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MarieOn

Bewertungen

Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 30.10.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Anja hatte keine Zeit für Simone. Sie feierten gerade den Geburtstag ihres kleinen Jungen und den ihres Vaters. In dem Moment, als sie sich zum Essen setzten, rief Simone an. Letztes Jahr war sie noch mit einem Kuchen vorbeigekommen, diesmal hatte sie es wohl vergessen. Wenige Tage später schrieb Anja an einem Artikel, der sie beanspruchte, den sie zeitnah abgeben musste. Auch dieses Mal vertröstete sie Simone, auf eine Woche später.

Zehn Jahre nach Simones Freitod, möchte Anja Antworten auf die vielen Fragen, die sie sich gestellt hat, aber da ist es noch zu früh. Es vergehen weitere fünfzehn Jahre und dann spricht Anja mit fast allen Menschen, die Simone gekannt hatten, liest ihre Tagebücher und nimmt alles in den Fokus, was von Simones Gedanken und ihrem Wesen geblieben ist.

Simone war so ein interessanter Mensch, sprach viele Sprachen fließend, tanzte Salsa, entwickelte eine tiefe Liebe für Lateinamerika und eine Leidenschaft für südländische Männer. Sie jobbte, studierte und war frei. Sie war so ganz anders als Anja, die vernünftiger war, größtmögliche Sicherheit wünschte und eine traditionelle Familie, Ehemann und zwei Kinder. Simones Gefühle waren ein Auf und Ab, Anja ließ sich nicht so leicht bewegen.

Simones Eltern gestanden Fehler ein bei Anjas Recherche. Sie hätten sie damals nicht in dieses Heim geben sollen, als Simone acht Wochen alt war. Montags bis Freitags war sie dort und wenn die Eltern keine Zeit fanden auch länger. Simones Mutter Dana sagt im Nachinein: “Das war unser erstes Verbrechen!” Aber was hätten sie machen sollen, waren beide berufstätig. Die Mutter ist Ungarin und floh zu ihrem Mann in den Osten Deutschlands, wo sie das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit hatten.

Fazit: Für mich ist diese Geschichte eine der lesenswertesten dieses Jahres. Ich mag den knackigen, zügigen Schreibstil der Autorin, der Bindewörter meidet und damit das Tempo erhöht. Die Geschichte an sich, ist so tragisch, wie überzeugend. Ich lerne Simone als erstaunlich begabte junge Frau kennen und entdecke nach und nach alle ihre Schattenseiten und sich wiederholenden Verhaltensmuster. Auf den ersten Blick scheint Simone alles zu haben, was wir beneiden, weil es ein glückliches Leben verspricht. Anja Reich zeichnet das Bild einer zutiefst gestörten, einsamen Frau, die sich in diverse Abhängigkeiten begeben muss, um ihre Ängste zum Schweigen zu bringen. Ein wunderbares Psychogram, das ich bedingungslos weiterempfehle.

Bewertung vom 23.10.2023
Maman
Schenk, Sylvie

Maman


ausgezeichnet

Mamans Name war Renée Gagnieux. Soviel ist wahr. Sie war die Tochter von Cécile, die vielleicht eine Seidenspinnerin war und wurde in Lyon geboren. Die Autorin macht sich auf den Weg, in den Schuhen ihrer Mutter zu laufen, zu der sie keine intensive Bindung hatte.

Maman mochte alle ihre sechs Kinder, solange sie klein waren. Solange wir abhängig von ihr waren, zauberten wir ein Lächeln auf ihr Gesicht, dann fand sie Ruhe, sonst war ihr Leben Scham und Ausgrenzung. Sie ist eine stille Frau, die mit ernstem Gesicht, leise mit sich selbst spricht. Den Vater hasst sie womöglich.

Renées eigene Maman musste sich prostituieren, weil sie von ihrem Hungerlohn und ohne Mann, keine fünf Kinder ernähren konnte. Nach Renées Geburt verblutete sie.

Renée kam in ein Pflegeheim, gefolgt von einer Pflegefamilie, einem Bauernehepaar, das sich mit einem Pflegekind ein Zubrot verdienten. Als Renée dann sprach- und verwahrlost zu einer anderen Pflegefamilie kam, war ihr soviel Unglück widerfahren, dass sie schon ganz verkorkst war.

Das, was Maman dann später an ihre Mädchen weitergab war Verachtung und Selbstverachtung, eine obskure Angst vor Männern, vor der Liebe, vor der Schande.

Alle Männer sind Schweine, dem Mann haftet die Geilheit an. Die Männer bumsten und zahlten, die Frauen entbanden und starben. S.126

Erst in Hochzeitsnacht erinnert sich Renée an den Bauern, der sie damals Bastard nannte und sich anschließend an ihr verging. Ein Umstand, der ihr nachträglich die eigene Sexualität vermieste und sie einzig den ehelichen Pflichten nachkommen ließ.

Fazit: Ich mochte diese Ich-Erzählung sehr, die ganz klar den Anspruch erhebt, aufzuzeigen, wie schwer Frauen das Leben gemacht wurde. Entweder sie waren schmückendes Beiwerk, wertlose Anhängsel, oder Huren. Die Geschichte der Autorin macht gut verständlich, wie Mütter ihre Traumen an die nächsten Generationen weitergegeben haben und macht fassbar, welche Schwierigkeiten das weibliche Geschlecht bis in meine Generation mit ihrem Selbst-Wert hat. Ein wirklich wichtiges Buch, mit einer großartigen Klangfarbe. Ungeschönt, ehrlich und auch berechtigterweise wütend. Es ist völlig zurecht auf der Shortlist des deutschen Buchpreises zu finden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.10.2023
Rezitativ
Morrison, Toni

Rezitativ


ausgezeichnet

Twylas Mutter Mary tanzt die ganze Nacht, Robertas Mutter ist krank. Das ist der Grund warum sich die beiden Mädchen in einem Heim begegnen. Obwohl sie äußerlich unterschiedlich scheinen, eint sie die Erfahrung vernachlässigt, nicht gesehen oder gehört zu werden. Dank einem tiefen Verständnis füreinander freunden sich die beiden an. Die großen Mädchen, Gar-Girls machen den beiden Angst, sie quälen die Jüngeren, stellen Beine, rufen Ausdrücke hinterher. Das Küchenmädchen Maggie wurde auch schon von ihnen zu Fall gebracht und sie kann nicht einmal Schreien. Maggie wird für Twyla die Stellvertreterin ihrer tanzenden Mutter, taub und stumm. Kein Mensch dadrinnen, der hörte, wenn man nachts weinte.

Diese außergewöhnliche Kurzerzählung, die einzige, die Toni Morrison schrieb, hat es in sich. Nicht nur des Themas wegen, sondern weil die Autorin die Geschichte einer weißen und einer schwarzen Frau erzählt, jedoch an keiner Stelle preisgibt, wer welche Hautfarbe hat. Sie überlässt die Auseinandersetzung den Leser:innen. Rezitativ war als literarisches Experiment gedacht. Und bei mir hat es wunderbar funktioniert. Während des Lesens habe ich ständig versucht, anhand irgendwelcher Attribute einzuschätzen, wer die “Weiße” ist und welche die “Schwarze”.

Ist Twyla die Schwarze, weil sie die Hauptprotagonistin einer schwarzen Ich-Erzählerin ist? S. 51

Das sie sich nie die Haare waschen und komisch riechen. Wie Roberta, also sie roch wirklich komisch. S. 53

Die Geschichte endet auf Seite 43 und dann beginnt das Nachwort, ein Essay von Zadie Smith. (Britische Schriftstellerin) Sie analysiert die Geschichte und findet ganz großartige Worte, die nicht belehren wollen, sondern mit großer Toleranz für beide Seiten einer Schwarz-Weiß-Konstruktion, Lösungen sucht.

Geschichte wird nie vollständig wiedergegeben, viele wollen vergessen, dass die Geschichte des afrikanischen Kontinents, eben auch eine Geschichte über die lange, blutige, verworrene Begegnung mit der europäischen Bevölkerung ist.

Wenn in der Präsentation eines alten englischen Herrenhauses nicht nur berichtet wird, woher die schönen Gemälde stammen, sondern auch woher das Geld kam, mit dem sie erworben wurden – wer wie und warum leiden musste und ums Leben kam, um dieses Geld zu beschaffen, dann wird Geschichte vollständig erzählt.

Wir leben seit vielen hundert Jahren in bewusst rassifizierten, menschengemachten Strukturen – mit anderen Worten, in gesellschaftlich verankerten und mitunter gesetzlich verpflichtenden Fiktionen, die sich als unfähig erweisen, Unterschiede und Gleichberechtigung nebeneinander anzuerkennen.

Wie können wir das schmutzige Badewasser “Rassismus” jetzt plötzlich ausschütten, wo wir das Kind race jahrhundertelang so fest ans Herz gedrückt und – selbst wenn wir das ganze Grauen mitrechnen – auch so viel schönes aus ihm erschaffen haben?

Fazit: Ein wohltuendes Buch, das mich meinen eigenen Hang zu Vorurteilen erkennen lässt, ohne mich dafür zu verurteilen. Ein Buch, das an europäischen Schulen Einzug halten sollte und Schüler darüber nachdenken lassen könnte, warum wir uns in diesem System zwangsläufig an anderen bereichern, denen es schlechter geht, je besser es uns geht.

Bewertung vom 19.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


gut

Tonje arbeitet als Übersetzerin und lebt mit ihrer 17-jährigen Tochter und ihrem zweiten Mann in einer Wohnung in Norwegen. Ihr Mann geht für einige Monate auf Dienstreise. Tonje klagt über massiven Haarausfall und versucht zu eruieren, wie es dazu kommen konnte. Sie lässt ihr Leben, mit all ihren gemachten Erfahrungen revue passieren und erinnert sich an die ersten Jahre, als junge Studentin in London.

Dort lernte sie die Engländerin Jenny kennen, die das Gegenteil von ihr war. Kess, sexy, launisch. Sie freundeten sich an und verbrachten einige Wochenenden bei Jennys Vater Alexander. Der war Psychologe und arbeitete in eigener Praxis, in einem Anbau seines Hauses. Alexander war einfühlsam, aber auch robust. Seine Lebenserfahrung und Selbstsicherheit übte auf die scheue, introvertierte Tonje eine große Anziehung aus. Er sah die junge Frau, die zu dünn war und sich auch schon einmal Schnitte mit der Rasierklinge zufügte, mit großem Interesse. Und gab ihr damit genau das, was sie sich wünschte.

Schließlich verführt Alexander Tonje. Sie treffen sich regelmäßig in seiner Praxis. Er breitet ein weißes Laken auf seiner Ledercouch aus und sie haben Sex. Es ist nicht so, als würde Tonje das gefallen, aber sie kommt aus dieser Situation nicht hinaus. Steht immer zur Verfügung, wenn er sie will, obwohl er keinen Hehl daraus macht, dass er sie benutzt.

Frauen, die unter 50 Kilo wiegen, können nie eine echte sexuelle Befriedigung erleben, sagte er einmal. Ich wog 46 Kilo. S. 179

Fazit: Die Geschichte ist in einem angenehm lockeren Erzählstil geschrieben und beginnt mit einer Ich-Erzählerin. Mittendrin wechselt die Autorin in die dritte Person und ändert die Namen der ProtagonistInnen. Wahrscheinlich, damit die Hauptprotagonistin, die die Geschichte erzählt, genug Abstand bekommt, um das Schwierige? Unaussprechliche? besser wiedergeben zu können. Dabei entstehen dann abgehackte Kleinstkapitel, die auf ihre Kindheit zurückblicken. Diese “Unordnung” und spontane Sprunghaftigkeit hat mich aus der Geschichte gerissen, so dass ich der Intention, der Autorin nicht mehr folgen konnte. Ganz am Ende erfahre ich, woran der Haarausfall tatsächlich liegt und fühle mich veralbert. Der Klappentext klang hochinteressant, genau mein Thema und ich finde die Idee eines Psychograms richtig gut, aber die Umsetzung hat mir nicht gefallen.

Bewertung vom 16.10.2023
Drifter
Sterblich, Ulrike

Drifter


ausgezeichnet

Wenzel Zahn arbeitet bei einem TV-Sender und moderiert dessen social Media Kanal. Seit Gesine sich von ihm getrennt hat, weil sie einen erfolgreichen Skiabfahrtsläufer bevorzugt, fühlt sein Herz sich wund an. Sein bester Freund Killer (Herr Killmann) steht so dicht an der Beförderung in der PR-Firma, dass er es mit Wenz Krachen lassen will. Sie fahren zur Pferderennbahn, setzen ein paar Kröten, quatschen ein paar Mietzen an und zischen Quasselwasser.

Als eine riesige dunkelbunte Wolkenformation über sie hinwegfegt, staunen sie noch ehrfürchtig. Das Rennen wird abgeblasen, die Zuschauer verlassen die Ränge, Killer und Wenzel bleiben allein. Trotz Regen hüpft Killer übermütig auf die Bahn und galoppiert ein Stück, gerade so lange, bis er von einem Blitz getroffen wird, durch die Luft schleudert und hart aufschlägt. Wenz begleitet ihn ins Krankenhaus, wo er kurz zur Beobachtung bleibt, um dann mit kleineren Blessuren und leichten Herzrhythmusstörungen entlassen wird.

Was hat die große Frau in der S-Bahn, mit dem goldenen Kleid, dem Silberblick und dem riesigen zotteligen Hund, die zu allem Überfluss, das neuste Buch von Wenz Lieblingsautor “Drifter” liest, mit all dem zu tun?

Seit der Blitzattacke hört sein Freund seltsame Geräusche. “Ein Tinnitus?”

Nein dieses rhythmische Pusten, dieses Gurgeln, als ob drei bis vier Leute a cappella was mit kleinen Pustegeräuschen machen und zwischendrin schnalzen. S. 52

Und abgesehen davon, dass Killer jetzt zunehmend den Duft von Orangen wahrnimmt, sind das nicht die einzigen Merkwürdigkeiten. Er macht Dinge, die er zu Zeiten des alten Killers niemals getan hätte, zerstört mutwillig sein Handy, zeigt sich überfordert, wenn die Nachrichten von Krieg sprechen, zieht wieder zu seiner Mutter und gibt seinen J-O-B auf.

So, dachte ich, jetzt ist es amtlich. Bei Killer hatte sich was verschoben. Es ist nicht so, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert. S. 74

Die große Frau aus der S-Bahn breitet sich in Wenz Leben aus. Wenz erfährt alles und doch nichts über sie, die stets begleitet wird von Hurtebise, ihrem Chauffeur, der schrillen Jez und dem riesigen Hund, der tanzen kann.

Fazit: Die Geschichte ist voller geistreicher witziger Passagen. Ich erfahre auf eine unaufdringliche Art, dass es im Leben wichtigeres gibt, als Perfektion, dass Geld allein auch nicht glücklich macht und dass wir den Menschen, die uns wichtig sind, mit Toleranz begegnen sollten, gerade wenn sie neue Wege gehen. Der Roman ist Fun Fiction, eine bunte Mischung, voller unerwarteter Wendungen. Leider ist es nicht mein Genre, weil es so realitätsfremd ist. Das ist aber einfach eine Frage des Geschmacks, deshalb will ich es nicht in meine Bewertung einfließen lassen. Wegen der Idee, der Technik und des Wortwitzes gebe ich die volle Punktzahl. Drifter steht zurecht auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2023.

Bewertung vom 06.10.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

Erzsébet, von allen Billie genannt ist ein junges Mädchen, das ganz selbständig ihren Alltag meistert. Billies Mama arbeitet tagsüber in einem Büro und am Abend in einer Bar. Im Sommer teilen sie sich den Laubengang des Hochhauses, in dem sie wohnen mit ihren Nachbarn. Dann verlassen sie ihre Zwei-Zimmer-Wohnung und leben die Tage draußen, sonnen sich, lesen, schlürfen Cola und Marshmallows. Billies Ma´ liebt Lippenstift und ihre weißen Cowboystiefel, die hat ihr Billies Vater geschenkt, damals. Billie kennt ihn nicht, weil sich ihre Ma´ über ihn ausschweigt.

Manchmal ist der Aufzug defekt und ihre übergewichtige Nachbarin Uta kommt in den 17. Stock geschnauft, vollgepackt mit Einkäufen. Billie ist kein Fan von Utas Mann Heinz, weil sie weiß, dass Utas Veilchen von ihm ist. Luna wohnt auf der anderen Seite. Sie ist schön, übt nächtelang Rollen ein, die ihr angeboten werden. Dann sieht Billie sie tagelang nicht und nicht selten begegnet Billie Luna Tage später, die sie mit wirrem Blick ansieht und dann pausenlos redet. Billie und ihre Ma´ wissen jetzt, dass Luna dann ihre Tabletten braucht. Ahmed läuft Luna jeden Tag über den Weg, entweder trägt er seine Trainingstasche oder seinen kleinen Gebetsteppich.

Als Billies Großmutter aus Ungarn kommt, muss sie aus ihrem Zimmer weichen. Billie kann die Frau, die ihr so gut wie unbekannt ist, nicht leiden. Sie ist ernst, spricht nur ungarisch, hängt überall Kreuze und Jesusstatuen auf und benimmt sich, als gehöre ihr die Wohnung aber kochen kann sie wirklich gut.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf nachdem Billie ihre Oma dabei erwischt hat, dass sie ihre Tabletten in die Toilette geschüttet hat und die Gunst der Stunde nutzt, die Oma während einem Streit mit Ma´ zu verpetzen. Die Situation eskaliert, die Mutter stürzt, stirbt an subduralen Blutungen, die trotz Notoperation nicht zu stoppen sind und lässt Billie mit allem allein.

Fazit: Was für eine wundervolle Geschichte. Die Autorin schafft es Stimmungen zu erzeugen. Sie hat mich von Anfang an bis zur letzten Seite bewegt und in Schwingung versetzt. Zum Lachen gebracht, weil Billies Mutter so wunderbar ironisch ist und zum Weinen, weil Situationen so gut gezeigt werden. Ich war mittendrin, mein Herz ist gebrochen, als Billies entzwei gerissen wurde. Habe ihr Mut zugesprochen, wenn sie sich allein durchgeschlagen hat. Ganz große Erzählkunst Elena Fischer, Chapeau!

Bewertung vom 25.09.2023
Vatermal
Öziri, Necati

Vatermal


ausgezeichnet

Ardacim Kaya hat gerade die Intensivstation verlassen, was nicht zwingend etwas gutes bedeutet. Jetzt liegt er zusammen mit seiner Immunhepatitis in einem Zimmer und hofft auf ein Wunder.

Meine Leber hat beschlossen, nicht mehr mitzumachen. Das ist keine Metapher in einem Bildungsroman für Kanaken oder so. S. 16

Es sei denn irgendeine der Therapien schafft es mein Immunsystem zu überzeugen, dass ich doch ich bin. S. 19

Während Arda in seinem Krankenhausbett liegt hat er Zeit über seinen Vater Metin nachzudenken. Metin, der irgendwann abgehauen ist, zurück in die Türkei und darüber vergessen hat, dass er zwei Kinder hat. Seitdem sein Vater weg ist, hat sich seine Mutter Ümran verändert, so verändert, dass seine Schwester Aylin mit ihr gebrochen hat.

Nun sitzen sie abwechselnd an seinem Bett und erzählen ihm davon, was sie ausmacht. Ümrans Mutter, Ardas und Aylins Anneanne, hat damals in der Türkei ihren Vater geheiratet. Er fuhr für die Firma LKW als das Erdbeben kam und den ganzen Ort zerstörte. Danach gingen die Eltern nach Deutschland, um zu arbeiten, es sollten nur drei Jahre sein. Drei Jahre, die Ümran mit ihren zwei Geschwistern bei Esma Hala bleiben musste, die ihr das Leben zur Hölle machte. Als sie dann mit ihren Geschwistern in den Flieger nach Deutschland gesetzt wurde, war sie zuerst froh. Dann jedoch sah sie ihren totkranken Vater dahinsiechen. Sie heiratete einen Landsmann, der ihr Erspartes verspielte, Metin, Ardas Vater.

Als Aylin kommt erzählt sie ihrem Bruder, wie ihre Mutter immer öfter betrunken nach Hause kam und einmal lachend ins Treppenhaus gepinkelt hat, nachdem sie vor die Wohnungstür gehämmert und ihr niemand geöffnet hatte. Aylin hat dann die Lache im dunklen Flur aufgewischt, damit niemand etwas mitbekam. Ihre Anneanne wollte die Kinder mitnehmen, wegen der Tütensuppen und dem wechselnden Männerbesuch, aber Ümran schreit sie nur an.

Aylin wünscht sich, dass ihre Mutter sie nur einmal sieht. Nicht als die bessere oder schlechtere Version Ümrans, sondern als die Tochter, die sie ist. Und dass Ümran sich bei ihr entschuldigt.

Manchmal hatte Ümran Besuch von ihren Freundinnen als Arda noch ein kleiner Junge war.

Die Frauen pressen ihre fest geschminkten Backen auf mein Auge, drücken ihre nassen Lippen auf jede freie Stelle und ich schmecke Lippenstift und rieche Haarspray, bis die erste- ich kann nicht sagen wer- mich packt und zu sich zieht, und ich, um Luft ringend, inmitten einer Schar parfümierter Brüste verloren gehe. S. 101

Dann kochen sie stundenlang und essen nichts davon. Stattdessen sitzen sie auf dem Balkon rauchen und trinken Rake.

Fazit: Der Anfang hat mich an Dschinns von Fatma Aydemir erinnert. Vor allem die Szene als Arda mit seinem abwesenden Vater spricht, aber dann wurde das Buch erkennbar sein eigenes. Die ganze Geschichte ist unfassbar gut geschrieben. Necati beherrscht sein Handwerk mit Bravour. In mir hat er ein emotionales Feuerwerk ausgelöst. Die Szenen, die er mit Ardas Freunden beschreibt, als Susanna über den Platz wackelt und Dannys Herz rasen lässt waren so lustig. Er hat mich dabei zusehen lassen und ich habe mich fast totgelacht. Dann kamen zwei Szenen, die mich erschüttert und entsetzt haben. Die Idee, die Geschichte einer zwangsläufigen Einwanderung mit den Erfahrungen der Großeltern zu verknüpfen ist großartig und wichtig. Zu sehen, dass Menschen hierherkommen, die Berufe, die sie einmal gelernt haben per Urkunde an die Wand hängen, weil sie keine Anerkennung finden und stattdessen Arbeit verrichten, die wir nicht machen wollen. Menschen, die nicht zu uns kommen, weil sie das Wetter und unsere emotionale Kälte so schätzen, sondern weil sie in ihrem eigenen Land chancenlos sind. Menschen, deren Seelen verletzt sind, weil sie schwer fassbare Erfahrungen gemacht haben. Es ist das Buch, das mich in diesem Jahr am meisten bewegt hat und es ist völlig verständlich, dass diese Geschichte es auf die Shortlist des deutschen Buchpreises geschafft hat. Ich drücke Necati Öziri die Daumen für seine herrliche Arbeit.

Bewertung vom 21.09.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Alex ist, so sagt sie, 22 Jahre alt. Simon ist doppelt so alt, ihr Geliebter, Mentor und erfolgreicher Geschäftsmann. Es geht ihr bei ihm nicht schlecht. Besser als in der Stadt, in der sie in einer Wohngemeinschaft wohnte. Als sie abhaute, hinterließ sie ein paar Monate Mietschulden. Aber damit werden die schon klar kommen. Der Typ, den sie um einige Tausender und ein bisschen weißes Pulver geprellt hat, verblasst langsam in ihrer Erinnerung, dumm nur, dass er sie immer wieder anruft.

Wenn Simon von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommt, nimmt Alex ihn kurz oral, um ihn bei Laune zu halten. Das Leben könnte perfekter nicht für sie laufen, sie trägt die schönsten Kleider, isst die erlesensten Speisen, trinkt die teuersten Weine, schwimmt den halben Tag im Meer. und erholt sich am Strand, von den öden Partys, mit den langweiligsten Gastgebern und den spießigsten faltigen Frauen.

Obwohl Alex erst 22 ist, hat sie ein gutes Gespür für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen. Sie sieht es in den kleinsten Zuckungen um Mundwinkel oder Augen. Wenn sie etwas erreichen will, erfüllt sie dieses Wollen, das manchmal auch Gier ist, ganz easy. Sie konsumiert Schmerzmittel wie andere Gummibärchen, das mindert ihren Stress und ihre Rückenschmerzen, ja, sie neigt zu innerer Unruhe, das liegt aber auch daran, dass dieser Typ aus der Stadt mit dem Geld, ihr auf die Nerven geht.

Als sie dann ein kleines Schlückchen Wein zu viel hat, die Gastgeberin, die sie so herablassend behandelt, als sei sie nur Simons Anhängsel, entgleitet sie sich selbst, verlässt kurz den Pfad der Tugend und verliert die Kontrolle. Sie bringt Simon gegen sich auf, der unverständlich gereizt reagiert, sie vor die Tür setzt und damit vertröstet, dass er sich meldet.

Fazit: Was für eine abgefahrene Geschichte. Sie liest sich aufregend wie ein Thriller. Während ich las, kämpfte ich mit meinem Widerwillen gegen die Protagonistin, die es sich auf den ersten Blick so leicht macht. Im weiteren Verlauf findet sie mein Mitgefühl, weil sie nichts anderes versucht, als jedem gerecht zu werden und alle Erwartungen, die an sie gestellt werden zu erfüllen. Nicht ohne Eigennutz natürlich, das ist ihr Spiel. Sie gerät in widerwärtige Situationen, deren Erinnerung sie aus ihrem benebelten Hirn drängt, redet sich ein, dass sie erwünscht ist, obwohl sie offensichtlich keiner wirklich will, nicht um ihrer selbst Willen, wie auch, niemand, einschließlich ihr, weiß wer sie wirklich ist. Sie hat außer ihrer Jugend wenig substantielles zu bieten. Ein großer Roman, über eine zutiefst kranke junge Frau, den ich mit Spannung und Vergnügen gelesen habe.

Bewertung vom 20.09.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


ausgezeichnet

Liv, Mutter zweier Kinder ist fixiert auf ihr Äußeres, auch auf das anderer Frauen. Ihre Obsession begann mit Julia Roberts, in dem Film Pretty Woman. Liv verlässt das Haus nie ungeschminkt, lässt sich die Stirn regelmäßig glätten und besucht regelmäßig ihr Fitnessstudio.

Als das Eklige, das sie von sich fernzuhalten versucht, geschah, war sie Anfang zwanzig. Sie lernte ihn, der “Es” mit ihr gemacht hatte, in einer Bibliothek kennen. Sie tranken Wein, dann mehr Wein und zum Schluss ging sie mit ihm zu ihm, obwohl sie müde war. Hinter ihm ging sie die Stufen hoch, folgte ihm, spürte keinerlei Unsicherheit. In seinem Flur begegneten ihr viele Schuhe und Mäntel, das weckte ihr Vertrauen. “Es” passierte dann nach einer kleine Rangelei, da lag er auf ihr und sie schaute aus dem Fenster und sah den Tauben zu, die sich auf dem äußeren Fensterbrett sortierten. Sie hatte so ein Gefühl, jetzt besser nichts mehr zu tun. Dachte an ihre Kleidung, die zu dünne Strumpfhose, der kurze Rock, ihre Schuhe im Flur, die sich in die anderen eingereiht hatten. Wartete, dass er auf ihr einschlief, eine Ewigkeit.

Liv arbeitet als Pflegerin, sie bekommt eine neue Patientin. Der Besucher der Patientin ist Schauspieler. Liv erinnert sich an die Verhandlung, seine. Er war der Vergewaltigung bezichtigt worden. Sie erträgt seinen Anblick eine Weile, doch dann beschäftigt er sie zunehmend. Wenn er kommt verschwindet Liv im Keller und dreht am Rad. Da unten läuft sie auf und ab, lässt ihre Gedanken Kreise ziehen, bis sie sich mit Benzodiazepinen zudröhnt und die Räume in ihrem Kopf, die sie nie betreten wollte, sich wieder schließen.

Fazit: Ein großer Roman, mit feinem Ausdruck. Die emotionalen und mentalen Nuancen fließen ineinander. Die Protagonistin schwankt zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung, nicht zu zerbrechen, kein Opfer zu sein, ihren Ängsten, die in der Dunkelheit größer werden und ihren Selbstzweifeln, ob sie sich mitschuldig gemacht hat, weil sie zu vertrauensvoll war. Jeder Tag ihres Lebens kreist um diesen Vorfall, der nie passiert wäre, wäre diese Welt ein besserer Ort. Tatsächlich stößt einer von zehn Frauen “Es” zu. Dieser gelungene Roman macht sehr deutlich, dass ein Trauma, das unbehandelt, unverarbeitet bleibt, weiterschwelt, irgendwann getriggert wird, in alle Richtungen wächst und das Leben in einem Maße erschwert, das kaum auszuhalten ist.

Bewertung vom 19.09.2023
Lügen über meine Mutter
Dröscher, Daniela

Lügen über meine Mutter


ausgezeichnet

Die Geschichte ist eine Ich-Erzählung. Daniela Dröscher erzählt sie aus Sicht der achtjährigen Ela.

Elas Mutter kommt ursprünglich aus Polen. Sie ist ein resoluter mütterlicher Typ mit Geheimnissen. Ihre Eltern, die 20 km weit wegwohnen unterstützen sie nicht und ihre Schwiegermutter, mit der sie im gleichen Haus im Saar-Hunsrück lebt, konkurriert mit ihr. Ihr Mann hat eine patente Stelle als Ingenieur und wartet vergeblich auf eine bessere Positionierung, die seinen grandiosen, wie verkannten Fähigkeiten besser gerecht würde. Elas Mutter arbeitet nebenbei in einer Lederfabrik und ihr Mann schämt sich dafür.

Solange Ela zurückdenken kann nörgelt ihr Vater an ihrer Mutter rum. Sie ist zu dick, kann nicht mit Geld umgehen, hat keine kreativen Fähigkeiten, um ihr Haus gemütlich herzurichten, die Wahl ihrer Kleider gestaltet sie nachlässig und vor ALLEM schämt er sich für ihr beginnendes Übergewicht. Die ganze Zahl ihrer Unzulänglichkeiten vermiest ihm das Leben, das ihm daher jedes Glück vorenthält

Ela beobachtet die Spiele ihrer Eltern, in denen der Vater versucht die Kontrolle an sich zu reißen und die Mutter, ihrem Bedürfnis es allen recht zu machen, nachkommt. Ela lebt in der Angst, dass ihre Eltern sich trennen könnten. Gleichzeitig schleicht sich etwas an, wie eine Krankheit. Der Blick auf ihre sonst so schöne Mutter verändert sich, sieht, wie sich ihr Bauch unter den Kleidern abzeichnet, spürt, wie ihre Mitmenschen ihre Mutter ansehen und wie unsicher diese selbst zu ihrem Körper steht.

Wohlgestalt bedeutet für ihn Harmonie, Harmonie wiederum Ordnung, Ordnung bedeutet Orientierung, und Orientierung bedeutet Sicherheit. S 66

Eine gute Analyse über die Bedürfnisse ihres Vaters.

In ihrer Fähigkeit zur Sorge bestand und besteht ihr größter gesellschaftlicher Nutzen. S. 286

Damit beschreibt sie ihre Mutter und die Erwartungen an sie vortrefflich.

Fazit: Die Autorin zeichnet ein klares Bild von Geschlechterrollen. Die weiche, empfangende, hingebungsvolle Frau, die jedem gerecht wird, das Haus hütet und jeden umsorgt. Der kampferprobte Mann, der den Säbelzahntiger erlegt, Verantwortung übernimmt und dafür geschätzt werden will. Der Patriarch stellt alles in Frage und verteilt die Aufgaben, die seiner Bedürfnisbefriedigung dienen, streng. Es ist der Autorin großartig gelungen die Schwächen beider Eltern zu zeigen. Die Unsicherheiten ihres Vaters, sein Drang allen gefallen zu wollen. Die Lügen ihrer Mutter, weil sie heimlich Süßigkeiten ist, um ihr Unglücklichsein zu kompensieren. Und mittendrin die kleine Ela, die nicht weiß, wie sie ihre Liebe gerecht verteilen kann. Am Ende eines Kapitels reflektiert die Autorin, versucht zu rekonstruieren und zu verstehen, was hilft die Defizite beider Eltern zu erkennen. Ein absolut lesenswertes Buch, das zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand.