch tat. Natürlich haben wir am Ende des Abends geheult, aber vorher haben wir gelacht. Das war hoch emotional, so ist dieses Buch auch.

Im ersten Teil gibt es verschiedene Geschichten. Treffen oder Telefonate mit dem Ex. Ein sprechender Kater, der seine wechselvolle, außergewöhnliche Lebensgeschichte erzählt.

Und Erinnerungen der namenlosen Protagonistin an höchst merkwürdige Besuche bei einer alten Dame. S. 103: „Und wie ist es möglich, gleichgültig, um was es geht, wenn sie [gemeint ist hier die alte Dame] sich entscheiden muss zwischen dem, was Sean Hannity von Fox News sagt, und dem, was ihr eigener Sohn sagt, dass sie immer Sean Hannity glaubt.“ Kommt uns das beim herrschenden Zeitgeist bekannt vor? Oder auf S. 105: „Wenn sie nie ferngesehen hätte, sagte er [der Sohn der alten Dame], wäre sie nicht so, das weiß ich.“

Im Mittel- und Hauptteil geht es dann – relativ kontinuierlich – um die 24-stündige Begleitung der sterbenden Freundin, nebst Einkaufen und Putzen.

Ich glaub, ich muss auch mal irgendwo irgendwann eine Airbnb-Übernachtung buchen – mit inklusiver Geschichten erzählender Katze versteht sich. Es ist doch auch spannend in Behausungen anderer Leute zu übernachten. Letztens traf ich einen Mann mit Hund, der ließ die Hundesitterin immer bei sich im Gästezimmer übernachten, wenn er auf Reisen war. Wie aufregend!

Fazit: Das Buch kommt gleichermaßen leichtfüßig wie tiefgründig daher. Es wird nicht jedermanns Sache sein, diesem „Gedankensalat“ zu folgen. Ich tat es – sogar gerne, aber dennoch fehlte mir etwas, möglicherweise Struktur oder ein Erzählfluss, ich kann es nicht genau benennen.

Bewertung vom 01.10.2021
Diese Frauen
Pochoda, Ivy

Diese Frauen


gut

Im Land der begrenzten Möglichkeiten

In diesem Kriminalroman, der aber kein richtiger Kriminalroman ist, werden sechs Frauen miteinander verbunden: Essie, die Ermittlerin; Feelia, die Davongekommene; eine Mutter, eine Ehefrau, ein Opfer und eine Tochter.

Das Ganze spielt in Los Angeles und dort zu leben, erscheint alles andere als wünschenswert. Seite 267: „Die Rinnsteine füllen sich. Es rauscht in den Gullys. Der Müll, der nie entsorgt wird, wirbelt herum, fließt davon. Ein Fluss aus Getränkedosen, Styroporbehältern und Verpackungen strömt am Straßenrand entlang.“
Ein Mann fährt in einem Auto in L. A. herum und DIESE FRAUEN steigen oft ein aber nie wieder aus. Der Mann hat schon viele Frauen umgebracht, aber da es DIESE FRAUEN sind, wird nicht ermittelt. Wird Hinweisen nicht nachgegangen. Werden Anrufe nicht ernst genommen. So landen sie in der Gosse mit durchgeschnittener Kehle und einer Plastiktüte über dem Kopf.

Ivy Pochoda kann schreiben, ist kreativ, hat gute Ideen – ohne Zweifel. Sicherlich hat auch die Übersetzerin ihre Arbeit sehr gut gemacht. Dennoch hat mir etwas gefehlt, vielleicht ein roter Faden, vielleicht hier und da etwas Spannung und manchmal auch die Lust weiterzulesen. Bei dem Vorroman „Visitation Street“ ging es mir genauso. Er war gut geschrieben, die Protagonisten waren perfekt ausgeleuchtet, aber irgendwie fehlte etwas. Es ehrt die Verfasserin, dass sie DIESEN FRAUEN – gemeint sind die, die ihre Körper verkaufen – eine Stimme geben will, sie sichtbar machen will, aber hätte da ein Sachbuch vielleicht eher diesen Zweck erfüllt?

Ich habe mal darüber nachgedacht, was denn nun einen Krimi ausmacht. Und denke, das sind in erster Linie die Ermittlungen, an denen sich der Text entlang hangelt. Hier sind die Ermittlungen eher Nebensache, kommen fast wie zufällig daher. Möglicherweise ist das auch der Grund, warum mir der rote Faden fehlt. Die Ereignisse wirken wie die aneinander gereihten Lebensgeschichten der sechs Protagonistinnen nebst Familie, Freunden, Kollegen. Mit manchen Sprüngen vor und rück. Da mangelt es an einem durchgehenden Konzept.

Fazit: So wirklich begeistern konnte mich dieser Roman nicht. Auch wenn er uns teilweise die Augen öffnet, wie es im so hoch gelobten Land Amerika in den Großstädten (vermutlich) wirklich aussieht. Da können gut aussehende Frauen ihr benötigtes Geld nur mit Prostitution verdienen und überall stinkt es, brennt es und liegt Müll herum. Na ja, mehr als 3 Sterne sind da nicht drin.

Bewertung vom 15.09.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Mit innerer Stärke souverän das Böse überwinden

Zu Beginn dieses wunderbaren Märchens ist Martin elf Jahre alt. Er ist der einzige Überlebende in seiner Familie, denn sein Vater brachte die Mutter und die Geschwister um. Und sich im Anschluss.

Aber Martin ist nicht allein, er hat einen einzigartigen Freund: den schwarzen Hahn. Der Hahn fand ihn schon als Baby, zwischen all den Körnern im Hühnerstall und ab da waren sie unzertrennlich. Und Martins Eltern ließen sie, zu dem Zeitpunkt lebten sie ja noch.

Nach dem Attentat lebt Martin mehr schlecht als recht in der Hütte. Die meisten Leute im Dorf sind misstrauisch, sie sind böse und dumm, wollen mit ihren Fehlern in Frieden leben. (S. 53) Und Martin ist klug und gut und das passt nun mal nicht zusammen. Und das nervt sie gewaltig.

Als ein Maler ins Dorf kommt, um ein großes Altarbild zu malen, gehen Martin und der Hahn mit ihm fort, als dieses Werk vollendet ist.

Im Land herrscht Krieg, Elend und Hunger. S. 168: „Weil nur die niedrigste Gesinnung in solchen Zeiten überlebt, denn Güte und Ehre brauchen genug zu fressen.“ Dazu werden in jedem Jahr zwei Kinder geraubt. Ein Junge und ein Mädchen. Die werden später dauer-betäubt und leiden. Und tauchen in der Regel danach nicht wieder auf.

Das Büchlein hat nur 223 Seiten, aber wir alle können viel daraus lernen. Denn Martin meistert seine Lebensaufgabe mit Bravour, Feingefühl und gewaltiger innerer Stärke. Er kann sogar Leben einhauchen. Gottgleich? Er hilft bei einer Geburt, als die Dorfhebamme sich weigert, zu erscheinen. Seite 172: „Sie [gemeint ist hier die Hebamme] kommt nicht, sagt Martin, als er wieder bei Frau und Reiter ist. Und so müssen sie es allein schaffen. Martin voller Mut. Mit diesem Vertrauen in eine Welt, die es nur in ihm gibt. Die er dem Kind einhaucht, das sich mit dem ersten Atemzug schwertut.“

Ich möchte noch den Beginn des Kapitels 22 auf Seite 144 erwähnen: "Nach und nach offenbaren sich die Regeln für das Leben auf der Burg. Wobei beliebig Regeln hinzuwachsen oder verschärft werden, aber nie aufgekündigt. Es gibt ein schwammiges Grundsätzliches, der Rest ist Glück oder Pech, man fährt wohl am besten mit Angst und Misstrauen ..." Hier mag jeder selbst überlegen, ob ihm das irgendwie bekannt vorkommt?

Fazit: Dieses feine Büchlein möchte ich jedem ans Herz legen, denn es macht Mut – gerade in dieser schwierigen Zeit. Es ist wirklich ein außergewöhnlicher Debütroman, eine literarische Entdeckung, wie schon im Klappentext vermerkt und verdient unsere höchste Anerkennung. Glanzvoll verdiente 5 Sterne dafür.

Bewertung vom 11.09.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


sehr gut

Drei Jungen und ein Hund

Manchmal sehe ich Dinge, die nicht da sind. Im Roman von Alex Schulman gibt es keine Berufe, dafür wird umso mehr geraucht. Freunde oder sonstige Besucher, bzw. andere Menschen, existieren auch nicht oder kaum. Also höchstens unwesentlich.

Es gibt aber das Sommerhaus am See; Vater, Mutter, Benjamin, Pierre, Nils & Molly, den Hund.
Benjamin ist die Hauptfigur, tritt aber nicht als Ich-Erzähler auf. Die Interaktion der Personen fand ich oft seltsam und dennoch nachvollziehbar.

„Die Überlebenden“ beginnt mit dem Ende. Die Asche der Mutter soll unten am See beim Sommerhaus verstreut werden. Das war ihr letzter Wille und das stand in ihrem langen Abschiedsbrief. Zu dem Zeitpunkt lebte der Vater schon längst nicht mehr. Und die Brüder waren sich fremd geworden und hatten kaum noch Kontakt. Nun aber fahren sie gemeinsam, notgedrungen, wieder zum Ort ihrer Kindheit, wo sie zwanzig Jahre nicht mehr waren.
Die ungeraden Kapitel mit Uhrzeit erschließen sich rückwärts im zwei-Stunden-Takt, im zweiten Teil sind sie gerade, aber immer noch rückwärts in die Vergangenheit gerichtet.

In den Episoden dazwischen erleben wir besondere Vorkommnisse, zum Teil sehr intensive, auch sehr grausame, die kaum auszuhalten sind. Hier läuft das Geschehen vorwärts, es sind aber auch Erinnerungen eingestreut.
Was machen drei Brüder und ein Hund da draußen an einem Sommerhaus am See? Sie schwimmen, sie laufen, sie angeln, sie gehen auf Erkundungstour in die umliegenden Wälder.

Ein furchtbarer Unfall passiert, umrahmt von anderen Unfällen, die aber weniger schwerwiegend sind.

Fazit: Ob der Trick, der hier angewandt wird, um dem Roman Leben und Intensität einzuhauchen, legitim ist, das mag jeder Leser individuell entscheiden. Ich jedenfalls war durchaus beeindruckt, hätte an ganz anderer Stelle Mystisches, Verdecktes vermutet. So vergebe ich verdiente vier Sterne.

Bewertung vom 01.07.2021
Von hier bis zum Anfang
Whitaker, Chris

Von hier bis zum Anfang


ausgezeichnet

Wie gut, dass sie nicht weiß …

Da schreibt ein Engländer einen amerikanischen Coming-of-Age-Roman, wie er amerikanischer nicht sein könnte. Denn Chris Whitaker dürfte ein waschechter Engländer sein. Am Anfang war ich so irritiert, las also nochmal den hinteren Klappentext – und ja – da steht Cape Haven, Kalifornien. Der Ort, bzw. diese Küste ist fiktiv, denn ich fand kein Cape Haven in Kalifornien. Aber ich folgte Chris Whitaker literarisch nach Cape Haven und zwar begeisterter von Seite zu Seite.

Aber, jetzt geht es von HIER BIS ZUM ANFANG. Wir begleiten Duchess, die Kindfrau, die so gern ein Outlaw sein möchte, ein ganzes Jahr lang. Als wir mit der Lektüre beginnen, ist sie dreizehn Jahre alt, am Ende ist sie vierzehn. Mit etlichen Ortswechseln, da muss sie durch. Und nicht nur da durch.

Die schöne Duchess sorgt hingebungsvoll für ihren kleinen Bruder Robin, der ist sechs Jahre alt. Und Star, die ebenso schöne Mutter, die zwar ihre beiden Kinder innig liebt, ist aber oft unfähig, für sie zu sorgen. Ständig ist das Geld knapp, so singt Star in einer Bar, alle Männer wollen ihr an die Wäsche, aber sie hat andere Vorstellungen. Was für welche, das erfahren wir im Laufe des Romans. In Cape Haven wohnen allerlei zwielichtige männliche Gestalten. Man weiß nicht so recht, was man von denen halten soll, wer ist gut und wer ist böse?

Dreißig Jahre zuvor hat Vincent King Stars kleine Schwester Sissy getötet und sitzt dafür im Knast. Dort bringt er noch einen um, in Notwehr. Nun kommt Vincent King wieder aus dem Knast und ganz Cape Haven gerät aus den Fugen.

Die gute Seele an dieser Küste ist Chief Walker, der furchtlose, aber im Alter kranke Polizist. Vincent King war und ist sein bester Freund, von Kindestagen an, was die ganze Sache für beide nicht einfacher macht.

Die Charakterentwicklung der Figuren ist so wahnsinnig gut gelungen, dass man meinen könnte, man sei ihnen oft in natura begegnet. Ich sehe sie regelrecht vor mir: Duchess, die keine Gefühle zulassen will, weil sie meint, dass es sie schwächt. Ihren kleinen Bruder Robin, den Ängstlichen. Chief Walker, den Guten, der leider mit der Liebe seines Lebens keine rechtzeitige Erfüllung fand. Hal, den Großvater, der früh davon abgehalten wurde, seinen Leuten näher zu kommen. Wir lernen auch fantastische Frauenfiguren kennen: Martha, die Engagierte, Fleißige und Polly, die Unkonventionelle, Warmherzige.

Das Ganze eingebunden in gelbe Leinenstruktur mit wunderbarem Cover und Lesebändchen, so fein gestaltet, wie es nur sein kann.

Fazit: Gern wäre ich noch länger in Cape Haven verblieben und hätte Duchess weiter in ihrer Entwicklung beobachtet. Alle Krimiliebhaber, die es gern literarisch wertvoll haben, die kommen hier voll auf ihre Kosten. Und können hier ein ganzes Buch voll vom harten amerikanischen Traum kosten. 5 Sterne!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.05.2021
Letzte Ehre
Ani, Friedrich

Letzte Ehre


sehr gut

Zersplitterte Frauen

Der Roman „Letzte Ehre“ von Friedrich Ani unterteilt sich in drei verschiedene Etappen. Drei Geschichten über Frauen, die geschändet, missbraucht, misshandelt und erschossen werden. Ja, ich weiß, dies sind vier Delikte, aber manche bekommen‘s mehrfach. Früher oder später.

Das Kommissariat bietet die Rahmenhandlung mit der Ich-Erzählerin Fariza Nasri, KOK, Kriminaloberkommissarin. Hin und wieder kommen auch die zwei Kollegen Farizas zu Wort: Jennifer Odoki und Dennis Kalk.

Am Anfang war ich etwas enttäuscht, hatte mir von Teil 1 mehr Ausführlichkeit versprochen. Das ist der Teil, der auf dem Klappentext innen und außen erwähnt wird. Da geht es um das Verschwinden der Schülerin Finja Madsen. Aber offensichtlich fand Ani diesen Fall nicht romanfüllend genug. Oder ihm lagen noch andere Fälle auf dem Herzen, die ihrerseits nicht romanfüllend gewesen wären.

Viele männliche Nebenfiguren, noch lebend oder verstorben, wie Vater und Sohn Barig, Polizei-Kollege Marco Hagen oder der Schüler Ben Tessler spielen oder spielten unrühmliche Rollen. Manche davon unbeabsichtigt. Oder sie sind schlicht überfordert mit dem, was das Leben ihnen abverlangt.
Auch einigen Frauen gäbe es allerhand vorzuwerfen, positionieren sie sich doch nicht deutlich oder nicht rechtzeitig genug. Oder sind sie bloß „verpuppt in Konkons aus Feigheit“? (Seite 190)

Gesamt ist der Roman extrem düster. Dazu passen die traurigen Gesänge von Townes van Zandt, der öfter erwähnt wird. (z. B. auf den Seiten 89 u. 222)

Richtig glückliche Figuren findet man also nicht. Fariza Nasri schaut dauernd in den Spiegel, ist unzufrieden, gelegentlich sehr unachtsam, traut sich selbst nicht und säuft, um ihr Unglück zu ertragen. In ihrer Kindheit und Vergangenheit ist so einiges schief gelaufen, das wird aber nur bruchstückhaft erwähnt. Es bleibt also so einiges offen.

Halt geben ihr ihre Freundinnen Sigrid und Catrin. Alle Drei treffen sich regelmäßig, bei einer zu Hause oder im Lokal. (Da ging das offensichtlich noch ohne "Zertifikate", seufz.)

Im Mittelteil lernen wir Ines Kaltwasser besser kennen. Auch sie ist eine zutiefst verstörte Seele mit vielen, vielen unverarbeiteten Altlasten. Fariza Nasri kann das zum Teil sehr gut nachvollziehen, fast zu gut.
Lange habe ich gerätselt, was das Cover mit dem Inhalt zu tun haben könnte. Aber das erklärt sich erst im dritten Teil. Seien Sie gespannt!

Ich hatte einmal die Freude und die Ehre (keine letzte Ehre, zum Glück!) Friedrich Ani persönlich erleben zu dürfen. Er brillierte mit einer bayrischen Mundart-Erzählung bei der Eröffnung des 4. Krimimarathons Berlin-Brandenburg im Jahr 2013.

Fazit: Ani ist ein herausragender & sehr ungewöhnlicher Erzähler, der möglicherweise nicht jeden Geschmack trifft. Aber das ist auch gut so. Ich hab den Roman auf jeden Fall kaum aus der Hand legen können und am Stück gelesen. Aber die Stimmung hebt er nun mal nicht. Dennoch: viel mitnehmen konnte ich trotzdem! ****

Bewertung vom 02.05.2021
Girl A
Dean, Abigail

Girl A


ausgezeichnet

Außer Kontrolle

Nun ist die letzte Seite von Girl A gelesen, inklusive Danksagung und die Rezension soll beginnen. Aber wie? Diesem besonderen Thriller von Abigail Dean gerecht zu werden, das ist eine Herausforderung, die wirklich selten vorkommt. An sich müsste ich fast alle anderen von mir rezensierten Bücher um einen Stern abwerten, damit die fünf Sterne für dieses ihre volle Berechtigung entfalten.

Girl A ist das zweitälteste Kind der gesamt sieben Geschwister. Sie heißt Alexandra (Lex) Gracie und ist fünfzehn Jahre alt, als ihr ENDLICH die Flucht gelingt. Die so schwierige Flucht aus dem Haus des Grauens, Moor Woods Road 11. Als die Familie dies Haus erwirbt und dahin umzieht, gerät die vor dem Umzug schon grenzwertige Situation völlig außer Kontrolle. Grenzwertig heißt in diesem Fall: Es wurde nicht geputzt, nicht gewaschen und regelmäßiges Essen gab es nicht! Siehe Seite 198: „[…] die schlimmsten Leiden des Hauses. Der Teppich unter meinem Bett war weich und verfilzt, und Schimmelgeschwüre waren bis hoch zur Matratze gewuchert. Unter dem Kinderbett lagen angefaulte Strampler, die von jedem von uns getragen und nie gewaschen worden waren.“

Dennoch war dieser Prozess schleichend. Richtig gut war sie nie, die Situation dieser Familie. Zu viele Kinder in zu kurzer Zeit, eine zutiefst unterwürfige Mutter und ein Vater, zunehmend durch Erfolglosigkeit vom Irrsinn gezeichnet. S. 241: „Im Lifehouse rackerte Vater sich vor leeren Bänken ab. Eine Gemeinde von Fliegen, unfähig, den Weg zur Tür zu finden, ging allmählich an den Fenstern zugrunde.“ Und S. 304: „Graue Haarbüschel klebten ihm an der Stirn. Die Mundwinkel sackten in die Hängebacken ab. Ein Geruch entströmte ihm, nicht bloß aus dem Mund, sondern von unter der Haut, als hätte sich dort etwas zum Sterben zurückgezogen.“

Die Kapitel sind nach den Kindern unterteilt: Girl A ist Alexandra, genannt Lex. Boy A ist Ethan. Delilah, die Schöne, ist Girl B. Gabriel, der Kurzsichtige ist Boy B. Noah ist Boy D. Evie, Alexandras überaus geliebte Schwester und Zimmergenossin ist Girl C. Daniel hat kein eigenes Kapitel. Boy C scheint es nicht zu geben und Daniel, als der Nachfolger, käme nach Noah.

Bevor der Roman fertig gelesen ist, kommt noch ein zusätzlicher Schock auf, lässt einem keine Ruhe und man liest ein bestimmtes Kapitel nochmal und wieder und wieder.

Dieser Thriller hat es wirklich in sich und man fragt sich – relativ spät – warum lesen wir solche Bücher? Weil wir uns versichern wollen, dass es uns besser geht? Weil uns das Morbide fasziniert? Oder sind wir bloß Spanner, die durch Schlüssellöcher lugen? Das muss wohl ein jeder mit sich selbst abmachen. Mich jedenfalls wird dieser schleichende Prozess, dessen Zeuge ich nun wurde, lange Zeit nicht mehr loslassen.

Wie reagieren wir wohl selbst bei absoluter Überforderung? Oder haben die meisten von uns nur schlicht das Glück, solches Unheil nicht anzuziehen?

Mich würde noch interessieren, ob eine reale Geschichte als Vorlage gedient hat? Jedenfalls konnte ich nichts dergleichen entdecken. Für Hinweise wär ich dankbar.

Fazit: Wer so viel allerfeinste Minuslektüre ertragen kann, dem sei dies Buch ans Herz gelegt. Hier passt einfach alles vom genialen Cover bis hin zur anspruchsvollen Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Hochverdient hierfür die fünf Sterne. Mehr gibt’s ja leider nicht.

Bewertung vom 20.04.2021
Der Junge, der das Universum verschlang
Dalton, Trent

Der Junge, der das Universum verschlang


ausgezeichnet

Vom toten blauen Zaunkönig

Das schräge, farbenfrohe dicke Buch mit seinen 560 Seiten fällt schon allein durch das prächtig gestaltete Cover, farbige Vorsatzblätter und ein wirklich prachtvolles Gesamt-Design auf. Und ich liebe gebundene Bücher mit Lesebändchen! Zwar ist der blaue Vogel auf dem Cover eher eine Meise als ein Zaunkönig(?), macht aber nichts.

Trent Dalton, der Autor, stammt aus Australien und da ich relativ selten Bücher aus Australien in Händen halte, ist dies in jedem Fall sowieso schon etwas ganz Besonderes. Alexander Weber hat kongenial übersetzt und ein großes Lob gebührt auch ihm.

Die möglicherweise autobiographische Geschichte des Autors, beginnt in den achtziger Jahren in Brisbane. Eli Bell erzählt in der Ich-Form, am Anfang ist er acht Jahre alt und sein Bruder August, genannt Gus, ist neun. Die Brüder leben zunächst mit ihrer Mum und ihrem geliebten Stiefvater Lyle (Ja, der ist hier ausnahmsweise mal der Gute!) in einem kleinen geerbten Häuschen, das Lyle von seinen Eltern bekommen hat. Wenn Mum und Lyle mal keine Zeit haben, weil sie Drogendeals einfädeln müssen, dann passt Slim, der engagierte Babysitter, auf die Brüder auf. Slim ist ein Ausbrecherkönig, soll einen Taxifahrer ermordet haben, aber er liebt die Kinder und sie lieben ihn. Der „richtige“ Vater der Brüder, Robert Bell, wird später auch noch eine größere Rolle spielen.

In den etwa zehn Jahren, die diesen Erzählbogen umspannen, da passiert unheimlich viel. Schönes, Schräges und auch sehr Schreckliches, was die Brüder in ihrer starken Gemeinschaft relativ gut verkraften. Manches erinnert an einen Episodenroman, obwohl immer dieselben Figuren eine Rolle spielen, wenn sich auch die Unterkünfte und die Betreuer im Laufe der Zeit ändern.

Eli, der unerschrockene Gefahrensucher, neigt oft dazu, sich in besonders katastrophale Situationen hinein zu manövrieren, wo er sicher am Anfang nicht abschätzen kann, wo das hinführt.
Elis Bruder Gus spricht nicht, obwohl er sprechen könnte. Meistens malt er Worte und Sätze in die Luft, die aber nur Eli erkennt. Oder die Brüder verstehen sich ganz ohne Worte.

Hin und wieder markierte ich Stellen mit Alben, Songs oder Fernsehserien, um mich in die Zeit hineinzuversetzen, in der der Roman spielt. Z. B. wird oft von der US-Amerikanischen Seifenoper „Days of Our Lives“ gesprochen, die startete tatsächlich im Jahr 1965 und wird bis heute(!) 2021 produziert.

Mit den auf Seite 114 erwähnten Aga-Kröten (Cane Toad) habe ich mich auch beschäftigt. Zitat: „[…] als ich sechs Aga-Kröten in den Gefrierschrank gesteckt habe, damit sie dort eines gnädigen Todes starben, und die zähen unansehnlichen Amphibien stattdessen in ihrem Tiefkühlsarg überlebten und Lyle, als er die Tür öffnete, um sich einen Feierabenddrink zu holen, auf seinen Eiswürfeln hockend anglotzten.“ – Einst, 1935, als Zuckerrohrkäfer-Vernichter ins Land geholt, hat sich diese giftige Krötenart in Australien derart vermehrt, dass inzwischen auf jeden Einwohner 420 Tiere kommen(!). Es hatte also fatale Folgen, das Ökosystem durch Menschenhand zu verändern.

Eli träumt davon Kriminalreporter bei der Courier-Mail zu werden, dort arbeitet auch die von ihm angebetete Caitlyn. Er möchte auch ein Haus im „Gap“ haben. Darüber unterhält er sich mit seinem Schulfreund und –feind Darren, der gibt seinen Senf dazu, S. 76: „Du musst ’nen Uniabschluss machen und dann bei irgendeinem Arschloch um ’nen Job betteln, damit er dich dreißig Jahre rumkommandiert, und du musst jeden Penny sparen, und wenn du endlich genug zusammengekratzt hast, gibt’s im Gap kein Haus mehr, das du kaufen kannst!“

Fazit: Wer Schräges und gleichermaßen Unterhaltsames lesen möchte, was teils krass gegen den Strich gebürstet ist, der ist hier genau richtig. Ein paar Lebensweisheiten und Weiterbildung gibt’s gratis dazu, denn wisst ihr, S. 433: […] der Sinn unseres Lebens besteht im Grund darin, das zu tun, was richtig ist, nicht das, was einfach ist.“ Fünf Sterne!

Bewertung vom 25.03.2021
Enriettas Vermächtnis
Madsack, Sylvia

Enriettas Vermächtnis


ausgezeichnet

Eine bizarre Konstellation

Sylvia Madsacks Roman „Enriettas Vermächtnis“ spielt in der Gegenwart, allerdings gänzlich ohne Corona. Denn die Protagonisten halten sich überwiegend in Hotels, Restaurants und Cafés auf, die natürlich alle geöffnet haben und die ihre Gäste mit ihren zahlreichen Spezialitäten herzlich willkommen heißen. Überhaupt spielen Essen & Trinken eine große Rolle.

Die Schauplätze des Romans sind Buenos Aires, Zürich und Salzburg. Besonders Salzburg und Umgebung wird so verheißungsvoll beschrieben, dass frau am liebsten sofort dorthin reisen möchte.

Worum geht es nun? Enrietta da Silva aus Argentinien, die titelgebende Figur ist hochbetagt verstorben und hinterlässt ein großes Vermögen an Bargeld und Immobilien, die aber veräußert werden sollen. Laut Testament beerben sie hälftig eine jüngere ehemalige Schauspielerin aus Salzburg, Jana, und ein Arzt aus Argentinien, Emilio. Die beiden kannten sich zuvor nicht. Der Schweizer Jurist und Testamentsvollstrecker Andreas Leuthard erweist sich nicht nur als hochprofessionell, sondern auch als psychologisch sehr versiert.

Als Jana und Emilio sich in der Kanzlei kennenlernen und später näher kommen, taucht Enriettas leiblicher Sohn auf, der im Testament nicht erwähnt wurde und von dem auch der Anwalt und Jana nichts wussten.
Armando da Silva ist überaus attraktiv, gilt als vermögender Verbrecher und ihm stehen nach Schweizer Recht außerdem drei Viertel des Riesenerbes zu. Das also ist die Ausgangssituation dieser bizarren Geschichte, deren Handlung und Charaktere natürlich frei erfunden sind. So steht es hinten und wird wohl gerade deshalb nicht stimmen.

Ich habe das Buch, was ich unbedingt haben wollte, innerhalb von vier Tagen verschlungen. Sehr untypisch für mich. Das Einzige, was mich gestört hat, ist, dass die Protagonisten sich sehr schnell sehr viel näher kommen, als es in der Realität sicher üblich ist.

Das Cover, die Wahl der Farben samt Haptik dieses wunderbaren Buches empfinde ich als überaus gelungen. Schrift und Zeilenfall stehen im perfekten Verhältnis und auch das von mir immer sehr geschätzte Lesebändchen ist vorhanden.

Fazit: Ja, ich bin neidisch auf die Protagonisten. Nicht weil sie viel Geld haben oder bald bekommen, sondern weil sie sich frei bewegen können, denn „Leben bedeutet, zu tun, nicht, zu unterlassen.“ (Seite 220) Viereinhalb Sterne.