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MarieOn

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Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2023
Liebewesen
Schmitt, Caroline

Liebewesen


ausgezeichnet

Lios beste Freundin Mariam will Lio verkuppeln. Wie immer in ihrem Leben lässt Lio sich auf ein arrangiertes Treffen ein, weil sie vergessen hat Nein zu sagen. Also lernt Lio, Max während einer Kunstausstellung kennen und die Stimmung zwischen den beiden ist so abgefahren, dass ich gleich denke, die sind wie füreinander gemacht. Ihr zweites Treffen endet in Max Badewanne. Alles zwischen den beiden ist unschuldig, verspielt aber dennoch kompliziert. Lio hat ein seltsames Verhältnis zu ihrem Körper, ne eigentlich gar keins.

Ich tat, was ich immer getan hatte wenn mein Körper wie ein All-you-can-eat-Buffet geplündert wurde. Ich wartete , bis der Kunde satt war und sich verpisste.

Max ist nähesuchend, kann gar nicht genug von Lio kriegen, Lio geht auf Distanz und versucht alles zu kontrollieren, was ihr nicht gelingt. Als die beiden zum ersten Mal miteinander schlafen, ist es auch Lios erstes Mal, eigentlich, also das erste Mal, dass sie es auch will. Will sie das eigentlich? Währenddessen schaut die Autorin in Lios Kopf, der mir erklärt, warum sie so verkrampft unter Max liegt.

Es war ein Dorffest, das für Lio damit endete, dass ein besoffener glatzköpfiger Typ mit Alkoholfahne grunzend auf ihr liegt und ihre minimale Wehrhaftigkeit für Zustimmung hält. Glaubt, sich einreden zu dürfen, dass Lio mal ordentlich rangenommen werden wollte.

Im Laufe der Geschichte denkt Lio über ihre kaltschnäuzige Mutter nach, die Lio mehrfach nach der Schule mit dem Kochlöffel in der Hand empfängt, einfach weil sie schlechte Laune hat und ein Ventil braucht um sie abzulassen.

Max braucht Lio, sieht in ihr die Frau, die ihn auffängt, führt, hämelt, bestätigt, ihn versteht, seinen verloren gegangenen Selbstwert aufbaut und seine Herbst-Winter Depression aushält. Lio braucht Max, um ihren Körper und ihre Wut zu verstehen.

Die Charaktere sind so klar, dass ich das Bedürfnis verspüre Einfluss zu nehmen, den beiden zu helfen, zu sich zu finden.

Fazit: Die Autorin hat eine zutiefst abgefuckte Liebesgeschichte geschaffen. Die Sprache ist destruktiv, ein bisschen schmutzig und extrem unterhaltsam. Die Dialoge sind so unverkrampft, verspielt, realistisch und amüsant, als stünde ich gerne dabei und würde zuhören. Das Thema, was traumatische Erlebnisse mit uns machen, hätte besser, als im Austausch zwischen Lio und Max nicht gezeichnet werden können. Es ist ein zutiefst eigenwilliges Buch, das beste, das ich in diesem Jahr bisher gelesen habe.

Bewertung vom 12.09.2023
Wo du mich findest
Barns, Anne

Wo du mich findest


ausgezeichnet

Sophie hat zwei schwere Verluste hinzunehmen. Zuerst, ging ihr über alles geliebter Vater, der sie durch sein Vorleben zutiefst geprägt hat. Sie teilt seine Liebe zu den musischen Künsten, vor allem jedoch zur Literatur. Und weil Sophie zweisprachig aufgewachsen ist, übersetzt sie französische Klassiker wie Balzac. Ihre geliebte Freundin Tessa hat sie ebenfalls verlassen, viel zu früh und unerwartet.

Sophie trägt ihre Trauer still vor sich her. Weil sie nachdenken will fährt sie ohne ihren Mann, jedoch mit Tessas Hund Lotte nach Rügen. Ein Mann ihres Alters verfängt sich in einem Café in Lottes Hundeleine. Sophie erschreckt und schüttet ihm ihren Kaffee über das Hemd. Er nimmt ihre Entschuldigung an und eilt davon.

S. 38 Sophie besucht Tessas Mutter, sie fallen sich in die Arme, die Szene ist so traurig.

An der Wand über dem wuchtigen Eichentisch im Esszimmer hingen neue Fotos. Auf jedem davon Tessa. Mit ihren Eltern, den Großeltern, ihrer Schwester Uta, ihrem Neffen Tom. Mit mir. Immer war jemand bei ihr, der sie liebte.

Als Sophie wieder zuhause ist verändert sich einiges. Sie erwacht nachts neben ihrem schlafenden Mann, weil sie von dem Fremden auf Rügen geträumt hat. Als er sich auch in ihre Tagträume schleicht, fühlt sie sich wie eine Betrügerin, aber sie kann nicht anders, als sich darauf einzulassen. Sie entfremdet sich von ihrem Mann und fährt nach Rügen, weil sie den Fremden finden muss.

Auf der Insel lernt sie ihre Vermieterin Marlene kennen und schätzen. Auch Marlene versucht einen Verlust zu bewältigen und damit zu leben.

Fazit: Die Schreibsprache ist zutiefst melancholisch, dennoch trägt Sophie ihren Schmerz mit Würde. Sie verliert sich nicht darin, sondern versucht das Beste daraus zu machen. Es ist die zugleich traurigste und hoffnungsvollste Geschichte, die ich in in der letzten Zeit gelesen habe, sehr berührend.

Bewertung vom 11.09.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


gut

Eine Frau mittleren Alters versucht sich an neue Lebensumstände zu gewöhnen. Ihre beiden Kinder sind jetzt alt genug ihr eigenes Leben zu führen und der Auszug, nur eine Frage der Zeit. Die Frau hat Freunde, mag aber auch gerne allein sein. Gedankenreich läßt die Autorin mich an ihrer Innenschau teilnehmen. Sie denkt sich zurück in ihre Kindheit, wo sie mit ihren Eltern und ihren beiden Zwillingsgeschwisterpaaren in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist. Sie kam sich in dem Familienverbund nicht nur äußerlich anders vor, sondern fühlte sich als Außenstehende. In einem Gespräch mit der Mutter bagatellisiert diese, die Gefühle ihrer Tochter, anders behandelt worden zu sein. Sie war die älteste und zog als erstes aus, mit 17 Jahren nach Wien, 700 Kilometer weit von den Eltern weg.

Die Frau lässt ihr Leben revue passieren, ihre ersten Liebhaber, ihre Ehe, die nicht gehalten hat, was sie sich davon versprochen hatte. Sie erzählt ganz eindringlich von der Geburt ihrer Zwillinge, wie sie selbst auf Händen getragen wurde, solange sie in den Wehen lag, wie sie aufgeschnitten wurde, wie ihr die Kinder weggenommen wurden, weil sie Frühchen waren und wieviel sie darüber weinte und wie dann alle von ihr erwarteten, dass sie ihre Kinder stillte und ihr ins Gewissen redeten.

Ganz vieles Andere hat sie allerdings vergessen und verloren. Als ihre Tochter ihr Briefe ihrer eigenen Mutter vorliest, die ein ganz liebevolles Bild ihrer Beziehung zu ihren Eltern widerspiegeln, so ganz anders, als sie selbst ihre Eltern beschreibt, kommt mir kurz der Gedanke, dass sie dissoziativ sein könnte. Situationen, die sich nicht gut angefühlt haben, verdrängt hat. Ein Abwehrmechanismus, dessen sich viele bedienen.

Auf Seite 126 führt die Autorin eine Familienchoreografie auf und lässt alle Geschwister auf der Kücheneckbank, ihren angestammten Platz finden, das hat mir gefallen. Zum Schluss, ihre Beschreibung der Winterlandschaft ebenso. Ein paar Spritzer Humor sind eingeflossen und bringen ein wenig emotionalen Schwung in die Szenen.

Fazit: Die Geschichte hat mich nicht mitgenommen. Für mich ist es ein Wohlfühlbuch, das ohne große Gesten, erschütternde Ereignisse, oder interessanter Wendungen, so vor sich dahinplätschert. Trotz einiger Ansätze, die man gerne hätte vertiefen können, blieben auch schwierige Themen an der Oberfläche und zogen an mir vorbei, ohne mich zu berühren.

Bewertung vom 11.09.2023
Bei euch ist es immer so unheimlich still
Schröder, Alena

Bei euch ist es immer so unheimlich still


ausgezeichnet

Silvia Borowski war ungewollt schwanger, von Martin, dem angehende Juristen und zukünftigen Seniorpartner der Kanzlei seines Vaters. Nachdem Martin es erfahren hat distanziert er sich vehement von Silvia. Die verlässt fluchtartig die Wohngemeinschaft, mit ihrer kleinen Tochter Hannah, klaut Dirks Polo und fährt zügig heim zu ihrer Mutter nach Ildingen.

Sie hat ihre Mutter Evelyn schon lange nicht mehr gesehen und ist nervös, als sie vor ihrer Tür steht. Als Evelyn öffnet sieht sie anders aus, als Silvia sie in Erinnerung hat. Schmal, zierlich und ungepflegt, die Frau Doktor, die immer so viel Wert auf ihr Äußeres gelegt hat, wegen “der Leut”.

Evelyn hatte vor Silvias Geburt Medizin studiert. Sie war eine Waise, weil ihre Mutter abgehauen war. Sie wuchs bei einer Pflegerin auf und lernte alles über die Krankenpflege. Später wurde sie liebevoll von Karls Familie aufgenommen, ihrem späteren Mann. Kurz nach ihrem Studium geriet sie unter Druck, weil das herbeigesehnte Kind nicht kommen wollte.

Eine Hochstaplerin war sie. Ein Findelkind, aufgenommen von der angesehensten und wohlhabendsten Familie des Ortes. Hatte sich den Sohn geschnappt, einen netten, klugen Mann, der wie durch ein Wunder unversehrt aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt war, der ihre Berufung teilte und ihr auch nach der Hochzeit zu arbeiten erlaubte, der ihr nie auch nur den leisesten Vorwurf machte und sie vor seinen Eltern in Schutz nahm. Diesem Mann konnte sie kein Kind schenken, ihren Gönnern keinen Enkel. S. 40

Als das Wunder dann doch noch passierte blieb sie zu Hause, kümmerte sich mit einer Hilfe um Kind und Haushalt und wurde wegen der mangelnden Anerkennung immer unglücklicher. Ihre Tochter merkte das und fühlte sich schuldig.

Die Geschichte spricht von Evelyns Gefühl der Minderwertigkeit. So wertlos zu sein, dass ihre Mutter sie verlassen hat. Das Gefühl, versucht sie durch Disziplin, Perfektion, Härte und Leistung zu kompensieren. Sie hat enorm hohe Erwartungen an sich selbst, ihre Umwelt aber vor allem an ihre Tochter, die ihr nichts recht machen kann.

Fazit: Eine wundervolle Geschichte voller interessanter Wendungen. Ich mag den Schreibstil und die Technik sehr. Die Autorin wechselt mit jedem Kapitel die Zeiten. Ein Kapitel spricht über Silvia und die Jetztzeit, das nächste über Evelyn und früher. Dadurch entsteht eine Struktur, der man gut folgen kann. Ich mag, wie der Konflikt zwischen Mutter und Tochter sich zuspitzt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zum Ende hin entsteht eine Nähe, so plötzlich und dringlich, die mich zu Tränen gerührt hat.

Bewertung vom 11.09.2023
Der Trost der Schönheit
Arnim, Gabriele von

Der Trost der Schönheit


ausgezeichnet

Gabriele von Arnim hat sich auf die Suche gemacht. In ihrem neuen Buch fragt sie nach dem Sinn. Wie schaffen wir es, dem unberechenbarer werdenden Weltenlauf zu begegnen, ohne in die Knie zu gehen? Wie begegnen wir den täglichen Schreckensszenarien, die sich ungefiltert ihren Weg bahnen, hinein in unsere Dünnhäutigkeit?

Sie schlägt vor Schönheit zu kultivieren. Uns mit Dingen zu umgeben, die eine besondere Bedeutung für uns haben. Eine Postkarte, die unser Herz erwärmt hat. Dieser knallige Schal, der in lila und orange um die Wette leuchtet. Ein kleines Blumenarrangement, das uns berührt. Der Himmel, der nur im Herbst in diesem azur leuchtet und diesen einzigartigen Kontrast zum müder werdenden Laub schafft. Uns mit kleinen Alltagsinseln aus Schönheit zu umgeben, die die Aussicht auf Vergänglichkeit und Zerfall ein wenig leichter machen.

Sie spricht von ihrer Kindheit, dem väterlichen Patriarch und der mütterlichen schönen Angepasstheit. Die beiden ersten Menschen in ihrem Leben, die ihr keine Nähe schenken konnten. Er, weil Indianer nun mal keinen Schmerz kennen, sie, weil sie selbst zu bedürftig war.

“Bloß nichts fühlen.”

…und die zu werden, die ich seit langem werden will: eine heitere Alte, die dem Kindheitsgebot des “Bloß nichts fühlen” ein gänzlich pathosfreies “Hach” entgegenschleudert und die Gelassenheit ins Jetzt einlädt. S. 39

Mein Leben war ein kleiner Raum, den andere möblierten. Mit ihren Gedanken und Vorstellungen. S. 68

Auf Seite 108 gibt mir die Autorin einen wundervollen Einblick in ihr Zuhause, mit allem was ihr wichtig ist. Die kleinen Dinge, die sie von ihren Reisen mitgebracht, oder geschenkt bekommen hat.

Schon auf Seite 26 erwischt Gabriele von Arnim mich, macht mein Mitgefühl mit ihr so groß, dass ich vorbehaltlos weine. Zehn Seiten später knurrt mir wohlig der Magen, weil sie, in eine perfekt in Knoblauch gebratene Garnele, mit wenigen Tropfen Zitrone sanft beträufelt beißt, und dabei glücklich ächzt. Auch gutes Essen ist für sie unbedingt ein Ausdruck von Schönheit.

Auf Seite 42 spüre ich Gänsehaut weil

das Kind ein giftspuckender Tintenfisch werden will, der die Hand der Mutter abwehrt. Weil jede Liebkosung der Mutter sich anfühlt, wie ein Angriff. Weil die Mutter nicht zärtlich liebt, sondern Zärtlichkeit begehrt, weil sie nicht geben kann, was sie selbst nie bekam. Weil sie verzweifelt braucht.

Und dann trifft sie mich auf Seite 127 wieder mitten ins Herz, als das Tochterfamilientreffen wegen Corona ausfällt, und Gabriele von alten Ängsten aufgerieben zurücklässt. Die Buchstaben verschwimmen, bis sich ein paar Tränchen lösen und ich kurz tief Luft hole.

Atmen. Einatmen, ausatmen. Atmen

Einige Seiten lang dachte ich an die japanische Art der Keramikreparatur, auf Seite 209 spricht auch sie davon. Gebrochenes Porzellan wird mit Gold gekittet. Daraus entstehen wundervolle, versehrte Einzelstücke, deren Schönheit und Einzigartigkeit eher hervorgehoben werden und ich sehe die Autorin vor mir.

Fazit: Ein wundervolles Buch für alle, die sich nach einem Sinn, in einer Welt fragen, in der so vieles sinnlos erscheint. Ein Buch, das Raum zum Spüren, Begreifen und Staunen lässt. Mich hat es sehr angesprochen, weil ich meine eigenen Parallelen gefunden habe, zu Gabriele von Arnims “So sein”.

Bewertung vom 05.09.2023
Kleine Probleme
Pollatschek, Nele

Kleine Probleme


ausgezeichnet

Wunderbar unterhaltsames Kopfkino, Chapeau.

Lars ist 49 Jahre alt und allein zuhause. Seine Frau Johanna, seine Kinder sind unterwegs um ihr Leben zu leben. Am 31.12. werden sie sich wiedersehen, so der Plan. Die verbleibende Woche will Lars nutzen um Ordnung zu schaffen. All das, was seit Tagen, nein Monaten, ach was Jahren liegengeblieben ist wird Lars Regeln, Ordnen, Gutmachen.

Mit ganz großer Vorfreude, der Aussicht auf ein neues Dasein, schwingt Lars sich in seinen Kopf empor, um in die Planung zu gehen, denn Listen sind wichtig. Dient das Abhaken der Tagespunkte doch der Motivation, sein Endziel zu erreichen. Und weil Lars weiß, dass seine Frau sich ihn auch disziplinierter wünscht und er sie gerade schmerzlich vermisst, kuschelt er sich noch einmal ganz kurz in ihre Schmusedecke auf dem Sofa zusammen. Als er erwacht ist die Woche rum und der 31.12. Nichts ist erledigt und Lars kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Jetzt wird er sich anstrengen, alles noch möglich. Er wird seine Frau und seine Kinder nicht schon wieder enttäuschen. Und dann schnallt Lars seinen Werkzeuggürtel um und begibt sich auf einen Roadtrip durch das Haus, um Linas Bett aufzubauen,

Vor mir lagen , in sauberen Grüppchen, glänzend und glimmend, wie frisch gebadet, zweiunddreißig Hoshis und vierundzwanzig Knülpe, vier Schlitzlinge und vier Plötze, gleich vierzig Pleumel, achtunddreißig Holzflonze und dreißig wagemutige Wüs, daneben fünfzig Wörle, zehn Plastikniezen mit großen weißen Hüten und viel zu zarten Rippen, drei lange Sporne und sechzehnmal, mit glänzenden Ringen und erhabenem Kreuz, Henriette Hannelore von Hoffmansthal, holde Henriette, ach Henriette, ach Johanna, wenn du mich jetzt sehen könntest. S. 36

zu Putzen, Steuer und Post abzuwickeln, Geschenke einzupacken, seinen Vater anzurufen, mit dem Rauchen aufzuhören, sein Lebenswerk zu schaffen, Nudelsalat zu machen und ein Feuerwerk zu zaubern. Dass ihm die einzige übriggebliebene Nietze im Laufe des Tages noch ganz arg beistehen wird, weiß er jetzt noch nicht.

Fazit: Nele Pollatschek hat einen hervorragenden Roman geschaffen. Ich habe so sehr gelacht, wie schon lange nicht mehr. Die Tragik ihres Protagonisten, der nichts auf die Reihe kriegt, sich aber verbiegt, um seinem Umfeld gerecht zu werden, ist urkomisch. Unglaublich, wie gut sie als Frau diesen Charakter hinbekommen hat, wie sehr sie sich in Lars hineinversetzt hat, so als hätte sie selbst einen Zuhause. Chapeau, das ist großes Kopfkino.

Bewertung vom 14.08.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Robert ist ein stiller fleißiger Mann, der sich mit kleineren Handreichungen über Wasser hält. Es geht ihm gut aber dann lauscht er dem Ruf der Erneuerung und nach einigen Tagen des Abwägens der Für und Wider, folgt er seinem Traum. Ende Februar an einem Frühfrühlingstag eröffnet Robert ein Café.

Und doch war es, als hätte der Fön den Menschen die Köpfe freigelegt und die glänzende Winterseligkeit aus den Gesichtern geblasen. S. 51

Es sind diese Sätze, die der ganzen Geschichte ihre Schönheit geben.

Robert Seethalers Beobachtungen sind komplex und genial beschrieben. Ich kaufe ihm die Geschichte von vorne bis hinten ab, so könnte sie sich Anfang der siebziger-Jahre in Wien ereignet haben.

Die Leute, die in Roberts Café ein- und ausgehen haben alle eine Geschichte, die erzählt werden muss. Und dann treten immer wieder, mit zuverlässiger Gewissheit die zwei älteren Damen in die Szene. Ähnlich, wie die zwei alten Männer auf dem Balkon in der Muppetshow, aber weniger höhnisch. Und sobald ich sie erkenne, freue ich mich auf ihr Gespräch.

Trinken wir noch was? Sebstverständlich. Gott sei Dank, ich hab schon Angst gehabt. S. 139

Ihr Mund war von feinen Fältchen umlagert, die in ein verwirrendes Durcheinander gerieten, sobald sie sprach. S. 158

Das ist einfach genial, die meisten hätten geschrieben. “Eine Frau in den Wechseljahren” Er zeigt es, lässt überflüssiges Weg und die LeserInnen selbst entscheiden, welche Bilder sie entstehen lassen.

Fazit: Eine vortrefflich gelungene Geschichte über das Leben, Entscheidungen, Aufbruch und Ende, die mich gefesselt hat. Ich könnte Robert Seethaler noch tagelang zuhören, ohne dass ich mich langweilen würde.

Bewertung vom 03.08.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Arno Geiger schreibt über sich selbst. In seiner Geschichte “Das glückliche Geheimnis”, erzählt er über sein Leben als Schriftsteller. Die Schwierigkeiten des Anfangs, jemanden von seinem Schreiben zu überzeugen, von dem, was er zu sagen hat.

Während seinem Studium setzt er sich frühmorgens aufs Fahrrad, um während der aufgehenden Sonne Wiens, Papiercontainer zu durchwühlen. Er sucht nach wortreichen Schätzen, Büchern und Hinterlassenschaften wie Tagebüchern, die ihm das Menschliche vertrauter machen. Seine Fundstücke verkauft er mit seiner Freundin auf Flohmärkten.

Von seinen morgendlichen Runden, die Jahre später zu einer liebgewonnenen Gewohnheit werden, kehrt er zerschunden und ausgelaugt, aber dennoch glücklich zurück.

In seinen jungen Lebensjahren versteht sich der Autor als Außenseiter, der etwas verbotenes macht, weil er im Müll der Gesellschaft herumwühlt. Später entwickelt er einen Stolz, weil er etwas macht, das sonst niemand wagt. Arno Geigers Suche nach Identität, schenkt ihm die Lebenserfahrung, mit der er Bücher füllt.

Die Demenz seines Vaters konfrontiert ihn mit der Vergänglichkeit. Zum Ende des Buches wird er philosophisch und resümiert über die Fragen, was Glück und Zufriedenheit ist.

Ich mag seine ganz eigene besondere Sprache, die im Trivialen das Besondere erkennt:

“Auf allen städtischen Friedhöfen gibt es Toiletten, ziemlich sauber sogar, weil die Menschen wissen, dass sie hier beinah zu Hause sind”.

“Das Unglück hat es leider an sich, dass es gebieterisch die Gegenwart protegiert und die Zukunft steht ungeachtet, klein und dumm am Rand.”

Ich meine, darauf muss man erst einmal kommen, Chapeau Herr Geiger!

Fazit: Wer in Arno Geigers poetisch, philosophische Welt eintauchen möchte, sollte sich diese Geschichte nicht entgehen lassen.

Bewertung vom 03.08.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

“Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere.” S. 19

Es sind diese Einsichten, die mich zutiefst befriedigen.

Mit schlafwandlerischer Sicherheit schreibt Judith Hermann, über ihre Unsicherheit, herausgefunden zu haben, wer sie ist. Sie nimmt uns mit auf eine Reise zu ihren Ursprüngen, findet heraus, was sie ausmacht. Sie spricht von ihrer Familie, den psychisch kranken Vater, der sie in ihrer Kindheit ängstigt, weil er einen perfiden Spaß daran hat. Wie sie seine Unberechenbarkeit erlebte und sich ständig um ihn sorgte. Ihre russischen Wurzeln beleuchtet sie, diesen Anteil, den ihre Großmutter an ihrer Entwicklung hatte.

Die Autorin schreibt ruhig, gefasst, zeigt, wie präzise sie ihr Gegenüber beobachten und beschreiben kann. Ich mag ihre einzigartige Schreibweise, wie sie einen Absatz mit einem Substantiv abschließt, das mich nachdenklich macht.

Sie geht sorgfältig mit sich um, wie sie an mehreren Stellen zeigt:

“Aufmachen heißt, das Etwas aus seinem Ungefähren holen, den Wolf ans Licht. Zu erklären, was genau das Etwas ist, hieße vermutlich, den Wolf abschießen. Darauf zu verzichten bringt den Wolf in Sicherheit. Lässt ihn am Leben.” S. 151

Stellenweise wird das was sie sagt zu einem abstrakten Gemälde, vor dem ich stehe, nicht so recht wissend, was die Künstlerin mir damit sagen mag, so diffus, dass mir nicht gelingt ihr konsequent zu folgen.

Fazit:

Dennoch eine stimmige Geschichte, die nachdenklich macht und sicher nicht die letzte, die ich von Judith Hermann lesen werde.

Bewertung vom 02.08.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

Familie Strobl-Marinek und die befreundete Familie Binder, nehmen die Schulfreundin ihrer Tochter, ein Flüchtlingskind aus Somalia mit in ihren Toskanaurlaub. Elisa Strobel-Marinek, Mutter und Grünen Abgeordnete, als zukünftige Ministerin gehandelt, verwendet viel Überredungskunst um Aayana, die Freundin ihrer Tochter Sophie Louise überhaupt mitnehmen zu dürfen.

Sophie Louise plant Aayana das Schwimmen beizubringen und ihr so zu einem nicen Stück Freiheit zu verhelfen. Dummerweise ertrinkt Aayana unbemerkt im Pool und löst eine Kette gesellschaftlicher Reaktionen aus.

Dieses Buch ist mein erster Glattauer und ich bin verliebt in seinen Wiener Schmäh. Mit großer Ironie spürt er gesellschaftliche Konventionen auf, die polarisieren. Die einen stehen auf der Seite der Grünen Politikerin, die alles richtig gemacht zu haben scheint, die anderen wollen sie hängen sehen. Die wenigsten lassen sich von der Flüchtlingsfamilie berühren.

Überraschend gelungen ist Glattauer die Darstellung von Sophie Louise. Da versetzt sich einer in die Jugend und weiß das zu zeigen, wie kein anderer. Kurz erinnerte ich mich daran, wie aufgedreht ich selbst als Jugendliche einmal war.

Ein wenig betrüblich fand ich, dass er während der Gerichtsverhandlung Aayanas Mutter befragen lässt, aber nicht die richtigen Worte findet, mich mit deren Schicksal, das furchtbarer nicht sein könnte, zu berühren.

Zitat: Alles in allem eine gelungene, lesenswerte Geschichte.