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Benutzername: 
ninchenpinchen
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Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 02.04.2024
Lil
Gasser, Markus

Lil


sehr gut

Gesammelte Widerwärtigkeiten

Selten habe ich ein Buch in der Hand gehabt, wo das Cover so super zum Inhalt passt. Und schön gestaltet ist es auch. Das kommt ja m. E. neuerdings nicht so oft vor.

Zum Inhalt: Wir springen hier von etwa 1880 bis in die Gegenwart – mehr oder weniger. Ein Fundstück im Bauschutt bringt Sarah, die Nachfahrin der Protagonistin, zum Erzählen. Dabei tauscht sie sich oft – etwas gewöhnungsbedürftig zu Anfang – mit ihrer Dobermann-Hündin Miss Brontë aus.

Aber hauptsächlich geht es hier um Sarahs Großmutter, mit vierfachem „Ur-“ vorneweg (S. 12). Diese geschäftlich sehr, sehr erfolgreiche Vorfahrin heißt Lilian Cutting und wir erfahren von den gesammelten Widerwärtigkeiten, die ihr im Verlauf dieser Geschichte angetan werden. Und wie sie es schafft, das Ungemach elegant wieder abzuwenden.

Als Lils geliebter Ehemann Chev stirbt – und möglicherweise wurde er von seinem eigenen Sohn Robert vergiftet – ist Lil auf sich allein gestellt. Mehr oder weniger jedenfalls, denn Freunde hat sie nicht viele, von Jay und Colby Sandberg einmal abgesehen. Feinde hat sie dafür umso mehr und ihr größter Feind ist ihr eigener Sohn Robert. Denn Robert ist gierig und unfähig dazu und will an Lils Vermögen und dafür ist er zu jeder Schandtat fähig, sogar zum Mord. Aber zunächst wird Lil bei einem freiwilligen Besuch in der Nervenheilsanstalt Hops Island überrumpelt und gleich dabehalten. Der tonangebende Psychiater Matthew Fairwell nimmt sich unglaubliche Freiheiten heraus, um Lil zu demütigen und mit Morphium zu destabilisieren. (Ab S. 64) Lils schriftlicher Hilferuf per Brief an ihre Freundin Colby Sandberg fällt der Fairwellschen Zensur zum Opfer und landet irgendwo im Keller von Hops Island. Dort wird er dann etwa 140 Jahre später aufgefunden und gelangt in Sarahs Hände.

Die Dekadenz der reichen und mächtigen Belmorals und Vandermeers im historischen New York wird hier allerfeinst beschrieben. Aber eben auch, wie souverän Lil es schafft ihren eigenen Sohn zu besiegen und schon allein rhetorisch regelrecht platt zu walzen.

Es geistern noch andere Figuren durchs historische NY: So etwa Cora, Roberts Ehefrau, deren gemeinsame Tochter Libby und ein Asiate, Patenkind Zhu Cheng. Wichtige Rollen spielen noch Emma Golding und der Richter Stamford Brook.

Wir können vermuten, dass der Verfasser der Flach-Erde-Theorie zugeneigt ist und auch vom Gendern nicht viel hält. „Noch hielt sich ein kitschgelber Mond stur an dem Wirrwarr der Telegraphendrähte fest, einfach, weil er es satthatte, schon wieder unter die Erdscheibe gedrängelt zu werden.“ (S. 120)

Oder im privaten Zuhause überlegt der Richter mit seiner Frau, wie er mit der Anwältin Colby Sandberg umgehen soll: „Soll ich sie wie eine Frau behandeln oder wie einen Mann? Oder ist in letzter Zeit etwas Drittes hinzugekommen?“ (S. 125)

Fazit: Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten in den Roman herein zu finden, durch den etwas überambitionierten Schreibstil. Fand dann aber zunehmend mehr Vergnügen daran. Wer gerne einmal Ungewöhnliches liest, der ist hier – fern vom Einheitsbrei – genau richtig. 4 Sterne.

Bewertung vom 18.03.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Wer anderen eine Grube gräbt …

Was ich zunächst nicht wusste: Dieses schmale Büchlein von Lize Spit wurde in den Niederlanden in der boekenweek (Buchwoche) als Buchgeschenk zu einem gekauften Buch dazu gegeben. De boekenweek dauert neun Tage und findet jedes Jahr im März statt. Beim Kauf von mindestens 15 Euro an niederländischsprachiger Lektüre erhält man also ein speziell für diese boekenweek geschriebenes Buch. Diese Ehre, dieses Buchgeschenk schreiben zu dürfen, wurde also in diesem Jahr Lize Spit zuteil.

Beim Blauen Sofa in der Bertelsmann Repräsentanz in Berlin, Anfang März 2024, durfte ich nun diese bezaubernde und charmante Autorin persönlich kennenlernen und sie hat mir dieses Buch signiert. Mit einer ganz speziellen Widmung, die ich übersetzen muss. Ich verstehe das so, dass ich den Mansch vom Papri-Club unbedingt probieren soll. Und manchmal auch „Ja“ zu Dingen sagen soll, wo ich eigentlich „Nein“ sagen würde. Mal sehen …

Im „ehrlichen Finder“ geht es um die Freundschaft zweier Jungen und auch um das (schändliche) Ausnutzen des anderen unter der Vorspiegelung der Freundschaft. Und es zeigt sich auch, dass bei verschiedenen Nationalitäten eben unterschiedliche Werte zählen. Der kluge und einsame Jimmy kümmert sich aufopferungsvoll um den Migranten Tristan, indem er ihm nicht nur die Sprache beizubringen versucht, sondern auch die üblichen Verhaltensweisen. Jimmy gefällt auch die riesengroße Familie von Tristan. Denn er selbst hat keine Geschwister und sein Vater verschwand spurlos, nachdem er das halbe Dorf finanziell betrogen hatte. Kein guter Start für den Sohn in der Schule.

Was nun weiterhin geschieht, kann hier nicht verraten werden, nur so viel: Jimmys Gaben weiß man nicht zu schätzen und was man von ihm verlangt, ist viel, viel zu viel.

Lize Spit hat es verstanden, den wenigen Seiten Leben einzuhauchen und eine Geschichte aufzubauen, die es in sich hat. Und ja, manchmal braucht es viel Mut, um ein Feigling zu sein. (Frei zitiert von S. 109.) Warum das Buch aber diesen Titel trägt, das hat sich mir leider nicht erschlossen.

Das Cover bezieht sich auf Jimmys Flipposammlung. S. 32: „Von der Time-Serie und den Pop-up-Monstern hatte er noch am wenigsten. Diese beiden, die aus insgesamt lediglich vierzig Stück bestanden, erwischte man am schwersten.“ Deshalb also sind vierzig Kreise auf dem Cover. Und die Flippos findet man in Kartoffelchips-Tüten und natürlich soll damit der Verkauf der Ware angekurbelt werden. Gab es zuvor offensichtlich schon in Korea, Griechenland, England etc. aber in Deutschland (leider) nicht. Aus den Chips kann man einen wunderbaren Mansch herstellen, den Jimmy und Tristan im Geheimen genießen. In ihrem Papri-Club.

Fazit: Ich habe alle drei Bücher dieser fantastischen jungen Autorin gelesen und kann sie nur wärmstens empfehlen. Ihre Themen sind sehr unterschiedlich, nichts ist aufgewärmt und sie weiß genau, wovon sie schreibt und fühlt sich extrem in ihre Figuren ein. ****

Bewertung vom 10.03.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

Einer, den niemand will

Für diesen 832-Seiten-Roman mit dem schrecklichen Cover habe ich knappe vier Wochen gebraucht. Ich habe mich jeden einzelnen Tag so aufs Lesen gefreut, das war bei den beiden Vorgängern in 2024 leider nicht so. Trotz der Fülle hat also jeder Satz seine Daseinsberechtigung. Und ich muss Frau Kingsolver ein dickes Kompliment aussprechen, dass sie als ältere Autorin so zielgenau die Sprache der Jugend getroffen hat. Und das über diese vielen Seiten bravourös durchgehalten hat. Das Kompliment gebührt natürlich auch dem Übersetzer Dirk van Gunsteren.

Demon Copperhead, die Titelfigur und unser Ich-Erzähler, hat es schwer in dem Drogensumpf zu überleben, der schon seine Ankunft in dieser Welt überschattet. Sein Vater starb schon vor seiner Geburt und der Stiefvater, Stoner, ist brutal, machtgeil und weiß mit Demon nichts Besseres anzufangen, als ihn pausenlos aufs Übelste zu schikanieren. Demons Mom ist eigentlich nicht so übel, aber leider drogenabhängig und unfähig, sich gegenüber Stoner durchzusetzen. Als sie jung an einer Überdosis Oxy stirbt, verschwindet Stoner fluchtartig aus dem Trailer und aus Demons Leben.

Die Nachbarn: S. 19: „Und da sitzen sie jetzt auf ihren zusammengeflickten Veranden, eine einzige große Sippe, und über dem Ur-Trailer weht die ausgefranste Flagge. Eine Nation unter Schrott.“

Nach dem Tod der Mutter wird Demon pausenlos rumgereicht. Die Pflegefamilien, die ihn widerstrebend aufnehmen, nutzen ihn nur aus, nehmen aber das Pflegegeld gern entgegen. Oder lassen ihn arbeiten und kassieren den kompletten Lohn. Und Demon hat immer, immer Hunger. Auch der umschwärmte Held seiner Jugend, Fast Forward, nutzt alle seine Fans und Bewunderer letztlich nur aus.

Echte Freunde gibt es wenige: Maggot, der im Nachbartrailer wohnt. Tommy, den Demon auf einer Farm kennenlernt, auf der auch das Idol seiner Jugend, Fast Forward, wohnt. Und: nicht zu vergessen Angus, die Unvergleichliche. Bleiben noch die wenigen Erwachsenen, die es gut mit Demon meinen, die Peggots und Tante June. Später noch der Coach der Footballmannschaft, bei dem Demon dann zuletzt unterkommt. Die seltsame Großmutter väterlicherseits, Betsy Woodall, tut zwar Gutes, aber spät und nur zu ihren Konditionen.

Was zeichnet nun Demon aus, dass er die ganze Hölle übersteht? Jedenfalls bis er zum Coach kommt und dort vom Waisenkind zum Footballstar avanciert. Er ist hart im Nehmen, sehr hart und ja, er kann super-gut Comics zeichnen. Damit verdient er später sogar Geld. – S. 432: „Jeder warnt einen vor schlechten Einflüssen, aber das, was einen zu Fall bringt, trägt man schon in sich.“

S. 713: „Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.“ So trauert Demon um seine große Liebe Dori, eine weitere Drogentote in den Appalachen.

Zur Kritik gegen das System in USA: Tante June hatte ja einen Zwischenlover, der Pharma-Vertreter ist. Und da wird ganz deutlich erklärt, dass jeder Arzt, wenn er nur genug verschreibt, dann eine Golfreise machen darf oder alternativ nach Hawaii reisen kann. Für tutti, versteht sich. (siehe S. 372)

Mehr heftige Kritik gegen die Nation unter Schrott, bzw. für die sog. Hunde Amerikas gibt es jede Menge. Z. B. S. 576: „Wir waren mit Fernsehserien aufgewachsen, in denen Eltern Jobs hatten und die Kinder ihre Großstadtträume durch die Wahl ihrer Garderobe und mit Strömen von Geld auslebten.“

Befeuern solche Fernsehsendungen die armen Leute mit einer Wut und möchten sie, dass der Rest der Welt leiden soll, weil sie selbst so leiden? Siehe S. 754: „Man fragt sich, wie viel von dem, was auf der Welt passiert, von dieser Wut befeuert wird.“ – Demon dagegen ist erstaunlich unwütig. Selbst, als er in seiner größten Not aufs Übelste bestohlen wird, reagiert er nicht aggressiv.

Fazit: Hier ist Barbara Kingsolver ein großer Wurf gelungen, zu Recht mit Preisen überhäuft. Warum allerdings ausgerechnet ein Mainstream-Preis (der Pulitzer) an so ein amerika-kritisches Werk vergeben wird, ist mir schleierhaft. – Einfach eintauchen und sich diesem unwiderstehlichen Sog hingeben. Bin mal gespannt, ob mir dieses Jahr noch so ein super Highlight vergönnt sein wird. Vielleicht der Pulitzer-Zwilling? *****

Bewertung vom 14.02.2024
Die Spiele
Schmidt, Stephan

Die Spiele


weniger gut

Ein Sachbuch im Krimigewand

Hier haben wir von allem etwas: Ein wenig Krimi, ein wenig Liebesgeschichte, ein wenig Männerfreundschaft. Einen Bericht über die Arbeit von Journalisten und Diplomaten, Geheimdienst, Sport nicht zu vergessen. Denn die olympischen Spiele sind auch dabei, jedenfalls wird entschieden, wo sie demnächst stattfinden sollen. Das Ganze spielt in Shanghai 2021 und manchmal auch in Mosambik, aber dort um 1990 herum. Zwischen diesen beiden Orten, bzw. Ländern und den Zeiten wird auch wild hin und her geswitcht. Klingt das nach einer unbekömmlichen Mischung? * Ach ja, DDR habe ich noch vergessen. Nun, teils, teils.

Die ersten drei Viertel – bis auf die Leseprobe – sind recht zäh und nahmen mir fast jegliche Freude am Lesen. Das letzte Viertel ist dann leidlich spannend, leider mit einem Logikfehler, auf den ich hier nicht eingehen kann, sonst würde ich zu viel verraten. Da hat das Lektorat wohl was übersehen.

Die ausländischen Protagonisten, die hier in China die Machtspiele spielen, sind alle Säufer, bis auf die deutsche Diplomatin Lena. Zwischendurch gibt es noch einen ziemlich überflüssigen Besuch der deutschen Langzeitkanzlerin mit ihrer Truppe in Shanghai. Mit echten Namen der Truppe. Seltsam.

Zum Thema Männerfreundschaft: Der deutsche Journalist Thomas Gärtner und der Schwarze Charles Murandi aus Mosambik befreundeten sich vor siebenundzwanzig Jahren in Afrika. CM hat mal in der DDR gearbeitet und ist dabei, wie viele seiner Kollegen, betrogen worden. Finanziell. 2021 bestellt CM TG nach Shanghai, verspricht ihm dabei die Übergabe wichtiger, geheimer Papiere, bzw. Verträge. Um dieses Motiv herum rankt sich die Handlung.

Wer also hat Charles Murandi in Shanghai ermordet und warum? Thomas Gärtner wurde von den Hotelkameras gesehen, als er das Zimmer seines Freundes verließ, mit Papieren in der Hand. Es gibt auch noch einen anderen deutschen Journalisten, Sascha Daniels, der sich legal im Land aufhält – im Gegensatz zu Gärtner, der sich sein Visum rechtswidrig erschlichen hat.

Ein paar andere Figuren schleichen auch noch durch Shanghai: Da gibt es Kommissar Luo, seinen Vorgesetzen Herrn Pan, Lenas Vorgesetzten Dr. Hirsch, Lenas Haushaltshilfe Yaya, die neugierige Verkäuferin Tante Wu etc. In Mosambik gibt es auch noch so einiges an Personal, nebst Hund Lupo.

Fazit: Trotz bildschönem Cover konnte der Roman mich überhaupt nicht überzeugen und ich empfand das Lesen als Qual, habe oft an Abbruch gedacht. Denn die zähe, verworrene Handlung mit lauter saufenden, teils sexbesessenen, unsympathischen Protagonisten hat mir keinen Spaß bereitet. Ich finde den Roman nicht empfehlenswert. **

Bewertung vom 06.02.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


gut

Hier haben sogar die Teller Namen

21 Tage habe ich gebraucht für diese 732 Seiten, macht knapp 35 Seiten pro Tag, mein üblicher Durchschnitt. Meistens fiel das Lesen leicht und es war spannend und erhellend. Aber oft kamen auch endlose Seiten mit nichts als Geschwafel. Ich bin davon überzeugt, dass nicht einmal der eingefleischteste Kunstliebhaber dies hätte lesen mögen.

Soll heißen: an den richtigen Stellen gekürzt, so etwa auf 600 Seiten – ja auch das Abbrennen in der Prärie war teils Geschwafel – und die hätten dann auch gereicht. Dies zu Gunsten der Lektüre, sie wäre entscheidend flüssiger gewesen.

Wir haben hier also einen Eheroman, der zeitlich in die Digitalisierung hereinreicht. Es werden etwa zwanzig Jahre der Ehe von Elizabeth Augustine und Jack Baker verfolgt. Irgendwann kommt Toby dazu. Ihr erstaunlicher Junge, der leider zu Wutanfällen neigt. Die hat er vom Opa Augustine geerbt.

Jack stammt aus der Kansas-Prärie. Sein Vater, Farmer Lawrence, ist meistens gebührenpflichtig damit beschäftigt das Gras der Prärie abzubrennen. Die hoch religiöse Mutter schaut unentwegt fern. Eine ältere Vorzeigeschwester, Evelyn, gibt es auch noch. Ganz jung entflieht Jack aus dieser geistigen Enge nach Chicago.

Ein Glanzstück des Romans ist die Beerdigungsfeier von Lawrence, ab S. 602. Stilistisch gewagt, ich fand’s großartig – und oh – da fehlte doch jemand – oder etwa nicht?

Lobend erwähnen möchte ich auch die gelegentliche Systemkritik, z. B. auf S. 67: „Die industriellen Mächte, die über uns herrschen, wollen nicht, dass wir wissen, wie ungesund das Atmen heutzutage ist …“
Oder auf S. 234: „... das Gesundheitsministerium habe ein Patent auf das Ebolavirus und wolle die Seuche auf Amerika loslassen, um aus dem Impfstoff Profit zu schlagen; Ebola könne durch hoch dosiertes Vitamin C geheilt werden.“ Bzw., S. 438: „Und wenn Menschen Entscheidungen bezüglich ihrer Gesundheit fällen, sollten sie sich darauf verlassen können, dass sie nicht angelogen werden.“

Oder Erkenntnisse, die für mich gänzlich neu waren, S. 187: „… dass aus Kindern, die Angst vor neuen Speisen hatten, Erwachsene wurden, die Angst vor neuen Situationen, neuen Orten und sogar neuen Kontakten hatten …“

Zwischen großartig und schwafelig auch die beschriebenen Facebook-Manipulationen. Und als Jack sich mit seinem Vater via FB streitet, wäre auch weniger mehr gewesen. Alles über – sage und schreibe – 52 Seiten!

Elizabeth dagegen stammt aus einer reichen, sehr reichen, Familie, sozusagen aus einer Abzocker Dynastie. Wo jeder der männlichen Vorfahren finanziell über Leichen gegangen ist. Deshalb will sie mit diesem ganzen Materialismus nichts mehr zu tun haben und flieht nach Chicago.

Jack lehrt als Dozent ungewöhnliche Fotokunst. Und E. hat eine maßgebliche Stelle bei Wellness, dem titelgebenden Institut, das sich hauptsächlich mit der Wirkung von Placebos beschäftigt.

M. E. versucht der Roman, bzw. der Autor, an zu vielen Stellen Aufmerksamkeit zu erregen. Bei mir entstand so das Gefühl, dass aus jedem Dorf ein Hund näher betrachtet werden müsse, bis tief ins Fell hinein, damit noch jedem Floh ins Gehirn geleuchtet werden könnte. So verzettelt sich der Autor in Details, die allerdings teilweise hoch interessant sind. Auch wenn man sich am Ende fragt: Was habe ich da eigentlich gelesen? Und worum ging es überhaupt?

Trotz allem konnte ich mit den Protagonisten nicht warm werden und hätte mit keinem von ihnen befreundet sein mögen. Zum Thema Freundschaft: Hier fiel mir noch auf, dass Freunde hier rar gesät sind, bei ihr gibt es Eintagsfliegen und bei ihm (und auch ihr) eigentlich nur den Bauleiter von The Shipworks: Ben Quince.

The Shipworks ist ein sehr umstrittenes Bauvorhaben, in das E. und J. investiert haben. Für eine zukünftige Eigentumswohnung. Das viele Geld dafür hat E. bei einem sehr zweifelhaften Projekt verdient.

Fazit: Alles in allem hat mich das Buch nicht so überzeugt, auch wenn ich drangeblieben bin. Aber einige verblüffende Erkenntnisse hat es schon gebracht, deshalb 3 Sterne. Hätte das Lektorat es verstanden, den Roman auf etwa 600 Seiten einzudampfen, wären es bei mir sicher 4 Sterne geworden.

Bewertung vom 22.01.2024
Mein Herz ist eine Krähe
Nordquist, Lina

Mein Herz ist eine Krähe


ausgezeichnet

Hütet der Wald alle Geheimnisse?

Mit dem deutschen Titel: „Mein Herz ist eine Krähe“ konnte ich wenig anfangen, mit dem Inhalt allerdings umso mehr. Auch wenn er schwer – bis extrem schwer – verdaulich ist. Vieles begreift man erst zum Schluss, warum die Protagonisten so agieren, wie sie agieren.

Der schwedische Titel, übersetzt: „Wohin du gehst, folge ich“ trifft es bedeutend besser. Auch wenn hin und wieder mal eine Krähe im Roman vorkommt.

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen, also etwa um 1900 und später etwa um 1973 oder ab da. Im Wesentlichen spielt sich alles in einer einsamen Kate namens „Frieden“ im schwedischen Wald ab. Und in der Umgebung der Kate. Dennoch ist hier eine ganze Welt dieses Romans zu finden und die familiäre Verbundenheit der insgesamt neun Personen, die hier die Hauptrolle spielen.

Das sind um 1900 Unni, Armod, ihr Geliebter, und Unnis kleiner Sohn Roar. Dazu kommen später noch zwei gemeinsame Kinder: Tone Amalie und Brita Elise.

Ab 1973 ist dann aus der ersten Zeitebene nur noch Roar vertreten, dazu Bricken, seine Frau, der gemeinsame Sohn Dag und Kara, Dags Frau. Später kommt noch der kleine Bo dazu. Und die Kate wurde natürlich um einen ersten Stock ergänzt. Oben wohnen Dag, Kara und Bo.

Der Roman ist unglaublich gut geschrieben, das Glück und Leid der Familie erlebt der Leser wirklich hautnah mit und es geht auch tief unter die Haut. Der große Boss wartet also nie, bis alle sich vom Unglück erholt haben, sondern es kommt stellenweise so knüppeldicke, dass man am liebsten mit heulen möchte. Oder mal Luft schnappen und etwas Positiveres zwischendurch lesen. Also: Minuslektüre vom Feinsten.

Dazu ein wunderbares Cover, hochwertiges Papier, Ganzleinen, wie man es heutzutage nur noch ganz selten – oder eben bei Diogenes – findet. Zum aller feinsten Lesegefühl fehlt also nur noch das Lesebändchen.

Fazit: Wirklich selten Minuslektüre gelesen, die derart gut geschrieben ist. Hier möchte man ja schon als Leser einen Mord begehen. Und mehr als fünf Sterne gibt es ja nicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


weniger gut

So schade, wie sie sich hier verzettelt

Da ich ein großer Fan von Sigrid Nunez bin und etliche ihrer Bücher mit Freude gelesen habe – u. a. „Der Freund“ (5 Sterne, überaus empfehlenswert) bin ich nun so bitter enttäuscht von „Die Verletzlichen“, dass ich dafür höchstens 2 Sterne vergeben kann.

Ein roter Faden fehlt absolut, hier wurde ein Leipziger Allerlei gekocht, so dass ein großes (nicht schmackhaftes) Durcheinander entstanden ist. Sozusagen aneinandergereihte Intermezzi. Es ist nun nicht so, dass ich die einzelnen Aussagen so schrecklich finde, aber ich wollte einen Roman lesen und keine Wortschnipsel, bzw. Puzzlestücke von hier, da und dort. Aus ihrer Jugend, aus dem Freundinnenkreis zu ganz anderer Zeit und ja – manchmal auch – tatsächlich doch aus Papageienhausen. So wie es eigentlich bei diesem Roman sein sollte.

Die wenigen Versatzstücke, wo es um die eigentliche Geschichte geht, die gefielen mir gut und das sollte auch so sein. Ein Papagei ist ein kluges Tier und Eureka (ein Männchen?) scheint besonders intelligent zu sein. Auch der junge Mann, der ursprünglich auf Eureka aufpassen sollte, ist ein besonderes Exemplar seiner Gattung. Davon hätte man gerne mehr gehabt. Hier wäre sicher eine Kurzgeschichte, die beim Thema blieb, bei Weitem gefälliger gewesen.

Zwischenzeitlich, als ich vom „Roman“ noch nicht so genervt war, hatte ich mir noch von SN „Sempre Susan“ bestellt, da ich ansonsten alle auf Deutsch erschienenen Romane von ihr kenne. Okay, „Sempre Susan“ werde ich noch lesen, aber ansonsten werde ich mich in Zukunft von dieser Autorin verabschieden. Vielleicht hat sie auch bereits einfach ihr Pulver verschossen?

„Seit Jahren entmutigte mich die zunehmende Verschandelung: die brutalen Wolkenkratzer, die Müllberge und der Höllenlärm, grelle Werbung, wohin man blickte.“ Seite 112. Die Rede ist hier von New York, meine Frage dazu: Warum wohnt sie dann da? (Im Klappentext steht, dass sie in New York City lebt.)

Noch ein paar Worte zum Cover: für mich das scheußlichste Cover meiner umfangreichen Leseliste 2023. An die Designer: Das könnt ihr doch besser, siehe „Der Freund“.

Fazit: Von Politik über Bratkartoffeln – oder aus jedem Dorf ein Hund – das muss man echt nicht haben. Zudem teile ich ihre politischen Ansichten so was von gar nicht. Politik hat auch in Belletristik m. E. nach nichts zu suchen. Dafür gibt es Sachbücher, Punkt.

Bewertung vom 13.12.2023
Die sieben Monde des Maali Almeida
Karunatilaka, Shehan

Die sieben Monde des Maali Almeida


ausgezeichnet

Sri Lanka Roulette

Dieser gewaltige Roman kommt anfangs sehr befremdlich daher. Ist doch der normale Sterbliche nicht gewohnt, vom Jenseits zu lesen. Von langen Schlangen an Schaltern in der Anderswelt, von weiß bekittelten Helfern, von Dämonen, Hellsehern und Flüsterern. Von Bürokratie und Gehirnwäsche – auch drüben. Siehe dazu S. 26: „Sir, verschwinden wir von hier. Hier warten nur Gehirnwäsche und Bürokratie. So wie in jedem anderen Gebäude dieses Unterdrückerstaats.“

Es gibt Geister verschiedenster Kategorien: Ghouls, Selbstmörder und sogar tote Tiere, die sprechen können. Und, wie bei uns auch, gibt es Helfer und Steine-in-den-Weg-Leger und ganz viel dazwischen. S. 374: „Du fragst dich, wer Dr. Ranee ins Ohr flüstert und wer ihrem Flüsterer und wie viele unserer Gedanken eigentlich das Geflüster anderer Leute sind.“ (Dr. Ranee gehört zu den Helfern im Jenseits.) Und wieder einmal hat Dr. Ranee recht: „Es geht hier draußen nicht um Gut gegen Böse. Es geht um zahlreiche Abstufungen des Schlechten, um einen Wettstreit diverser Sündergrüppchen.“ S. 380.

„Für Atmende sind Geister so unsichtbar wie Schuld, Schwerkraft, Strom und Gedanken. Tausende verborgene Hände lenken ein jedes Leben.“ S. 476.

Der Erzähler hier in unserem preisgekrönten Roman ist Malinda Albert Kabalana, geboren 1955, ermordet 1990. Vom wem er ermordet wurde, das weiß er nicht. Aber er wüsste es gern. Außerdem möchte er posthum die zahlreichen Fotos, die er – der Profi-Fotograf – geschossen hat, veröffentlicht sehen. Am besten in der Galerie „The Lionel Wendt“ in Colombo, die vom wohlmeinenden Clarantha de Mel dirigiert wird. Vorhanden sind auch hier verschiedenste Kategorien von Fotos: von Leichen, von Folteropfern, von Massakern – aber auch schöne Lichtbilder seiner beiden Liebsten DD und Jaki. Und von außergewöhnlichen Tieren, z. B. vom Schuppentier.

Das Gefährliche an diesen Fotos ist, dass verschiedene „Bestien“ aus Politik und Militär das nun gar nicht mögen, zumal es ihre hoch kriminellen Machenschaften bloßstellen würde. So jagen sie mit vereinten Kräften den Fotos hinterher und natürlich auch den Negativen. Vor Mord, Totschlag und Folter scheuen sie nie zurück. Aber haben sie Maali Almeida auch umgebracht – oder umbringen lassen? Und wie kann Maali Almeida aus dem Jenseits verhindern, dass die Fotos in falsche Hände geraten? Jedenfalls die, die er nicht schon zu Lebzeiten an verschiedene Organisationen und Presseagenturen verkauft hat?

Über die Korruption im Land wird viel zitiert, z. B. auf Seite 334: „In einem Land, in dem die halbe Bevölkerung sich kein Telefon im Haus leisten kann, hat der Minister eins im Auto.“ Oder, wie der getötete Journalist auf Seite 443 erzählte: „Selbst, wenn das Land tief in den Schulden steckt, selbst wenn Kriege eskalieren, Fluten die Ernte ertränken und Dürren die Saat verdorren lassen, selbst wenn die Wirtschaft abschmiert und die Inflation davongaloppiert, bleibt im Haushalt immer noch Platz, um jeden Minister mit drei Luxuskarossen auszustatten.“

Viele Namen, viele Organisationen in Sri Lanka und in anderen Ländern lassen den Leser manchmal ratlos zurück und gelegentlich hilft auch das Register der Lebenden und der Toten, samt Stadtplan, am Schluss nicht weiter. Zu vielschichtig ist die Handlung und zu unübersichtlich. Aber gelegentlich auch witzig: „Ich habe mir gedacht, die Reinkarnation ist billiger als die Geschlechtsumwandlung.“ So spricht eine verhinderte Dragqueen zu unserem Erzähler auf Seite 396.

Sieben Monde hat er Zeit, der Erzähler und das ist nicht viel, denn die Monde wechseln täglich. Nicht so, wie bei uns. Dann, am Ende, kann er entscheiden, ob er ins Licht gehen möchte oder vielleicht dorthin, wohin er am meisten gehört.

Fazit: Den Booker Prize 2022 hat er redlich verdient, Respekt, Mr. Shehan Karunatilaka. Ausgezeichnete, sehr ungewöhnliche Literatur über das Jenseits und Diesseits. Und etliche Weisheiten daraus können wir uns dauerhaft auf unsere Fahne schreiben.

Bewertung vom 30.10.2023
Ein Fluss so rot und schwarz
Ryan, Anthony

Ein Fluss so rot und schwarz


sehr gut

Die echte Pandemie – auch menschengemacht

Die Ausgangssituation in diesem Roman fand ich sehr spannend: Sieben Menschen auf einem ferngesteuerten Militärboot, alle ohne Gedächtnis. Und ebenso ohne Möglichkeiten, selbstbestimmt einzugreifen. Drei Männer und drei Frauen bleiben übrig, als einer sich erschießt. Irgendwie war es mir schon klar, dass dies eine „Zehn-kleine-Negerlein-Geschichte“ werden würde. Und das wurde es auch. Mehr möchte ich aber an dieser Stelle nicht verraten.

Diese sechs übriggebliebenen Menschen misstrauen einander zutiefst und sie haben alle Narben auf dem Kopf von einer kürzlich erfolgten Operation, denn die Einschnitte sind zwar verheilt, aber relativ frisch. Jeder hat auch eine Namenstätowierung auf dem rechten Unterarm. Alle Namen sind Schriftstellernamen, drei weibliche: Dickinson, Plath & Rhys. Und drei männliche: Pynchon, Huxley & Golding. Huxley ist hier die Hauptfigur und anhand seiner Fähigkeiten muss er wohl Polizist o. Ä. gewesen sein. Des Selbstmörders Tätowierung war Conrad.

Sie alle sind auf einer Bootsreise, die in die Themse mündet. Und je näher sie an London kommen, je schwieriger wird die Lage und es gibt Verluste. Alles ist ständig in einen roten, undurchdringlichen Nebel gehüllt. Dazu ertönen grauenvolle Schreie aus der Ferne, kommen aber langsam näher. Eine Flucht ist unmöglich, denn das beigefügte Schlauchboot taugt dafür nicht und ist auch nicht schnell. Die Situation wird immer bedrohlicher. Stumpfe Befehle, emotionslos, ohne Erklärungen, kommen via Satellitentelefon und nach und nach erfahren die Reisenden zwar mehr über ihre erzwungene Mission, aber nie die ganze Wahrheit.

Kleines Nachdenken über die o. g. Schriftstellernamen zwischendurch: Ich muss gestehen, dass mir der Name Rhys gar nichts sagte, so habe ich mir jetzt von Jean Rhys ihr berühmtestes Buch bestellt: „Die weite Sargassosee“.

Viele Textstellen, die ich mir angemarkert habe, kann ich hier nicht wiedergeben, ohne zu viel zu verraten, aber drei sollen erwähnt werden: S. 182: „Sagen wir mal, du bist eine außerirdische Zivilisation und stößt auf einen hübschen blaugrünen Planeten, den du kolonisieren willst. Das Problem ist, dass er von ein paar Milliarden vernunftbegabter Affen bewohnt ist. Oder befallen, wie man’s nimmt. Nicht nur würden die ziemlich sauer reagieren, wenn du hier aufkreuzt, sondern die vergiften den Planeten auch mit allem möglichen chemischen Zeugs. Vielleicht war es für die Außerirdischen so, wie wir eine Zimmerpflanze mit Insektenspray einsprühen.“ (Huxley an Rhys.)

Seite 247: „Immerhin haben wir eine richtig abgefuckte Welt geschaffen, in der sie gedeihen können. (Mit „sie“ sind hier die Psychopathen, Soziopathen und die selbstsüchtigen Gestörten gemeint.) Eine Welt, in der wir uns von gierigen Lügnern regieren lassen, die sich ständig in die eigene Tasche wirtschaften.“ (Rhys an Huxley)

Seite 251: „Wir sind die Anomalie. Eine Spezies, die so erfolgreich ist, dass sie ihre Umwelt verschlingt und damit ihren eigenen Untergang sichert. Was jetzt geschieht, ist lediglich ein notwendiges Korrektiv.“ (Plath an Rhys und Huxley)

Wie so oft, wenn Menschen, die bunt zusammengewürfelt sind, an einem Ort quasi zusammengepfercht werden, gibt es Sympathien und Antipathien. Das kommt auch gut rüber, vor allem in den Dialogen. Bei der Beschreibung der äußeren Merkmale der „gesunden“ Menschen müssen wir allerdings Abstriche machen.

Fazit: Der Roman ist hochspannend und ein echter Pageturner. Wer Dystopien mit blutigem Gemetzel und fragwürdigem Ende gut ertragen kann, der wird hier kreativ bedient. 3,5 Sterne runde ich auf 4 Sterne auf.

Bewertung vom 27.10.2023
Die Privilegierten
Steinaecker, Thomas von

Die Privilegierten


weniger gut

Bedient das Narrativ

Da ich den Roman der Longlist 2023, der später in die Shortlist kam, „Muna“ gelesen hatte, wollte ich auch ganz bewusst einen Roman lesen, der in diesem Jahr nicht nominiert wurde. Und das war dann eben Thomas von Steinaeckers „Die Privilegierten“ mit 623 Seiten.

Der Roman beginnt mit dem Schulalter des Protagonisten und Ich-Erzählers Bastian Klecka und endet weit in der Zukunft, etwa im Jahr 2039. Er umspannt also ungefähr sechzig Jahre. Die Geschichte hat herausragende Momente, besonders bei den Tiergeschichten: drei Mal Katze, einmal Wolf. Dazu kommt Bastians Verzweiflung im Alter, die so berührend und nachvollziehbar beschrieben ist, dass man nicht nur mitfühlt, sondern sogar Angst bekommt vor dem möglichen eigenen Erleben solcher Zustände. Respekt!

Eine lebenslange Freundschaft verbindet die drei Klassenkameraden: Bastian, Ilie Popescu und Madita. Sie gründen den „Klub der Katze“. Auch wenn die Berufe, Lebenswege und späteren Wohnorte dieser drei Freunde so unterschiedlich sind, wie sie nur sein können, halten sie immer Kontakt, mal mehr, mal weniger, aber immer.

Bastians Eltern sterben früh bei einem Unfall und der Großvater zieht ihn auf. Wir lesen von seiner Schul- und Studentenzeit, bis zur Heirat und Geburt des Sohnes Samy und weit darüber hinaus. Über Berufs- und Wohnortwechsel, alles sehr ausführlich und streckenweise auch recht langatmig.

Das Kennen- und Liebenlernen der späteren Ehefrau Brigitte bleibt für mich sehr blass. Die gegenseitigen Abmachungen und Vereinbarungen, z. B. wer aufs Kind aufpasst, wirken roboterhaft und unglaubwürdig. Schublade auf, Absprache raus, Schublade wieder zu. Sogar die Streitigkeiten der Eheleute wirken seltsam unecht. Die Stärken des Autors liegen eindeutig woanders. Siehe oben.

Kommen wir zur unerquicklichen Bedienung des gerade gängigen Narrativs, dafür gibt es hier unzählige Beispiele. Mit dem jetzigen Wissen: Ich hätte dies Buch nicht lesen mögen. Das können leider auch die oben erwähnten herausragenden Momente nicht wettmachen. S. 187: „Ich hielt immer zu den Demokraten, den Schwarzen, Homosexuellen und anderen benachteiligten Minderheiten. […] Ich war zwar weiß, deutsch, wohlhabend, männlich, mittelalt. Doch am Ende des Tages gehörte ich zu den Guten.“

Und ja, es geht noch weiter, S. 242: „Madita hatte sich zunächst geweigert, nach Ibiza mit dem Flugzeug zu reisen. Erst nach einer nächtlichen Konferenzschaltung, in deren Verlauf Ilie und ich ihr versprechen mussten, ein dreistelliges CO2-Zertifikat zu kaufen, hatte sie sich breitschlagen lassen.“

S. 245: „[…] wir diskutierten sehr angeregt-produktiv über Trump und die sehr offensichtlich unvermeidbare rechte Apokalypse.“ Es folgen die „Unwörter“, die man nicht mehr sagen darf, wie z. B. „Zigeuner“, S. 268.

S. 284: „Der Sender vertrat eine extrem liberale Gesinnung.“ Und dann, Achtung aufgepasst: „Wäre bekannt geworden, dass jemand aus den Redaktionen AfD wählt oder eine abweichende Gesinnung vertrat, wäre er früher oder später gegangen worden.“ Das ist nun wirklich extrem liberal. Satire aus.

Und nein, es hört noch nicht auf, S. 298: „Die Kirchensteuer konnte man ohnehin sinnvoller verwenden, für NGO-Projekte in Afrika oder CO2-Zertifikate zum Beispiel.“ Oder auf Seite 376: „was sie oder er sich für die Zukunft in Deutschland erhoffe, mehr Toleranz gegenüber Geflüchteten, mehr Diversity, mehr alternative Energien, mehr Kreativität, mehr Farbe, ja, als ein winziges Mädchen piepste, sie wünsche sich mehr Frauenpower in Führungspositionen, […] und mir war … auf einmal nicht mehr bange um die Zukunft.“

Selten gibt es auch Gegenstimmen, natürlich von jemandem, der abwegige Thesen verbreitet, so meint es Bastian, der so Empathie bewusste Erzähler. Also der abwegige Thesen-Verbreiter stellt auf Seite 471 die historische Einmaligkeit des Holocausts angesichts des Genozids im osmanischen Reich und in Ruanda in Frage. – Also ja, auch andere Völker als die Deutschen haben sich des Genozids schuldig gemacht, sogar viel neueren Datums. Quelle Spiegel, diverse Artikel: „In nur hundert Tagen töteten radikale Hutu 1994 in Ruanda rund 800.000 Tutsi und gemäßigte Hutu, die sich weigerten mitzumachen.“ Natürlich hat derlei normalerweise in einer Rezension nichts zu suchen, aber ich möchte den zahlreichen o. g. Zitaten etwas entgegensetzen. Und politisiert wird ja in diesem Roman reichlich.

Fazit: Wer auch nur ansatzweise mit der derzeitigen Politik im Lande nicht einverstanden ist, der sollte diesen Roman lieber nicht lesen. Denn zu viel Meinungsmache verdirbt das Lesevergnügen.